Donnerstag, 28. Februar 2008

Mehrheiten und Verhältnisse

Die neuen Mehrheiten in Deutschland generell und die erneuten hessischen Verhältnisse wurden bereits an dieser Stelle kommentiert. Mit Interesse habe ich nun die Kommentare von Politikern, Journalisten und Politologenkollegen verfolgt.
Eines steht ganz außer Frage, schon oft mußten Parteien nach Wahlen „wortbrüchig” werden, weil es die Umstände in irgendeiner Form verlangt haben. Diesen Umstand sollte der Beobachter weniger als Verrat oder Lüge werten, denn es ist leider so, daß viele Wähler im Wahlkampf Dinge hören wollen, die irreal sind oder sich als unmöglich ganz einfach am Wahlabend herausstellen. Insofern ist der Wähler an seiner eventuellen Enttäuschungen zu einem guten Teil selbst Schuld. Dies bezieht sich zwar vorwiegend auf politische Inhalte, aber mitunter auch auf Koalitionsaussagen, denn es geht andererseits natürlich auch um politische Verantwortung und das Wohl des Staates.
Würden sich etwa nach der Wahl in Hessen im Januar alle Parteien exakt an ihr Wort vor dem Urnengang halten, dann wäre die Bildung einer Regierung unmöglich, denn jede Kombinationen einer Mehrheit wurde wenigstens von einer Partei im Vorfeld ausgeschlossen. Es kann aber nicht sein, daß in einer Demokratie die Politik die Wahlergebnisse nicht mehr akzeptiert. Die Kabarettistin Lore Lorentz hat in einem Programm in den 80er Jahren mal gewitzelt, daß sich die Politiker dann eben ein neues Volk wählen.
Aber selbstverständlich muß man die Folgen für die Parteien im Falle des „Wortbruches“, der ihr gegebenenfalls vorwiegend von anderen politischen Kräften vorgeworfen würde, wie aber auch im Falle der Treue zu den eigenen Versprechen diskutieren. Im Falle der FDP, die seit der „geistig-moralischen Wende“ sowieso schon vom politischen Gegner gerne als „Umfallerpartei“ gegeißelt wird, und der Grünen ist eine Beteiligung an einer Dreierkoalition sehr schwierig im Einklang mit der eigenen Politik zu bringen. Grün würde in einer Jamaika-Koalition so wenig zu melden haben wie gelb in einer Ampel. Im Gegenteil zu Hamburg kommen in Hessen die persönlichen Animositäten der schwarzen und grünen Spitzenpersonen hinzu.
Die FDP muß sich die Frage stellen, ob ihre Konzentration auf die CDU in einem sich auf fünf Parteien erweiternden Parteinsystem nicht auf Dauer von der Macht ausschließt. Schwarz-gelb bekommt nur noch selten eine eigene Mehrheit und andere Kooperationen lehnt sie ab. Das ist auch gegenüber den eigenen Wählern ein Problem: wer stimmt schon für die ewige Opposition (abgesehen von einigen Fundamentalisten).
Angesichts der sozialen Umstände im Deutschland der Gegenwart ist eine fortgesetzte Minderheit der bürgerlichen Parteien aber sehr absehbar. Darum eröffnet sich andererseits auch für die CDU sowie für die Grünen eine neue Perspektive im politischen Spektrum, wenn sie sich auch in gemeinsamen Bündnissen befinden könnten, die Konzentration auf einen Partner, der wie in Hamburg nun erst gar nicht den Sprung ins Parlament schafft, würde damit für die CDU aufgehoben. Den Grünen wiederum bliebe die Konzentration auf die Duldung durch die Linke erspart, die sehr wahrscheinlich auch im Saarland und in Nordrhein-Westfalen in die Landtage einziehen wird.
Bleibt im Westen einstweilen offen, ob die derzeitigen Erfolge der Linken nur die Folge eines zeitweiligen Protestwahlverhalten ist, oder aber die Linke tatsächlich im Westen angekommen ist. Konflikte wie mit der Kommunistin in Niedersachsen hingegen wird die Partei vermutlich in Zukunft zu verhindern wissen. Im Osten ist die Linke aber zweifelsohne geradezu eine Volkspartei, weshalb unabhängig von der Entwicklung in einzelnen Ländern die politische Landschaft sich auf Bundesebene eher nicht ändern wird.
Dabei nimmt die Linke zunächst vor allem der SPD Wähler weg, die sich wider in einer vergleichbaren Situation wie vor der Vereinigung befindet, als im stärker katholisch geprägten Westen fast kaum je eine Chance hatte, bundesweit stärkste Kraft zu werden, ausgenommen für-Willy- oder anti-Kohl-Wahlen. Die SPD tut sich darum schwer damit, wie mit der Linken umzugehen ist. Da stehen die Bedenken wegen der Möglichkeiten von linken Mehrheiten einerseits gegen den weiteren Verlust von Wählern – zurecht, denn es gibt auch innerhalb der SPD beide Fraktionen, jene Traditionalisten, die mit der Linken nichts zu tun haben wollen und jene, die einem solchen Modell wohlwollend gegenüberstehen, weil sie selbst trotz Lafontaine keine Berührungsängste haben.
Die CDU hingegen steht, öffnet sie sich nicht, vor dem Problem, dauerhaft zwar stärkste Kraft zu sein, ihre Politik aber mit keinem Partner realisieren zu können. Dies droht ihr aber auch wegen der Politik ihres einzigen potentiellen Partners, dem es an Bereitschaft fehlt, gesellschaftliche Realitäten zu akzeptieren. Als der damalige Generalsekretär Werner Hoyer im Bundestagswahlkampf von der „Partei der Besserverdienenden” sprach, wurde anschließend behauptet, diese Äußerung sei falsch verstanden worden: „Wir sind die Partei der Besserverdiener, weil wir wollen, daß alle besser verdienen“. Aber erst jüngst sprach der heutige Generalsekretär Dirk Niebel im Deutschlandfunk von der Partei, die sich für jene einsetzt, die morgens ihre Kinder zu Schule bringen und anschließend zur Arbeit gehen. Das Motto bleibt eben, „Leistung muß sich wieder lohnen“, doch bleibt die Frage unbeantwortet, warum so viele Menschen von der Möglichkeit zu leisten ausgeschlossen sind oder auch für ihre Leistung nicht entsprechend entlohnt werden.
Die Schwierigkeiten, die eine jede Partei mit einer jeden der Kombinationen hat, beruhen vor allem auf der Angst vor der Reaktion der Wähler und damit der Sorge über die Auswirkungen bei der bevorstehenden Bundestagswahl 2009. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse muß die Politik nun aber trotzdem Antworten jenseits der bisher gewohnten Koalitionsarithmethik finden:
Eine Antwort sind Minderheitsregierungen, wie sie in anderen Ländern durchaus üblich sind. Insbesondere in Hessen, wo ein Zusammengehen mit der Linken für die SPD so problematisch ist wie für die FDP eine Ampelkoalition, daß sich Andrea Ypsilanti einfach erst einmal egal von wem wählen läßt, die Wahl ist bekanntlich geheim. Danach könnte sie mit wechselnden Mehrheiten regieren. Sozialdemokratische Ideen lassen sich mit der Linken durchsetzen, aber gleichzeitig stünde die SPD nicht unter dem Druck dieser Partei, weil solche Fragen, die mit den Linken nicht zu verabschieden sind, dann mit der FDP realisiert werden könnten. Diese kann dadurch eine zu weit nach links abgleitende Politik verhindern. Dieses Plus freilich muß dann den Wählern erklärt werden. Hingegen in eine Ampelkoalition eingebunden stünde die FDP immer vor der Schwierigkeit, bei Ablehnung konkreter Vorhaben von rot und grün mit der Linkspartei ausgespielt zu werden.
Halten sich aber wirklich alle Parteien an ihre Ausschlußkriterien und öffnen sich neuen Farbkombinationen nicht, bleibt als zweite Antwort eine ewige große Koalition, die als Schreckgespenst von Politikern wie Journalisten bezeichnet wird. Freilich ist auch diese Sorge partiell nicht nachvollziehbar, weil es nämlich auch Länder gibt, in denen eine große Koalition quasi institutionalisiert ist, wie in der Schweiz oder aber die politische Kultur wenigstens über Jahrzehnte bestimmt hat wie in Österreich. Diese Art von Konkordanzdemokratie sorgte zwar in Österreich für den Triumph des Populismus eines Jörg Haider, aber es kann nicht behauptet werden, daß eine solche Struktur generell undemokratisch wäre.
Und wie ist es um Apsruch und Wirklichkeit des politischen Systems in Deutschland bestellt? Die Verfassungsväter haben in der Bundesrepublik mit dem Bundesratsmodell einem sich von anderen Föderationen unterscheidendes Modell den Vorzug gegeben. Während in den USA und der Schweiz alle föderalen Territorien die gleichen Rechte in der zweiten, kleinen Kammer haben, nämlich – abgesehen von den Halbkantonen in der Schweiz – zwei Abgeordnete, sind die Bundesländer in Deutschland ihrer Bevölkerungsstärke nach mit zwischen drei und sechs Vertretern repräsentiert. Darüber hinaus wird in den genannten Staaten die zweite Kammer direkt gewählt, in Deutschland jedoch durch die Landesregierungen in persona beschickt.
Diese verfassungstechnische Tatsache führt dazu, daß die Landtagswahlen nicht nur ein bundespolitisches Stimmungsbarometer sind, sondern die Bundespolitik auch wirklich beeinflussen. In der Bundesrepublik Deutschland sind alle Gesetze zustimmungspflichtig, müssen also vom Bundesrat auch verabschiedet werden, welche die Länder beeinflussen. Das gilt deshalb für die weitaus meisten Gesetze, weil die Verwaltung in großen Umfang den Ländern obliegt. Auch dies war von den Verfassungsvätern gewollt, die so recht keine Entscheidung zwischen einem Bund Deutscher Länder, also einer Konföderation, und einem starken Bundesstaat getroffen haben.
Trotz dieses Umstandes sehen die meisten Politiker wie auch die Medien das deutsche Regjerungssystem als Konkurrenzdemokratie. Dahingegen liebt es der deutsche Wähler, bei Landtagswahlen jenen Parteien den Vorzug zu geben, die sich im Bund in der Opposition befinden. Das Ergbenis ist, daß regelmäßig im Bundesrat eine andere Mehrheit herrscht als im Bundestag. Da sich die beiden Kammern nicht einigen können, fallen politische Entscheidungen nicht selten im Vermittlungsausschuß, was den politischen Prozeß intransparent macht und informellen Vereinbarungen zwischen den politischen Parteien Tür und Tor ö ffnet. De facto darum gibt es in Deutschland sowieso meist Allparteienregierung.
Aus heutiger Sicht stellt sich darum durchaus die Frage, ob der Beitritt nach Artikel 23 GG 1990 nicht doch ein Fehler war, wonach es einer neuen Verfassung nicht bedurfte. Ohne eine Verfassungsänderung lassen sich die Probleme nur aufbrechen, wenn sich die Parteien in alle Richtungen koalitionsfähig zeigen. In diesem Fall könnte zukünftige Politik wieder stärker eine inhaltliche Diskussion werden als die Äpfel- und Birnenzählerei, die sie in den veragangenen Jahrzehnten war.

Ārzemnieku pētījumi par politiku post-sociālistiskajā Eiropā

Dieter Segert, pats no Austrumvācijas, pēta partijas un partiju sistēmas post-sociālistiskās valstīs un izdevu 2007.g. vienu grāmatu, kurā vairāki autori pēta „vēlās sociālisma valdīšanas” ietekmi uz demokrātisko attīstību. Šī grāmata, protams, ir vācu valodā, bet recenzijā tiek atspoguļots saturs daļēji, it īpaši skatoties uz grāmatā minējiem aspektiem par Baltiju.

Bronzesoldat und die Diskussion mit einem Kommentator

Kloty hat inzwischen sowohl in meinem als auch im Estland Blog neuerlich geantwortet:

“In meinen Augen war Estland ein moderner Staat mit gelungener Integrationpolitik (wie mir von meinen Bekannten/Verwandten immer wieder versichert wurde). Ich habe mich sehr gefreut, als Estland EU beigetreten ist.”

Zustimmung, abgesehen davon, daß es in Estland mehr oder weniger ausgeprägt Parallelgesellschaften gibt, so wie das mit den Türken in Deutschland oder den verschiedenen Nationalitäten des Melting Pots USA auch diskutiert wird.

“Doch als ich dann ueber die Geschichte mit dem Bronzenen Soldaten gehoert habe, wusste ich sofort, dass das nicht gut ausgehen wird und so kam es auch.”

Warum ist das nicht gut ausgegangen? Die Unruhen in der Banlieue und die alljährlichen Krawalle in Kreuzberg zum 1. Mai sind weder für Paris noch für Berlin angenehm, sind Ausdruck von Problemen, stellen aber keine Staatskrise dar. Darum stimme ich folgendem Absatz von Kloty nicht zu:

“Sie schreiben, dass das Denkmal schon vorher ein Politikum war. Das ist richtig. Nur wurde er mit der Versetzung von einem kleinen estnischen Politikum, den man mit genuegend Umsicht haette loesen koennen, zu einem grossen europaeischen Politikum, in den auch andere Laender involviert wurden. Oder war das vielleicht das Ziel?”

Daß sich dieses Politikum mit Umsicht hätte lösen lassen, habe ich oft genug in Frage gestellt und meine Zweifel auch begründet. Kloty ist bislang auf die konkreten Argumente noch überhaupt nicht eingegangen, außer mit dem Hinweis, den Zusammenhang zwischen dem Denkmal und der Parlamentswahl sowie dem Denkmals in Riga nicht zu verstehen. Dieses Problem Klotys ist offensichtlich durch seine Weltanschauung begründet:

“Ich sehe mich nicht als Vertreter der enttaeuschten russischen Minderheit, ich lebe ja nicht in Estland, bin also nur mittelbar betroffen, sondern ich sehe mich eher als einen Buerger eines EU-Staates, dessen politische Meinung recht weit links angesiedelt ist und der nicht ansehen kann, wie in einem anderen EU-Land, das zufaelligerweise seine Heimat ist, dumpger Nationalismus salonfaehig ist (...) Ich bin mir bewusst, dass es viele Russen in Estland gibt, die einfach stolz darauf sind Russen zu sein und Esten als "primitivere" Leute ansehen, umgekehrt gilt es genauso, mit diesen Leuten moechte ich nichts, nichts, nixhts zu tun haben.”

Eben noch beruft Kloty sich darauf, er sei nicht betroffen, da er nicht in Estland lebe, das er aber gleichzeitig als seine Heimat bezeichnet. Kloty macht mit seinen Ausführungen das typische Denken der sowjetisierten Russen salonfähig, die noch nicht bemerkt haben, daß die angebliche Internationalität der Sowjetunion in Wahrheit die Schaffung des Sowjetmenschen unter eine russischer Hegemonie zum Ziel hatte. Die von mir bereits einmal erwähnte, in Riga geborene Russin, erklärte die “große Sowjetunion” sei ihre Heimat gewesen. Historisch betrachtet ist die Russische Föderation noch heute das letzte große Kolonialreich der Erde. Daß Kloty sich als „recht weit links“ bezeichnet, wundert folglich nicht, denn die diversen K-Gruppen im Westen Deutschlands sehen die Dinge exakt so wie Kloty – hierzu mein Briefwechsel mit Ulla Jelpke, MdB Die Linke und die Fortsetzung. Was bedeutet Heimat für Kloty, ist sie nur ein Synonym für den Geburtsort? Darum fährt Kloty auch fort:

“Wer sagt denn eigentlich, dass Estland ein "fremdes" Land fuer die Russen ist? Wieviele Generationen muss man in einem Land leben, dass es nicht mehr "fremd" ist? Ihnen muss ich nicht erzaehlen, seit wann Russen in Estland leben. Ueberhaupt erinnern mich diese Diskussionen ueber mein Land dein Land an dunkle vergange Zeiten oder an aktuelle Konflikte im Nahen Osten. Sie als Dozent fuer Politikwissenschaften muessten doch wissen, wieviele monoethnische Staaten es auf der Erde gibt. Das Land Estland steht dem estnischen Volk nicht der exklusiven Nutzung zur Verfuegung. Wie lange muss man in einem Land leben, um sich nicht mehr als Gast fuehlen zu muessen? In einem multikulturellen Europa sollte das doch Allgemeingut sein.”

Wenn Kloty den Esten die Heimat und die Pflege ihrer Kultur abspricht, und das beinhaltet natürlich auch die Herrschaft über das eigene Territorium, so gilt dies für alle Völker der Welt. Also will er einmal auf der Welt umrühren und alles gleich machen? Nichts gegen Völkerfreundschaft, auch das gehörte zur sowjetischen Ideologie. Gerade die Unterschiedlichkeit macht doch die Welt interessant. Und Kloty sollte es nicht entgangen sein, daß gerade das Leugnen von Identität und das Verbot, sie auszuleben immer wieder zu Konflikten führt. Selbst wenn wir Afrika als Beispiel gar nicht heranziehen, ist der Kampf um die Kosovofrage eine Folge des Traumas der EU, die Bürgerkriege der 90er vor der eigenen Haustür nicht verhindert zu haben können. Israel verlangt diesem Umstand überhaupt seine Existenz. Die nach Estland eingereisten Russen haben ihr Mutterland, die Esten aber nur ein, zumal sehr kleines Vaterland.

Aber da kommt Kloty manchmal auch in Widerspruch mit sich selbst: Erst spricht er von einer weitgehend geglückten Integration, welche ich angesichts verschiedener Interpretationen von Integration und Assimilierung wenigstens diskussionswürdig finde, kommentiert aber die russische Beschimpfung der Balten und Deutschen als Faschisten mit Verständnis:

“Solange alle Russen unterschiedlos als Okkupanten betrachtet werden...”

Was nicht stimmt. Ich hatte bereits darauf hingewiesen, daß erstens in der einfachen Bevölkerung keine “offenen Rechnungen” bestehen, also die Integration so weit geglückt ist, daß es keine manifesten oder gewalttätigen Konflikte gibt, und zweitens die Tatsache einer völkerrechtswidrigen Okkupation über 50 Jahre weder von den Russen noch von Rußland als Tatsache akzeptiert wird. Übrigens sollte als sehr positiv angemerkt werden, daß die russische Gastfreundlichkeit eben auch keine Grenzen in irgendeiner Form von Haß gegen die Deutschen eingeschränkt wird. Da aber Kloty die typische Argumentation des Homo Sovieticus übernimmt, verwundert auch nicht:

“Herr Reetz, eins kann ich Ihnen versichern, die estnische Oma aus Viljandi war sowjetische Staatsbuergerin ohne, dass sie auch nur ein Wort auf Russisch haette sagen muessen. Estnisch war zu Zeiten der Sowjetunion viel besser aufgestellt, als Russisch jetzt in Estland. Ja, ich weiss in diesem Punkt werden wir einander nicht ueberzeugen koennen.”

Also wenn ein riesiger Staat einen kleinen annektiert und dessen Einwohner dann nicht zu seinen Staatsbürgern macht, dann wären sie vogelfrei oder was? Die Staatsbürgerschaft der Sowjetunion sowie die gute Stellung des Estnischen haben die Oma aus Viljandi nicht vor der Deportation nach Sibirien schützen können! Und die Frage, welche Stellung das Russische in der Sowjetunion hatte, da kann ich wieder nur auf die bereits erwähnte Hegemonie verweisen. Es war SU-weit die einzige Staatssprache und für jeden, der etwas werden wollte, unumgänglich, ganz zu schweigen von Wohnorten innerhalb Estlands oder Lettlands, wo das Russische damals wie heute erforderlich ist, um verstanden zu werden. Gerade im Infrastrukturbereich gab es fast nur Russen. Ich selber wurde noch 1993 in Riga ab Bahnhofschalter angebrüllt, weil ich eine Fahrkarte auf Lettisch kaufen wollte.

“… als was ich mich selbst sehe und warum ich mich auf das Thema konzentriert habe. Ich bin in Estland geboren, lebe aber schon seit 17 Jahren in Deutschland und hatte mit Estland nicht so viel zu tun (hin und wieder ein Verwandtenbesuch).”

Ich bin in Deutschland geboren und lebe seit rund 15 Jahren mit Unterbrechungen in den baltischen Staaten. Und gerade als Deutscher stört mich die fehlende Fähigkeit der Russen anzuerkennen, daß sie im Falle Estlands einen großen Teil von 800 Jahre Unterdrückung zu verantworten haben – nicht nur in der Sowjetzeit. Aber Kloty geht es nicht um Estland, sondern um seine Ideologie.

Summa summarum sollen nun Fakten, die ein totalitäres Regime mit Unrecht geschaffen hat mit rechtsstaatlichen Mitteln zementiert werden, was im Grunde ja geschieht. Man stelle sich vor, das Unabhängige Estland verführe mit den Russen wie die Sowjets mit den Esten!

„auf Ihren Wunsch kommunizieren wir auf Ihrem Blog weiter, obwohl ich der Meinung bin, dass so eine Diskussion durchaus fuer die Leser des Estland-Blogs interessant waere, denn wir haben zwei Meinungen, die durchaus die Verhaeltnisse in Estland reflektieren, so dass ein oeffentlicher Meinungsaustausch durchaus interessant waere. Wie dem auch sei.“

Da es meines Erachtens in den Ausführungen von Kloty nicht um Estland geht, finde ich diesen Ort besser.

Kloty bezeichnet sich als links. Ihm entgeht, daß auch er eine Identität hat. Offensichtlich ist er als Jugendlicher von Estland nach Deutschland gezogen, weil seine Eltern Spätaussiedler sind (?) Seine Argumentation ist nicht so neutral wie er glaubt. Er rechtfertigt das befinden der Russen in Estland, vermutlich seine Herkunft, findet aber keine Worte des Verständnisses der estnischen Sicht der Geschichte.

Mittwoch, 20. Februar 2008

Bronzesoldat, die Dritte

Blogger Kloty hat mir im Estland Blog geantwortet. Dabei stoßen erneut einige Aspekte auf. Hier liefere ich erneut eine Antwort, die keine Privatdiskussion im öffentlichen Forum werden soll. Ich nehme an, daß hiermit alles gesagt sein wird, denn es ist bereits absehbar, daß ich mich wiederholen werden muß. Gleichzeitig fordere ich Kloty auf, mir ganz einfach zu mailen.

Ich muss zugeben, ich kenne nicht die gesamte Geschichte des lettischen Denkmals und die Diskussionen um ihn. Eins möchte ich hervorheben, die Diskussion um die Versetzung wurde nicht auf dem Staatslevel geführt, sondern ist der fromme Wunsch einiger lettischen Nationalisten. Der lettische Staat scheint etwas mehr Rücksicht auf die Gefühle seiner groessten Minderheit zu nehmen. Momentan scheint sich Lettland besser mit dem grossen Nachbarn arrangiert zu haben, als Estland und die russische Minderheit hat mehr Mitspracherecht im politischen Geschehen. Ich hoffe nicht, dass irgendeine Partei in Lettland derart auf nationalistischen Schiene Wahlwerbung macht, wie die Reformpartei und dabei auch noch Wahlen gewinnt. Können Sie sich vorstellen in welchen Farbspektrum die Partei angesiedelt wäre, die in Deutschland derartige Diskussionen angefangen hätte?
Wie ich angemerkt habe, wäre die Verlegung gut mit den Vertretern der Minderheit abgesprochen gewesen, wäre es nicht zum Politikum geworden. Der Ort der Zwischenlagerung war insofern interessant, weil man überhaupt nicht wusste, was mit dem Denkmal geschehen war. Deswegen konnte das russländische Fernsehen auch die Gerüchte verbreiten, dass er in mehrere Teile zersägt wurde und nie wieder aufgestellt wird.
Kloty scheint nach wie vor nicht verstanden zu haben, daß der Bronzesoldat nicht wegen der Versetzung zum Politikum wurde, sondern versetzt wurde, weil er ein Politikum ist. Von beiden Denkmälern geht dieselbe Symbolkraft aus, für die einen Befreiung, für die anderen Okkupation. Ein Dialog über diese Denkmäler kann erst zustande kommen, wenn die in Estland lebenden Russen zu reflektieren beginnen, warum sie eigentlich eine so große Minderheit in einem fremden Land stellen.
Daß die Letten mit ihren Nachbarn besser umgehen, sehen viele Kommentatoren anders. Unmittelbar vor den Dumawahlen in Rußland vergangenen Dezember hat das lettische öffentliche Fernsehen beispielsweise einen französischen Dokumentarfilm über das System Putin aus dem Programm genommen. Der Direktor mußte anschließend aufgrund der Proteste seinen Hut nehmen.

(Zu den Sprachkenntnissen) Richtig. Tut Estland was dagegen? Wo bleibt ein russischsprachiger Fernsehsender? Wieviele russisch-sprachige Radiostationen mit Informationssendungen gibt es?

Ich möchte doch Kloty dringlichst bitten, bei der Wahrheit zu bleiben. Selbstverständlich gibt es russische Sendungen im estnischen öffentlichen Rundfunk. Die Esten können die Russen aber weder mit Gewalt zum Konsum dieser Sendungen zwingen – über deren genaue Nutzung ich einstweilen keine Informationen habe – noch Störsender gegen das russische Fernsehen aus Rußland aufstellen.

Nur nebenbei, in Westeuropa und in USA war es auch recht nebensächlich, ob Sowjetunion sozialistisch oder kommunistisch war.Sowjetunion hat definitiv die größten Verluste an Zivilbevölkerung und Soldaten im 2. Weltkrieg davongetragen. Es gibt kaum eine Familie, die keine Toten zu beklagen hätte. Der 9. Mai ist Tag der Erinnerung an diese Opfer.

Ja gut, aber wo ist da das Argument, man müsse deshalb die Esten okkupieren und in ihrem eigenen Land zur Minderheit zu machen versuchen?
Dabei sollte auch nicht vergessen werden, daß die Sowjets und viele nationalistische Russen auch heute noch die Esten wie auch die Letten nicht nur von den deutschen Faschisten befreit haben, sondern diese selbst als Faschisten betrachten. Ich lebe selbst im Baltikum und weiß, daß ich wie auch Vertreter der beiden anderen erwähnten Nationen schon einmal gerne als Faschisten bezeichnet werden, und zwar keineswegs nur im Spaß. Auch während der Krawalle wurden die Esten insbesondere von jugendlichen Russen, also keineswegs den Veteranen, als Faschisten beschimpft.

Für die Jungen schon, aber auch für die 60-jährige Oma, die ihr ganzes Leben in Narva verbracht hat, wo sie mit 90% russisch-sprachigen auf Russisch kommuniziert hat?
Das ist auch nur ein Teil der Fakten. Der andere Teil ist die Sprachkommission, die Vorschriften erlässt, wie gut bestimmte Berufsgruppen die estnische Sprache beherrschen müssen, um diesen Beruf ausüben zu können. Und da geht es nicht um Kommunikationsfähigkeit.

Kloty ist also der Meinung, da die arme Oma aus Narva kein Estnisch lernen kann, muß die estnische Oma aus Viljandi Russisch können? So war es ja 50 Jahre. Niemand in Estlandhat die Sowjets zu kommen gebeten. Außerdem verlangt von der Oma in Narva auch niemand, daß sie Estnisch lernt. Kloty verbreitet auch im Zusammenhang mit dem geforderten Sprachniveau unrichtige Thesen. Ich habe im Landkreis Ida-Virumaa im von Narva 25km entfernten Sillamäe selbst ein Jahr gelebt und bin dort nach wie vor regelmäßig. Während es in Ida-Virumaa schwierig ist, auf estnisch einkaufen zu gehen, habe ich noch keine randalierenden Esten vor den entsprechenden Geschäften gesehen.

Eine staatliche Hochschulausbildung auf Russisch ist in Estland auch nicht möglich. Die Eröffnung des Ekaterinen-Kolleges mit russisch-sprachigen Bachelor-Lehrgängen wurde vom estnischen Bildungsminister kategorisch blockiert.

Der Vergleich zwischen marischer Bildung in einer Republik der russischen Föderation und russischer Bildung in Estland ist mir unverständlich. Warum entlassen die Russen Tatarstan oder besonders Tschetschenien nicht in die Unabhängigkeit?
Übrigens sei abschließend hinzugefügt, daß es auch unter den Russen viele Chauvinisten gibt. Ein aus Rußland stammender, in Kohtla-Järve lebender Russe sagte einmal mir gegenüber, Estland sei keine Kultur, das müsse man von der Landkarte wischen. Eine in Riga geborene Russin erklärte mir, daß sie die Deutschen verstehen könne, die seinen wie die Russen ein großes Volk, da müßten sich eben die anderen unterordnen.

Samstag, 16. Februar 2008

Völker, Denkmäler, Symbole – Diskussionen und Überraschungen

Ausgehend von der Translozierung des Bronzesoldaten in der etnischen Hauptstadt Tallinn gibt es zahlreiche Kommentare und Diskussionen, an denen auch ich mich im Laufe der letzten Monate beteiligt habe. Neben meinem eigenen Blogbeitrag kam es zu einem Mailwechsel mit dem in Estland lebenden Deutschen Klaus Dornemann, den ich 2002 einmal persönlich kennenlernte und der in der Nacht während der Ausschreitungen in Tallinn von der Polizei verhaftet worden war. Darüber hinaus erhielt ich eine Reaktion auf meinen Beitrag von Blogger Kloty, der seinerseits auf seiner Seite Zitate von Herrn Dornemann, diese als „emotional” klassifizierend, veröffentlicht hat. Am Valetinstag publizierte er folgenden Kommentar zu meinem Beitrag:

Hallo,
Artikel ist gut, allerdings verstehe ich die Logik dahinter nicht. Was soll der Vergleich zwischen dem lettischen Denkmal und dem Bronzenen Soldaten? Was hat das Datum der Parlamentswahlen damit zu tun, ob die Verlegung vor dem 9. Mai oder danach stattfinden soll?
(...)
Deswegen nochmal: Wäre die Verlegung in Absprache mit den Vertretern russischen Gemeinde geschehen, mit militärischen Ehren, mit klarer Aussage wohin das Denkmal gebracht wird, mit vorherigen Benachrichtigung der Verwandschaft der dort Bestatteten (die gerade übrigens gegen den estnischen Staat klagen), wäre das alles nicht passiert. Wenn man aber ein Drittel seiner Bevölkerung nicht ernst nimmt und dem Rest der Welt zeigen möchte, wer der Herr in seinem Haus ist, dann provoziert man Demonstrationen, Proteste, Randale und peinliche Gerichtsverfahren.

Die erste Anmerkung verblüfft mich besonders. Der Vergleich mit dem Denkmal in Riga liegt auf der Hand angesichts eines völlig gleich gelagerten Konflikts in Lettland: Es handelt sich für die Russen um ein Symbol für den Sieg über den Faschismus im Großen Vaterländischen Krieg, für die Letten hingegen für 50 Jahre sowjetische Okkupation. Die Situation ist nur insofern etwas anders gelagert, als die Russen geographisch in Lettland gleichmäßiger verteilt leben und der sprachliche Unterschied zwischen den beiden indo-germanischen Völkern Russen und Letten nicht so gravierend ist wie zu den finno-ugrischen Esten.
Auch der zweite Aspekt überrascht mich. Wegen der Symbolkraft beider Denkmäler sind sie selbstverständlich ein Politikum, welches Parlamentswahlen beeinflußt wie auch Gegenstand einer Wahlkampagne werden kann.
Mal abgesehen davon, daß der Ort der Zwischenlagerung mir nicht so besonders wichtig erscheint, halte ich die Verlegung von Soldatengräbern inklusive der Translozierung des dazugehörigen Denkmals auf einen Soldatenfriedhof für normal. Daß es gegen konkrete Orte Einwände gibt, ist nicht ungewöhnlich. Jedwede Diskussion über jedwedes Denkmal beweist das.
Wesentlich scheint mir ein anderer Aspekt, den ich in meinem Beitrag zu unterstreichen versucht habe. Nachdem über Jahre hinweg das Denkmal an seinem Ort vor der Nationalbibliothek gestanden hatte, gab es nach den Vorkommnissen vom Mai 2006 Handlungsbedarf. Es darf davon ausgegangen werden, daß eben auch dann Ausschreitungen dieser oder anderer Art stattgefunden hätten, wenn das Denkmal nicht vor dem 9. Mai 2007 versetzt worden wäre. Die Diskussionen über den Zeitpunkt lassen außer Acht, daß es jedes Jahr einen 9. Mai gibt.
Und darum erscheint es mir wichtig, die Symbolkraft des Denkmals für beide Seiten noch einmal zu diskutieren, weil in vielen Kommentaren zwar richtige Fakten angegeben werden, oftmals aber eben nur ein Teil derselben. Das bezieht sich ganz deutlich auf die Meinungsäußerung von Kloty, die Esten haben zeigen wollen, wer Herr im Haus ist.
Für viele Russen besteht das Problem, daß sie nur der russischen Sprache mächtig sind und nur in ihrem russischen Informationsraum leben. Die Umstände der russischen Medienwelt sind hinlänglich bekannt. Folglich glauben nach wie vor viele der alten sowjetischen Propaganda, sie hätten die Welt allein vom Faschismus befreit. Das ist gleich aus zwei Gründen unhistorisch: Erstens stammt der Begriff des Faschismus von Mussolini, wohingegen Hitler seine Bewegung als Nationalsozialismus bezeichnete. Nur die Sowjetunion hat zur Abgrenzung des „anderen Sozialismus“ auch die Deutschen als Faschisten bezeichnet. Die Behauptung, die Rote Armee habe die Deutschen besiegt, läßt außer Acht, das die Sowjetunion nicht alleine gegen die Nazis gekämpft hat. Gerne wird hier die Bedeutung des Kriegseintrittes der USA und die Landung in der Normandie für die deutsche Kapitulation heruntergespielt.
Selbstverständlich ist Klotys Anregung einer Kommunikation über die Zukunft des Denkmals begrüßenswert und richtig. Doch er selbst zeigt in einem Vortrag die dabei auftretenden Schwierigkeiten auf: die Russen haben bisher die Aufarbeitung der eigenen Geschichte nicht begonnen so wie dies in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geschah. Dabei hätte es Rußland damit deutlich einfacher, weil die Sowjetunion nicht im russischen Namen gehandelt hat, der Nationalsozialismus aber sehr wohl im deutschen.
Zur 60 Jahrfeier des Weltkriegendes hatte 2005 der russische Präsident Putin auch die Präsidenten der baltischen Staaten eingeladen, wogegen nichts einzuwenden ist. Das Junktim, den Esten und Letten zu dieser Gelegenheit den Abschluß der seit zehn Jahren paraphierten Grenzverträge anzubieten, war eine klare Provokation, über welche die internationale Presse aber wieder entschieden weniger berichtet hat.
Gleichzeitig sollte betont werden, daß es in den baltischen Staaten Estland und Lettland unter der einfachen Bevölkerung keine "offenen Rchnungen" gibt. Natürlich gibt es in jedem Land Nationalisten und Radikale, die Frage von Parallelgesellschaften kann genauso wie im Falle der Türken in Deutschland oder Latinos und Schwarzen im Meltingpott der USA diskutiert werden. Aber es gibt keine manifesten Konflikte zwischen den Volksgruppen in Estland und Lettland.
Dies steht ganz im Gegensatz zu den regelmäßig in Publizistik und Wissenschaft auftauchenden Behauptungen über die Diskriminierung der Russen in den baltischen Ländern. Dazu muß unterstrichen werden, daß die Russen in Estland und Lettland sowieso auch mit der Staatsbürgerschaft Rußlands leben können, aber ebenso die örtliche beantragen können, was jedoch vielfach nicht angestrebt wird. Staatenloser zu sein schränkt inzwischen weniger ein als mit konkreten Staatsbürgerschaften auf der anderen Seite auch Pflichten verbunden sind. Auch die Reisemöglichkeiten etwa mit einem russischen respektive einem EU-Paß sind für viele Betroffene von Bedeutung. Daß die Tests für die Einbürgerung in Sprache und Geschichte eine unüberwindlich schwierige Hürde darstellen würden, ist eine oft wiederholte Mär, auf die Fragen zur Geschichte kann sich der Prüfling vorbereiten udn sie sind mit durchschnittlicher Schuldidung problemlos zu beantworten. Die Sprachtests fragen keinerlei Grammatik ab, sondern überprüfen lediglich die Kommunikationsfähigkeit, der Bewerber muß also keinesfalls fehlerfrei sprechen.
Faktum ist, daß die Vorwürfe der Diskriminierung weniger von den in den baltischen Ländern lebenden Russen erhoben werden, als von Rußland selbst. Dabei müßte insbesondere in dieser Frage Rußland zunächst im eigenen Land beginnen. Während etwa die Schweiz viele Mühen unternimmt, damit das Rätoromanische nicht ausstirbt, geschieht dies in Rußland nicht. Zwar werden etwa die Einwohner der finno-ugrischen Republik Mari El nicht bedrängt, aber eben auch nicht unterstützt. Eine Hochschulausbildung in der Sprache dieser Republik ist nicht möglich. Die Macht des Faktischen, auch daß die Russen in vielen Republiken anderer Titularnationen innerhalb der russischen Föderation eine Bevölkerungsmehrheit stellen, wirkt.
Aber zurück zu Klaus Dornemanns, den ich, da mir persönlich mehr oder weniger bekannt, per Mail nach dem Hergang gefragt habe. Aber statt mir zu berichten, wann er wo verhaftet wurde, überließ er mir nur Texte, die er nach eigenen Angaben an verschiedene Amtspersonen in Deutschland und Estland geschickt habe. Die Richtigkeit dieser Behauptung kann ich nicht überprüfen. Aus diesen Dokumenten geht hervor, daß die Polizei Dornemann mißhandelt habe – in einem finnischen Artikel wird dies mit Photos belegt – und sich ihm gegenüber geweigert habe, den Grund seiner Verhaftung zu nennen. Alle Anschreiben sind mehr als nur „emotional“ formuliert, es handelt sich vorwiegend um Beschimpfungen. Auf meine Rückfrage und Bitte hin, mir doch außerdem auch eine Beschreibung de Vorkommnisse zu geben, erhielt ich meinerseits zwei elektronische Briefe, die sich inhaltlich nicht von den Schreiben an die Amtspersonen unterscheiden. Es fällt mir schwer, in Dornemanns Handlung einen Sinn zu erkennen, zumal ein Anschreiben an einen Bundestagsabgeordneten ging, ohne daß aus irgendeiner Formulierung hervorginge, in welchem Zusammenhang dieser Politiker mit den Ereignissen in Tallinn steht. Positiv reagiert haben jedoch die Europaabgeordneten Sarah Wagenknecht und Tatjana Ždanok, die Dornemann und den Prozeß in Estland besuchten. Daß die deutsche Vertreterin von der Linken ist, veranlaßte Dornemann jedoch zu dem Kommentar, er sei eigentlich kein Anhänger dieser Partei. Ich habe mich ihm gegenüber mit keinerlei Bewertung seiner Involvierung in die Geschehnisse geäußert.

Das Baltikum

Ich bitte zu bedenken, daß dieser Beitrag keine gehobene baltische Geschichtslehrstunde darstellt, sondern Touristen informieren soll, die über die baltischen Staaten überhaupt noch nichts wissen. Viele Informationen sind darum bewußt allgemein gehalten und es wird auf zu viele Namen und Jahreszahlen verzichtet, die sich im Bus ohnehin niemand merken kann.

Das Baltikum – dieser Begriff begegnete mir in der Kindheit zunächst in der Wettervorhersage der ARD-Tagesschau mit einem Hoch oder einem Tief über dem Baltikum. Nach der Unabhängigkeit, dem Beitritt zur NATO und EU sind die Länder, die während der 50 Jahre dauernden Eingliederung in die Sowjetunion in Vergessenheit geraten waren, zwar wieder in aller Munde, doch die meisten tun sich mit einer Einordnung schwer. Und in welcher Reihenfolge liegen sie da an der Ostseeküste? Für den deutschen Muttersprachler ist das eigentlich ganz einfach: Von Norden nach Süden in alphabetischer Reihenfolge Estland, Lettland und Litauen.
Nichtsdestotrotz ist das Wissen über die Staaten des Baltikum beschränkt. Welches Land hatte noch einmal welche Hauptstadt? Ich habe mal wochenlang auf einen Brief gewartet, den eine immerhin in Beziehung mit Litauen stehende Organisation mir aus Deutschland zu schicken versprochen hatte, als sich später herausstellte, daß der nach Riga in Litauen gesandt worden war. Aber auch sonst, wenn ich während der 90er Jahre in Deutschland gesagt habe, ich lebe in Estland, dann kam häufig die Rückfrage, „wie? In Island?“ Es wird auch berichtet, daß Lettland regelmäßig mit Lappland verwechselt wird. Einmal habe ich sogar gehört, daß Bekannte einer ins Baltikum reisenden jungen Dame verwundert meinten, da werde doch geschossen. Sie hatten das Baltikum mit dem Balkan verwechselt. Auf die Frage, ob man dort Russisch spricht, antwortete ich immer bestätigend, mußte jedoch oft erklären, daß diese Sprache nicht die Landessprache in den drei Republiken ist.
Zwar weiß man inzwischen in Deutschland schon mehr, doch das Ziel meiner Reiseleitung ist darzulegen, daß die baltischen Länder zwar kleine benachbart liegende Territorien sind, aber doch sehr verschieden, also die baltischen Staaten gar nicht die baltischen Staaten sind. So gibt es allein für den Begriff zwei etymologische Ursprünge.
Zum einen hat sich diese Bezeichnung in Ableitung vom lateinischen Namen der Ostsee, Mare Balticum, im Deutschen im 19. Jahrhundert erst eingebürgert. Die Letten und Litauer sagen übrigens ebenso wie im Englischen Baltisches Meer. Die Esten hingegen nennen es im Grunde wenig überraschend im Gegenteil zum deutschen Namen Ostsee „Läänemeri“, das bedeutet Westmeer.
Der zweite Aspekt ist, daß die Letten und Litauer die beiden letzten übrig gebliebenen Völker der baltischen Untergruppe der indo-europäischen Stämme sind, während die für Preußen seinerzeit namensgebenden Pruzzen sich in Deutschland assimiliert haben. Die Balten sind also weder germanischen Völker noch Slawen. In Europa gehören zu den indo-germanischen Völkern fast alle außer den Finnen, Esten und Ungarn. Diese sind finno-ugrische Völker, deren weitere Verwandte einige eher kleine Volksgruppen in der russischen Föderation sind.
Unübersichtlich wird das Baltikum bei einem Blick in die Geschichte, denn wenn auch Letten und Litauer verwandt sind, so verbindet das historische Geschehen der letzten etwa acht Jahrhunderte die Letten mit den Esten; sie wurden Ende des 12. Jahrhunderts im wesentlichen von den deutschen Ordensrittern nach den gescheiterten Missionen im Heiligen Land im Auftrage des Papstes unterworfen.
Die im Baltikum lebenden Völker waren den Rittern nicht nur militärisch unterlegen, sie hatten keine Metallschwerter und Steinburgen. Generell waren sich die Stämme untereinander in den baltischen Staaten nicht friedlich gesonnen, es hatte sich kein mittelalterliches Staatswesen entwickelt. Das heutige lettische Volk ist aus verschiedenen Stämmen erst spät zusammengewachsen, darunter die namensgebenden Lettgallen, aber auch die baltischen Kuren, nach denen die Kreuzritter den heutigen Westen des Landes benannt haben. Livland, der südliche Teil des heutigen Estlands und der nördliche Teil des heutigen Lettlands verdankt seinem Namen dem finno-ugrischen Volk der Liven, die sich im laufe der Jahrhunderte assimilierten. Mindaugas gelang zwar im 13. Jahrhundert die Einigung des litauischen Volkes, dessen erster König er wurde, doch blieb er auch der einzige, wie die Litauer gerne witzeln. Seine Landsleute waren nämlich von der politischen Neuerung wenig begeistert und ermordeten ihn nach zehn Jahren Regentschaft.
Trotzdem blieb Litauen ein mächtiges Großfürstentum, das lange und erfolgreich gegen die Kreuzritter kämpfte und sich als die letzte Nation Europas das Heidentum bewahrte. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß im 14. Jahrhundert der Großherzog dann aus eigenen Stücken zum Katholizismus übertrat, um die polnische Königin Jadwiga (Hedwig) zu heiraten und ein gemeinsames Großreich zu begründen. Heute ist der Katholizismus in Litauen sicher ähnlich wichtig wie in Polen.
Diese Machtkonstellation blieb für gut drei Jahrhunderte maßgebend. Während der dänische König Waldemar das im Auftrag des Papstes eroberte Estland (der nördliche Teil des heutigen Staates) schon im 13. Jahrhundert an die Kreuzritter verkaufte, standen diese im Süden im ständigen Konflikt mit den Litauern, gegen die sie in der bekannten Schlacht bei Tanneberg 1410 im Verbund mit Polen eine empfindliche Niederlage erlitten, was den Anfang vom Ende des Ordensstaates einläutete, der eine Konföderation aus Ordens- und Bischofsländereien war. Den Kreuzrittern gelang es nie, ihre südlichen und nördlichen Territorien miteinander zu verbinden.
Während die Litauer so unabhängig blieben und erst später durch die drei polnischen Teilungen unter den umgebenden Großmächten aufgeteilt wurden, begann eine Zeit der deutschen Prägung in Estland, Livland und Kurland. Den Rittern folgten zahlreiche Händler, Städte wie Reval und Riga, aber nicht nur, gehörten der Hanse an. Für einen sozialen Aufstieg war damals de facto eine Germanisierung unumgänglich. In der vom Schwedenkönig Gustav II. Adolf 1632 gegründeten Universität Dorpat wurde bis zum Ersten Weltkrieg auf deutsch gelehrt.
Diese Situation auf dem Territorium des heutigen Estlands und Lettlands änderte sich grundlegend mit der Reformation, die in den baltischen Ländern von den Hanseaten sehr begrüßt wurde, um das Joch der Kirche abzuschütteln. Jetzt begannen auch die ersten Geistlichen, in der Sprache der Bauern zu predigen, Katechismus und Bibel wurden in die Landessprachen übersetzt.
Gleichzeitig blieb das Baltikum politisch unruhig, weil die umgebenden Mächte Begehrlichkeiten hatten. Während des großen Livländischen Krieges im 16. Jahrhundert konnte Schweden mit Unterstützung des polnisch-litauischen Staates seine Vormachtstellung ausbauen und besiegte Rußland. Die Territorien Estlands und Livlands kamen nach der Auflösung der Livländischen Konföderation 1561 an Schweden, Kurland wurde als polnisches Lehen selbstständig. Dieser Staat war im den folgenden zwei Jahrhunderten wirtschaftlich erfolgreich, es gab sogar zwei Kolonien, die allerdings wohl nur gekaufte Territorien waren ohne Siedler aus dem Mutterland. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts folgte schließlich der Nordische Krieg, in dem Rußland über Schweden obsiegte und auch dessen Besitzungen im Baltikum einnahm. Die dritte polnische Teilung brachte 1795 das gesamte Territorium der heutigen baltischen Staaten unter zaristische Herrschaft.
Zunächst erhofften sich die Menschen eine Verbesserung Ihrer Lage im Kampf gegen die deutsche Oberschicht. Es stellte sich jedoch schnell heraus, daß der Zar eher eine Russifizierungspolitik betrieb. Somit hatten seit der Aufseglung zwar die herrschenden Mächte mehrfach gewechselt, es gab zwar immer wieder mal positive mal negative Veränderungen für die einfache Bevölkerung, aber die Privilegien der Deutschen waren immer wieder weitgehend bestätigt worden, sie waren wichtige Politiker und Militärs unter ihren jeweiligen Landesherren..
Erst Ende des 19. Jahrhunderts entstand die Bewegung des nationales Erwachens. Bis dahin hatte es keine eigene Literatur gegeben, selbst Esten und Letten waren vielfach der Ansicht, ihre Sprachen seien keine Kultursprachen. Nun aber begannen die ersten Dichter und Schriftsteller zu publizieren, die Nationalepos wurden verfaßt. 1869 und 1873 fanden in Estland und Lettland die ersten allgemeinen Sängerfeste statt. Der lettische Journalist Krišjānis Barons begann, die Volksweisen „Dainas“ zu sammeln – heute das „Nationalheiligtum“ der Letten.
Mit der Oktoberrevolution begannen die baltischen Aktivisten für ihre Unabhängigkeit zu kämpfen, während die sogenannten Weißen unter Bermondt den Erhalt des russischen Reiches mit Waffengewalt erstrebten. Dabei stellten die Esten erfolgreich nationale Streitkräfte auf, die gegen die junge Rote Armee siegten und fast bis St. Petersburg kamen. In Lettland war die Situation schwieriger, weil hier viele Menschen Anhänger der Kommunisten waren. Zeitweilig gab es drei Regierungen: eine kommunistische, eine nationale und auch eine von deutschen Einheiten unterstützte. Die Entente Mächte hatten nämlich die Deutschen trotz der Niederlage im Ersten Weltkrieg gebeten, das Baltikum im Kampf gegen den Bolschewismus nicht zu verlassen. Aber erst mit estnischer Hilfe gelang es später, das Land zu befreien.
Estland, Lettland und Litauen konstituierten sich als Demokratien, die aber unter den gleichen Problemen litten, wie andere Staaten in dieser Zeit. So folgten 1926 in Litauen und 1934 in Estland und Lettland Putsche und autokratische Regime. Wichtig für die einheimische Bevölkerung war die fast Entschädigungslose Enteignung der deutschen Großgrundbesitzer gleich nach der Unabhängigkeit, die viele deutsche Familien bereits vor der Umsiedlungsaktion Hitlers 1939 nach Deutschland übersiedeln ließ. Für viele Menschen in den baltischen Ländern gelten bis heute die 30er Jahre als goldene Zeit, weil sie auch wirtschaftlich eine Erholung brachte. Lettland war beispielsweise ein großer Exporteur von Butter.
Es waren der Hitler-Stalin Pakt und das geheime Zusatzprotokoll, die Estland, Lettland und Litauen der sowjetischen Interessensphäre zuordneten. Unter dem Vorwand einer Vertragsverletzung marschierte die Rote Armee 1940 ein. Es folgte ein erstes Jahr des Terrors, das abgelöste wurde durch die Okkupation durch die Wehrmacht. Zu einem Zeitpunkt, als die Schrecken der Sowjets bereits allen bekannt waren, verwunderte es weniger, daß die Deutschen von weiten Teilen der Bevölkerung als Befreier gesehen wurden. Nichtsdestotrotz wurden die Juden im Baltikum, die hier das Zentrum der jiddischen Kultur in Vilnius hatten, von den Nationalsozialisten zum größten Teil ermordet. Als 1944 die Rote Armee zurückkehrte, gingen viele junge Männer als Partisanen in die Wälder. Die Sowjetunion reagierte darauf mit neuerlichen Deportationen gerade unter der Landbevölkerung, um den Partisanen die Rückzugsmöglichkeit zu erschweren und den Widerstand gegen die Kollektivierung zu brechen.
Nach Stalins Tod normalisierte sich die Lage, einzig wurden in den folgenden Jahren so viele Menschen aus anderen Sowjetrepubliken angesiedelt, daß die Letten im eigenen Land beinahe zu Minderheit wurden. Nach der Machtübernahme von Gorbatschow mit seiner Reformpolitik formierte sich dann der Widerstand. 1988 konnten Volksfronten und Unabhängigkeitsparteien gegründet werden. Zum 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes bildeten die Menschen mit dem sogenannten „Baltischer Weg“ eine Menschenkette über 600 Kilometer von Tallinn über Riga nach Vilnius. Die neuerliche Unabhängigkeit erlangten die baltischen Republiken schließlich in Folge des Augustputsches 1991 in Moskau, nachdem noch im Januar desselben Jahres bei der Erstürmung des Fernsehturmes in Vilnius und des Innenministeriums in Riga zahlreiche Menschen ihr Leben verloren hatten.
Seither ist die Zusammenarbeit der baltischen Staaten eingeschränkt durch einen zunächst verständlichen Wunsch nach Eigenständigkeit. Als Estland zuerst und allein zu Beitrittsgesprächen mit der EU eingeladen wurde, schaute man dort ein wenig herab auf die südlichen Nachbarn. Aber zunehmend gibt es innerbaltischen Tourismus und ein wieder erwachendes Interesse. Wenn der Sohn des kürzlich verstorbenen Schriftsteller Jaan Kross, Eerik-Niiles Kross, als Geheimdienstkoordinator in der Staatskanzlei vor einigen Jahren gefordert hatte, statt der Trikolore eine Flagge mit Kreuz einzuführen wie in Skandinavien und Estland auf Englisch in Estland umzubenennen, weil sich unter Estonia alle nur an die 1994 gesunkene Fähre erinnerten, wird ein solcher Vorschlag auch von seinen Landsleuten nicht ganz Ernst genommen.

Freitag, 15. Februar 2008

Policy Latvijā

Demokrātija ar totalitārisma saknēm
Latvijas politiķi rada par sevi ilūziju kā par atbildīgiem darba pirmrindniekiem, kuri vispirms paši rada problēmas un tad veiksmīgi rāda “bauriem”, kā ar tām cīnīties.

Montag, 4. Februar 2008

Die neuen Zeiten sind in Wahrheit die alten

Dieser Beitrag erschien in Baltische Briefe Nr. 3/4 (713/714) 2008, S.7-8.
In der größten lettischen Tageszeitung Diena kommentierte Aivars Ozoliņš am vergangenen Samstag die Spaltung der Partei „Neue Zeit”. Ozoliņš hält den Zeitpunkt für günstig und meint, er gebe die Gelegenheit, nun endlich eine Partei der „ehrlichen Politik“ zu gründen.
Erst kürzlich trat der ehemalige Außenminister Artis Pabriks aus der Volkspartei aus, nachdem sein Parteifreund Aigars Štokenbergs kurz zuvor sogar ausgeschlossen worden war. Gemeinsam mit Gleichgesinnten gründeten sie die Bewegung „andere Politik“, die noch keine Partei sein möchte – kein Wunder, ist es doch bis zu den nächsten Wahlen lange genug hin, um unpopulär zu werden.
Da nunmehr einige wichtige Politiker die Neue Zeit verlassen haben, beginnen logischerweise Spekulationen darüber, ob sie sich den erwähnten Kollegen anschließen, um die x-te Saubermannpartei zu gründen. Genau darauf hofft Ozoliņš. Die Leser werden das gerne hören und mit ihm hoffen.
Denkt man die Logik dieser Hoffnung zu Ende, so kommt man zu einem Blick auf die lettische Politik, als sollte ein Cleavage (poltische Konfliktlinie in der politikwissenschaftlichen Fachsprache, Anm. d. A.) zwischen Oligarchen und Ehrlichen, zwischen schwarzen und weißen Kräften angestrebt werden. Vielleicht auch deshalb läßt die Unterstützung für den seit März 2007 unter Hausarrest stehenden Bürgermeister von Ventspils, Aivars Lembergs, nicht nach. Es gibt ja auch Leser anderer Zeitungen (Lembergs gilt als einer der wichtigen Oligarchen Lettlands, der auch über den Herausgeber einer anderen Tageszeitung, „Neatkarīgā“, „die Unabhängige“, in Lettland verfügt, Anm. d. A.).
Wenn aber die Neue Zeit tatsächlich von ihren Gründern als ehrliche politische Kraft ins Leben gerufen wurde, was die Gründer damals zu mindest für sich in Anspruch nahmen, dann war die Partei von Anfang an eine Totgeburt. Unabhängig von den zweifelhaften Spendenaufrufen – der damalige Notenbankchef und Parteiinitiator Einars Repše hatte seinerzeit zwei Konten für sich und die Partei eingerichtet an die auch Ozoliņš erinnert – äußerte sich die politische Naivität von Einars Repše auch darin, seine Koalitionsverhandlungen vor laufenden Fernsehkameras zu führen. Wenn die Partei also mit dem Etikett der „Sehnsucht nach einer unschuldigen Politik“ angetreten ist, dann reiht sie sich unter denen ein, die sich seit der Unabhängigkeit nach Idealen sehnen, nach der starken Hand oder den goldenen Zeiten unter Kārlis Ulmanis, deren Realisierbarkeit zweifelhaft sind, denn die Politik wird nicht umsonst als Spiel bezeichnet, sie ist in der Tat der Kampf um Macht und Einfluß.
Ähnlich erging es schon der Partei Res Publica in Estland. Nachdem 1999 Mart Laar ein zweites Mal an die Macht gekommen war und mit einem stabilen Kabinett sogar den Rekord von drei Jahren an der Macht aufstellte, war die Bevölkerung nach einigen Skandalen mit der Politik der Regierung zwar unzufrieden, wollte aber an ihrer Stelle 2003 auch nicht die Oppositionsparteien wählen. Dies wurde von einigen Intellektuellen ausgenutzt, um die Res Publica zu gründen, was auch vom amerikanisch-estnischen Politologen Rein Taagepera unterstützt wurde, der sogar kurzzeitig als Gründungsvorsitzender fungierte. Ihm folgte der vormalige Ombudsmann Juhan Parts, der dann auch Regierungschef wurde. Nichtsdestotrotz verspielte die Partei innerhalb einer Legislaturperiode das Vertrauen der Bevölkerung und vereinte sich schließlich 2006 ausgerechnet mit der Vaterlandsunion von Mart Laar.
Wenn also nun in Lettland das passierte, was Ozoliņš für die schlechteste Variante hält, nämlich daß sich die aus der Neuen Zeit Ausgetretenen anderen Parteien anzuschließen, die bereits entsprechende Einladungen ausgesprochen haben, wäre das eigentlich nur logisch. Denn der Grund für die Spaltung der neuen Zeit liegt im innerparteilichen Konflikt über die Regierungsbeteiligung unter Ivars Godmanis. Jene, die sich nun verabschiedet haben, waren dafür.
Um die eigenen politischen Ideen zu realisieren, muß man kämpfen, streiten und darf sich nicht um Konflikte drücken. Die Gründer der Res Publica hätten sich seinerzeit besser gleich der ihnen ideologisch am nächsten stehenden Partei anschließen sollen, um diese dann von innen zu beeinflussen. Wie nun aber auch die Neue Zeit handelt, das erinnert dann doch eher an Sandkastenspiele. In Deutschland etwa diskutieren Studierende in Universitätsstädten immer wieder über den massenhaften Eintritt in eine kleine Partei wie etwa die FPD, um ihre politischen Ziele umzusetzen. So einfach geht das natürlich nicht, denn die Parteien schauen auch darauf, wer eine Mitgliedschaft beantragt.
Gegenwärtig droht in Lettland, wo seit 1991 ohnehin eine starke Fluktuation der Wählerschaft (der Politologe Pedersen prägte den Begriff „volatility“) zu beobachten war, daß sich diese höchste Instabilität im postsozialistischen Raum fortsetzt. Das Karussell dreht sich weiter. Und was sind die Folgen? Es steht zu bezweifeln, daß die Hoffnungen von Ozoliņš und anderen realisierbar sind. Eher könnten die neuen politischen Kräfte die Enttäuschung der Bevölkerung gegenüber der Politik noch weiter vertiefen und letztendlich vielleicht auch gegenüber der demokratischen Regierungsform schlechthin.
Einem Politologen fällt es schon jetzt zunehmend schwieriger, die lettische Innenpolitik mit den Methoden der Politikwissenschaft zu analysieren. Beinahe muß schon ein Psychologe konsultiert werden.

Jaunie laiki ir īstenībā vecie

Šī ir vēl pagaidu versija.
Dienas komentators Aivars Ozoliņš Sestdienā publicēja savu viedokli par partijā “Jaunais Laiks” notiekošo – ar pozitīvu vērtējumu, jo šīs sašķelšanās notiekot pirmkārt pareizā brīdī un dotu otrkārt iespēju, beidzot nodibināt partiju, kura pārstāv godīgu politiku.
Nesen jau no Tautas Partijas izstājās bijušais ārlietu ministrs Artis Pabriks, kad viņa partijas biedrs Aigars Štokebergs tikko tika izslēgts no tās. Viņi kopā ar domu biedriem no ārpus politikas nodibināja kustību “cita politika”, kura vēl nevēlās būt partija – nav brīnums, jo līdz nākošām vēlēšanām būtu vēl tik daudz laika, ka mierīgi izdotos krist atkal nepopularitātē.
Tā kā tagad izstājas svarīgie politiķi no Jauna Laika, likumsakarīgi, sākās spekulācijas par to, vai viņi nepiebiedrosies iepriekš minētiem kolēģiem, lai nodibinātu kārtējo “tīras politikas” partiju. Tieši uz to cer A.Ozoliņš. Lasītāju šo labprāt dzird un tāpat cer.
Šīs cerības loģiku domāt līdz beigām ved pie Latvijas politiku izpratni, it kā panākt vajadzētu politiskai šķirbai (cleavage) starp oligarhiem un godīgiem, melniem un baltiem spēkiem. Varbūt tāpēc arī atbalsts Aivaram Lembergam vēl joprojām turas. Ir jau arī citas avīzes lasītāji.
Īstenība, ja Jaunais Laiks tiešam no dibinātājiem bija domāts kā godīgas politikas partijas, ka vismaz savā laikā viņi apgalvoja, tad viņa no paša sākuma bija miris dzimušais projekts. Neatkarīgi no apšaubāmiem ziedojumiem, kurus Einars Repše savulaik no vēlētājiem pieprasīja - to arī A.Ozoliņš piemin – Repšes naivā pieeja politikai izpaudās arī praksē, koalīcijas sarunas veikt televīzijas kamerām priekšā. Proti, ar etiķeti pārstāvēt “ilgas pēc nevainīgas politikas” ierindojās politiķi pie tiem, kas kopš neatkarības ilgojas pēc ideāliem, stiprām rokām un zelta Ulmaņa laikiem, kuru iespējamība ir apšaubāma, jo politikai ne pa velti pārmet būt spēle, bet viņa ir reāla cīņa par varu.
Līdzīgā pieredze jau bija partijai Res Publica Igaunijā. Pēc 1999.g. vēlēšanām nāca kaimiņvalstī pie varas Mart Laar otrā valdība, kura bija līdzšinējā vēsturē visstabilākā un palika trīs gadus amatā pat bez izmaiņām ministru kabinetā. Tomēr dažu skandālu dēļ igauņi bija ļoti neapmierināti ar tās valdības politiku, bet 2003.g. nevēlējas opozīcijā esošas partijas vietā ievēlēt. Šo izmantoja intelektuālie nodibinājot to jaunu spēku, kam atbalstīja arī amerikāņu-igauņu profesors un politologs Rein Taagepera, kurš pat īslaicīgi kļuva par partijas priekšsēdētāju. Viņam sekoja bijušais tiesībsargs Juhan Parts, kurš vēlāk arī ieņēma ministru prezidenta amatu. Partija viena parlamenta sasaukuma laikā zaudēja vēlētāju uzticību pa visam un 2006.g. apvienojās tieši ar Mart Laar Tautas Savienību.
Proti, ja notiktu Latvijā tagad tas, ko A.Ozoliņš uzskatu par sliktāku variantu, ka izstājušies politiķi pievienosies pārējām partijas, uz kurieni, protams, viņus jau aicina, tad tas būtu īstenībā diezgan likumsakarīgi. Iemesls Jauna Laika sašķelšanai bija iekšējais konflikts par to, vai nu būt oligarhiem opozīcija vai piedalīties I.Godmaņa valdībā, proti, cīņa par varu! Tie, kas izstājās tieši atbalstīja piedalīšanos pozīcijā.
Lai realizētu savu politiku ir jācīnās un arī sekojoši jāstrīdas, nevis jāizvairās no konfliktiem. Res Publica dibinātājiem būtu bijis prātīgāk uz reiz iestāties viņiem ideoloģiski vistuvākā partijā un tās politiku mēģināt ietekmēt. Šādi kā arī rīkojās Jaunais Laiks, konflikti atgādina drīzāk spēli smilšu kastē. Vācijā piemēram universitātes pilsētās regulāri studenti domā par to, masveidā iestāties kādā no mazām partijām kā brīvie demokrāti, lai pārņemtu tur varu. Bet, protams, tas tik vienkārši nav iespējami, jo partijas arī skatās uz to, kādi cilvēki iesniedz pieteikumu kļūt par biedru.
Pašlaik Latvijai draud, ka novērojama vēlētāju nepastāvība (Volatility, Pedersen), kura kopš 1991.g. Latvijā ir augstākā visu postsociālistisko valstu vidū turpināsies. Karuselis griezīsies tālāk. Kādas ir sekas? Diez vai izdosies iecerēto īstenot. Drīzāk jaunie politiskie spēki vēl padziļinās neapmierinātību ar politiku un beigu beigās, iespējams, arī ar valsts iekārtu.
Politologam vispār paliek aizvien grūtāk Latvijas iekšpolitiku analizēt ar politikas zinātnes metodoloģiju. Drīzāk nāksies konsultēties ar psihologiem.

Der „Bronzesoldat” wieder auf der Tagesordnung

Dieser Beitrag erschien in : Baltische Briefe Nr.2 (712), 02.2008, S.6-7
Nach einem Besuch der Europaabgeordneten der Linken, Sahra Wagenknecht, in Estland wurde das Thema um die Translozierung eines Denkmals in der Hauptstadt Tallinn, die Ende April vergangenen Jahres über mehrere Tage zu Ausschreitungen geführt hatte, erneut aktuell. Frau Wagenknecht beklagt nicht nur neuerlich die Diskriminierung der russischen Bevölkerung in Estland, sondern berichtet von einem angeblich unfairen Prozesses gegen die als Rädelsführer der Krawalle Angeklagten. Sie zweifelt damit außerdem an der Version, die Aktion sei bereits vorher geplant gewesen.
Über die Versetzung des Denkmales ist in den letzten Monaten wiederholt intensiv in der Presse diskutiert wurden, und dies nicht nur in Estland, sondern selbstverständlich vor allem in Rußland, aber auch in Westeuropa. Dabei meinen sich als moderat verstehende Kommentatoren, die estnische Regierung habe einen ungünstigen Zeitpunkt für die Versetzung des Denkmals gewählt. Dies klingt zunächst überzeugend, begannen doch die Arbeiten nur etwa zwei Wochen vor dem 9. Mai, an dem die Russen das Ende des Zweiten Weltkrieges feiern und sich die Veteranen traditionell seit vielen Jahren an dem Denkmal treffen. Ähnliche wird in Lettland im Park rund um das sogenannte Befreiungsdenkmal an diesem Datum der Vergangenheit gedacht.
Dabei muß auf einige grundlegende Unterschiede zwischen den beiden Denkmälern hingewiesen werden. Der bereits 1947 eingeweihte sogenannte Bronzesoldat (Pronkssõdur) in Tallinn befindet sich sehr zentral, unweit der Altstadt neben der neoromanischen Karlkirche und direkt vor der erst in den 90er Jahren fertiggestellten Nationalbibliothek. Das lettischen Pendant ist hingegen erst 1985 errichtet worden und befindet sich jenseits der Daugava außerhalb der historischen Stadtzentrums von Riga. Darüber hinaus ist es von einem Park umgeben, wohingegen der Platz, auf dem sich der Bronzesoldat befand entschieden kleiner ist als ein Fußballfeld. Nationalisten hatten das Monument, welches bewußt die Größe des Freiheitsdenkmals in Riga in den Schatten stellen sollte übrigens kurz nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1996 zu sprengen versucht– allerdings erfolglos. Ein weiterer gravierender Unterschied besteht darin, daß die jüngere Gedenkstätte in Riga ausschließlich als Zeichen des Sieges der Sowjetunion über den Faschismus installiert wurde, während der Bronzesoldat tatsächlich zu Ehren von Soldatengräber errichtet wurde, bei denen es sich im konkreten Fall pikanterweise nicht um Russen, sondern um Esten handelt.
Aber eine Bewertung der Vorgänge im Frühjahr 2007 kann sich nicht auf diese historischen Kenntnisse beschränken, denn insbesondere Ereignisse im Jahre 2006 erklären den Handlungsbedarf, welche leider in der Presse (soweit der Autor sie vernommen hat) nicht erwähnt wurden.
Am 9. Mai 2006 kam es zu einem Konflikt vor dem Denkmal als Veteranen versuchten, einem national orientierten Demonstranten die estnische Flagge zu entreißen. Am folgenden Tag demonstrierten erneut Nationalisten, unter ihnen der in Estland aus der Zeit des Nationalen Erwachens bekannte Dissident Tiit Madisson, der wegen des Vorwurf eines Umsturzversuches auch in den 90er Jahren zwei Jahre in Haft war.
Die Polizei forderte daraufhin die Demonstranten auf, keine weiteren Manifestationen auf dem Tõnismägi (so der estnische Name des Ortes) durchzuführen. Der Platz wurde von der Polizei angeriegelt und über Monate hinweg bewacht.
Es folgte eine politische Diskussion, wie auf die Probleme vor der Nationalbibliothek zu reagieren sei. Am 11. Oktober beschlossen die den Ministerpräsidenten stellende Reformpartei und die damals oppositionelle Vaterlandsunion, das Denkmal zu translozieren. Ein entsprechender Antrag wurde am 10. Januar 2007 mit 66 Stimmen im Parlament angenommen.
Der Präsident setzte diesen Beschluß in Kraft, da auch das Gesetz über Kriegsgräber deren Verlegung vorsieht, wenn sie sich an nicht angemessenen Orten befinden. Auf dem aktuellen Platz befanden sich die Gräber sogar, wie sich anschließend herausstellte, beinahe direkt unter der Trolleybushaltestelle.
Im August gab es auf Veranlassung der Stadtverwaltung von Tallinn einen Runden Tisch zum Thema, an dem nicht alle politischen Kräfte teilnahmen. Einige Teilnehmer votierten jedoch für eine Umgestaltung des Tõnismägi und die Belassung des Denkmales an diesem Ort. Dahingehend äußerten sich auch viele Kenner Estlands aus Westeuropa.
Nichtsdestotrotz darf nicht vergessen werden, daß dieses Denkmal sowohl für die Russen als auch für die Esten ein Symbol war und ist und nicht erst durch die Vorgänge Ende April 2007 wurde.
Somit gab es neben der Versetzung eigentlich realistisch nur eine Alternative, nämlich einen dauerhaften Schutz zu organisieren, der nicht in patrouillierenden Polizisten und einem blauweißen Absperrungsband besteht. Das hätte ggf. nur ein Zaun sein können. Anderenfalls wären weitere Konfrontationen zu jedem 9. Mai erneut zu erwarten gewesen, was einem Ehrenmal für Gefallenen nicht gebührt. Was aber ist ein eingezäuntes Denkmal wert?
Das offizielle Estland hatte somit im Grunde nur die Wahl zwischen Teufel und Beelzebub: entweder Krawalle am Denkmal zum 9. Mai verhindern, oder aber anläßlich dessen Translozierung.
Daß die Versetzung schließlich so kurz vor dem fraglichen Datum stattfand, hatte neben der über Monate andauernden politischen Diskussion freilich noch einen weiteren Grund, den die Politik nicht beeinflussen konnte: am 7. April 2007 standen turnusgemäß Parlamentswahlen in Estland an.
Den Zeitpunkt betreffend kann abschließend nur angemerkt werden, daß nach den Ereignissen von 2006 weitere Probleme absehbar waren und natürlich nach dem 9. Mai immer auch vor dem (nächsten) 9. Mai ist. Man darf wohl auch davon ausgehen, daß die estnische Politik außerdem mit diesem Ausmaß an Schwierigkeiten nicht gerechnet hat.
Eine andere Frage ist der Polizeieinsatz. Die Fernsehbilder machen deutlich, daß die estnischen Sicherheitsbehörden an derartige Großeinsätze noch nicht gewohnt sind. Das erinnert ein wenig an die junge Bundesrepublik, die in den 60er Jahren zunächst mit dem Studentenprotest auch wenig sensibel umzugehen verstand. Die estnische Regierung könnte natürlich nun sowohl mit einer lückenlosen Aufklärung von eventuell unverhältnismäßigen Reaktionen der Polizei in der „Bronzenacht“ wie auch einem fairen prozeß ihre Rechtsstaatlichkeit unter Beweis stellen.

Samstag, 2. Februar 2008

Hausmitteilung: Das Label Archiv

Erklärung für das Label "Archiv" bei einigen Posts:
Ende der 90er Jahre habe ich für deutsche Zeitungen Artikel über die baltischen Staaten geschrieben, die allerdings nicht alle publiziert wurden. Bei der Durchsicht dieser alten Texte habe ich einige entdeckt, die auch heute noch eventuell für den ein oder anderen Leser interessant sind.
Bereits vorher habe ich in Deutschland ebenfalls für die Presse geschrieben. Eingige weitere Texte stammen auch aus dieser Zeit.

Synonym für sowjetischen Nachlaß

Sillamäe steht in Estland für radioaktiven Müll und russische Migranten
Sillamäe, im Februar 1997. – Die 20.000 Einwohner zählende Stadt im Nordosten Estlands ist selbst für Esten „terra incognita“. Der von den Sowjets aus dem Boden gestampfte Ort gilt dem Baltenvolk als Inbegriff für Unwirtlichkeit. Ein Besuch zeigt, daß sich daran auch vermutlich so schnell nichts ändern wird.
„Was, nach Sillamäe wollen sie?!“ Das ist die meistgehörte Reaktion, weiht man Esten in solche Reisepläne ein. Oft fügen sie noch hinzu: „Da war ich noch nie, und da möchte ich auch gar nicht hin.“ Mit solch negativen Assoziationen kann sonst nur der ehemalige sowjetische Marinestützpunkt Paldiski konkurrieren. Was ist an Sillamäe so ungewöhnlich, daß selbst Einheimische auf die bloße Erwähnung reagieren, als läge diese Stadt noch hinter dem Ende der Welt?

Privilegierte Sowjetsiedlung
Auf den ersten Blick ist kaum ein optischer Unterschied zu anderen Orten fernab des politischen und wirtschaftlichen Zentrums Tallinn auszumachen. In Sillamäe leben die meisten Menschen in den gleichen nackt anmutenden Wohnblöcken wie in den zu Sowjetzeiten errichteten Schlafstädten, welche auch die Hauptstadt Estlands umgeben. Die Häuser wurden nie verputzt, man kann sogar die Fensterstürze sehen. Doch auch der ältere Teil der Stadt ist unestnisch, so weit das Auge reicht gibt es keines der charakteristischen Holzhäuser.
Die Sowjets haben hier nach dem Krieg an Stelle des kleinen Kurortes, den auch Tschaikowsky gerne besuchte, eine Industriestadt ganz im stalinistischen Zuckerbäckerstil errichtet, die im Unterschied zu den großen Protzbauten anderswo großenteils lauter schnuckelige zweistöckige Wohnhäuser sind. Die Einwohner aus der ganzen Sowjetunion zuzogen. Ebenso wie in den benachbarten Städten Narva, Jõhvi und Kohtla-Järve leben in Sillamäe auch heute noch vorwiegend Russen.
Zu Sowjetzeiten war die Stadt geschlossen. Fremde hatten keinen Zutritt und nicht etwa nur Ausländer. Sogar die Landstraße von Tallinn nach St. Petersburg machte an dieser Stelle einen mehrere Kilometer betragenden Umweg. Grund dafür war das große Werk am Rande der Stadt, in dem unter höchster Geheimhaltung radioaktives Material für die Militärs produziert wurde. Was hier geschah, wurde nicht einmal in den offiziellen Statistiken der estnischen Teilrepublik geführt. Man erzählt sich noch heute, damals sei die Versorgungslage hier besser gewesen als in Moskau. „Sillamäe war ein Staat im Staate mit herausragenden Privilegien“, erklärt der stellvertretende Bürgermeister Valdek Murd.
Das ist aber nur die praktische Ursache, warum die meisten Esten noch nie in dieser Stadt gewesen sind. Heute ist der Zutritt schließlich nicht mehr verboten.

Hypothek für die Umwelt
Unweit der Ostseeküste, an der sich Sillamäe über rund vier Kilometer erstreckt, befindet sich unter freiem Himmel eine Deponie. Das dort gelagerte radioaktive Material droht aufgrund der geringen Entfernung von nur rund zehn Metern die Finnische Bucht zu verseuchen. Als „hinreichend gefährlich“ bezeichnet auch Neeme Jõgi aus der Chefetage das Problem. Die Deponie muß ständig feucht gehalten werden, damit der Wind den Staub nicht ins Meer weht. Aus diesen Gründen wird seit Jahren über Möglichkeiten der Entsorgung und Sanierung diskutiert. Auch deutsche Firmen haben Sillamäe oft besucht.
Silmet heißt das seit etwa einem Jahr privatisierte Sorgenkind heute, welches die Sillamäer nach wie vor nur liebevoll „das Werk“ nennen. Der einzige Stadtbus fährt jeweils zu den Schichtwechseln einmal durch die gesamte Stadt – bis zum Werk.
Der Betrieb verarbeitet heute Buntmetalle. Er ist zwar aus dem Gröbsten noch nicht raus, Entlassungen wurden gerade jüngst wieder angekündigt. Aber das, was da aus alten Zeiten da noch lagert, ist nach Berichten estnischer Zeitungen etwas wert, könnte man es nur ins Ausland verkaufen. So sorgt Silmet nach wie vor regelmäßig für Schlagzeilen in der Presse und wird den Schatten der Geheimniskrämerei nicht recht los, obwohl die neue Führung offenherzig Auskunft gibt.

Wirtschaftlicher Niedergang
Die Aktiengesellschaft muß gleichzeitig natürlich auch die Rolle des größten Hoffnungsträgers übernehmen, mangelt es doch sonst in Sillamäe an Arbeitgebern. Silmet ist dabei in Estland ein Unikum, wie Neeme Jõgi meint, weil die gesamte Produktion in den Export geht. Buntmetall wird nach Rußland, Japan, in die USA und in geringeren Mengen nach Europa geliefert. Österreich ist ein Kunde. Verwendung findet das Silmet-Angebot in der Automobilindustrie, der Medizin und bei der Herstellung von Golfschlägern.
Aber das ist noch nicht alles. Typisch für die Sowjetwirtschaft war die fehlende Arbeitsteilung. Große Betriebe haben schließlich auch ihre eigenen Dienstleister unterhalten. Die neuen Eigentümer vom Silmet haben die Firma jetzt in fünf Einzelteile aufgespalten. Die Metallproduktion als eigentlicher Zweig steht so neben dem Betrieb des Heizwerk und einer extra Verwaltung für die Liegenschaften. Die Fernheizung ist einstweilen die einzige in der Stadt. Hauseigene Gas- oder Ölbrenner waren in der Sowjetunion bei Mehrfamilienhäusern unüblich.
Sillamäe ist faktisch stark vom Schicksal des Werkes abhängig. „Wenn Silmet pleite geht, ist das für die Stadt eine Katastrophe“, sagt Murd und spielt auf das Schicksal der benachbarten Ortschaft Oru an, wo unlängst ein Torfwerk geschlossen wurde und seither buchstäblich nichts mehr läuft. Er könne die Sorgen der Bevölkerung verstehen, die während der letzten Jahre einen extremen Fall erleben mußte. Silmet hofft nach Jõgis Worten auf die Einrichtungen eines Freihafens für die Verladung von Öl, der nahe genug an Rußland ist und bessere Navigationsmöglichkeiten bietet als russische Häfen. (Anmerkung: Dieser existiert inzwischen).
Als Unterstützung für die Entwicklung in Sillamäe gründete der russische Jude Hanon Barabaner 1993 das College für Ökologie und Technologie. Er selbst weilt jedoch meist in Tallinn, wo bald darauf eine zweite Filiale dieser privaten Bildungseinrichtung etabliert wurde. Die ständige Fluktuation der Lehrkräfte und eine technische Ausrüstung, die sich weitgehend auf die elektrische Beleuchtung beschränkt, sorgten für einen negativen Ruf. Barabaner habe das College nur zum Geld verdienen eingerichtet, heißt es. Daß ohne Veränderungen des Lehrplans, wie versichert wird, der Name kürzlich in Sillamäer Institut für Wirtschaft und Führung geändert wurde, wird das Vertrauen nicht erhöhen. Dennoch, die Zahl der Anmeldungen steigt jährlich. Es gibt eben in Sillamäe nichts anderes.

Streitbare Staatsbürgerschaft
„Ich bin nur ein einfacher Mann“, pflegte Aleksander Kuklov, ein vor mehr als zehn Jahren aus dem damaligen Sverdlowsk, heute Jekaterinburg, zugewanderter Trainer und Deutschlehrer zu sagen, wenn es um seinen Status in Estland geht. „Ich habe überhaupt keine Papiere“, beschwerte er sich unisono mit vielen seiner Landsleute. Daraus sprach die Erfahrung des russischen Volkes, daß die Regierung sowieso über ihre Köpfe hinweg entscheidet. Kuklov glaubte nicht, daß sich seine Lage eines Tages bessern würde und spekulierte sogar mit der Auswanderung nach Polen.
In der Tat mußten die Einwohner Estlands ohne Anspruch auf einen estnischen Paß nach der Unabhängigkeit 1991 lange Zeit für jede Auslandsreise immer wieder ein neues Dokument beantragen, daß für die Rückreise beinahe wichtiger war als beim Verlassen des Landes. „Das ist unsere neue Demokratie“, war ein beliebter Kommentar.
Kuklov hat Erfahrung. Über Jahre war er in Sillamäe die anerkannte Kapazität für das Deutsche, führt die zahlreicher werdenden Ausländer in der Stadt herum, hilft den zur Emigration bereiten Rußlanddeutschen bei Übersetzungen und macht sich als Übersetzer bei Reisen ins deutschsprachige Ausland nützlich. Seit die estnischen Behörden es aber nun geschafft haben, die lange angekündigten Ausländerpässe auszustellen, macht auch Kuklov ein zufriedenes Gesicht.
Auch wenn diese Probleme nur selten für Schlagzeilen sorgen, überraschten jüngst Untersuchungen der Universität Tartu mit einer mehrheitliche Zustimmung zur Unabhängigkeit Estlands ebenso wie zum Übergang zur Marktwirtschaft unter den Russen in Sillamäe und Umgebung. Gegenwärtig sind rund 3.500 Sillamäer estnische Staatsbürger. Das sind 20 Prozent der Bevölkerung, keine geringe Zahl bei Berücksichtigung eines Anteils von rund vier Prozent ethnischen Esten. Andererseits haben sich immerhin 31 Prozent für einen russischen Paß entschieden. Rund die Hälfte der Einwohner sind weiterhin staatenlos.
Für den Erwerb eines estnischen Passes muß unter anderem eine Prüfung in der estnischen Sprache abgelegt werden. Diese beherrschen nach eigenen Angaben in Sillamäe fließend gerade einmal drei Prozent, 60 dagegen sprechen kein Wort. In diesem faktischen Ghetto russischer Migranten bleibt ein Fortschritt natürlich schwierig. Zufrieden berichtet der stellvertretende Bürgermeister Murd trotzdem, daß jetzt viele junge Leute fleißig Estnisch lernen, weil sie an estnischen Hochschulen studieren wollen. Im vergangenen Sommer gab es sogar mehrere Sprach-Lager für Kinder.

Politischer Poker
Die Probleme mit der Wirtschaft und der Staatsangehörigkeit finden ihre Entsprechung in der Konstellation der örtlichen politischen Kräfte. Im Stadtrat gibt es zwei Fraktionen von elf und zehn Abgeordneten - „Es lebe Sillamäe“ und „Vereinigung“. Letztere steht den Esten nahe. Der frühere Silmet-Chef, Priit Saksing, war ebenfalls Vorsitzender des Stadtparlamentes.
Der 1996 ins Amt gekommene Bürgermeister, Sergej Sobolew sprach zwar fließend estnisch, konnte aber leider inhaltlich nicht mehr anbieten als zu predigen, daß man Estnisch lernen müsse. So urteilte nach einem Besuch der in Estland bekannte russische Fernsehjournalist Aleksander Zukerman.
Nach den Lokalwahlen Anfang 1997 wurde er zwar zunächst in seinem Amt bestätigt. Doch dann ereilte ihn das Schicksal seines Vorgängers, er wurde im Spätsommer über Nacht einfach abgewählt. Anschließend kam es zu einem monatelangen Interregnum, denn auch Saksing mußte wegen eines Skandals um die Entlassung einer Dezernentin zurücktreten. Die Stadt blieb vollständig führungslos.
Ab dem 24. September vertrat Valdek Murd, eigentlich für Sozialfragen zuständig, das vakante Bürgermeisteramt, in das er jedoch nicht gewählt werden wollte: „Jeder muß wissen, was sein Gebiet ist“, sagte der erst neun Monaten zuvor aus dem benachbarten Kohtla-Järve zugezogene Mann, der dort dasselbe Amt schon fünf Jahre inne hatte. Der unter Sobolew als Sekretär tätige Sergej Sonow widerspricht. „Natürlich wollte Murd Bürgermeister werden, doch er hatte nicht einmal die Macht, sich als Kandidat aufstellen zu lassen.“
Sonow macht Kräfte in der Hauptstadt für die politischen Spiele in Sillamäe verantwortlich. Er folgt damit einer weit verbreiteten Ansicht, daß es immer irgendwo höhere Mächte gibt. Murd charakterisiert seinerseits die Beziehungen zu Tallinn als schwierig. Mag der Versuch einer Einflußnahme auf die Postenverteilung auch plausibel sein, herrscht in der Hauptstadt sonst wohl eher Desinteresse, was die ganze Region betrifft. Immerhin konnte Ministerpräsident Mart Siimann sich am 9. Juni 1997 zu einem eintägigen Besuch in Sillamäe mit einer hochkarätigen Delegation in seiner Gefolgschaft durchringen, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Daß er etwas bewegt hätte, war jedoch nicht zu erfahren.
Da die Sillamäer Abgeordneten offensichtlich zu einer stringenten Politik nicht zu bewegen sind, stellt sich damit natürlich die Frage, wie mächtig diese Kreise in Tallinn wirklich sind. Vor wenigen Tagen wurde nun ein ehemaliger Bürgermeister der estnischen Hauptstadt auf den Sessel des Landrat gehievt. Das politische Spiel dürfte damit noch nicht beendet sein, da stimmt auch Sonow lebhaft zu.

Was ist schon normal?
Ergänzen möchte ich diesen Text mit einigen Absätzen, die in einem anderen Zusammenhang verfaßt wurden. Hier werden die Erfahrungen eines Westdeutschen in den ersten Wochen des Aufenthalts in Sillamäe wiedergegeben, was damals doch alles eher exotisch als normal wirkte.
Als während der kalten Wintermonate das russischsprachige Wochenblatt День за Днем den in Estland bekannten russischen Journalisten Aleksander Zukerman nach Sillamäe schickte, war dieser am Busbahnhof äußerst verwundert. Er fragte einen von zwei in Sillamäe lebenden Ausländern nach dem Weg und traf also in der vormals gesperrten Stadt als aller erstes jemanden, der kein Russisch versteht. Dies wurde später auch der Aufmacher des Artikels.
Zukerman mußte sich im einzigen Hotel der Stadt zu dem völlig überhöhten Preis von immerhin 30 Dollar pro Nacht ein Zimmer mieten. Damit aber nicht genug. Der aus dem Kaukasus stammende Eigentümer dieses Etablissements hatte das Café des Hauses zwar bereits adrett herrichten lassen, nicht jedoch die Zimmer – was nicht verwundert, hält sich doch die Zahl der Übernachtungen in Grenzen. Überraschend hingegen war für die Gäste aus Tallinn und Deutschland die anschließende Verweigerung des Personals, den Journalisten in ihrem renovierten Restaurant speisen zu lassen. Ein fein den estnischen Gesetzen entsprechendes Schildchen wies in estnischer Sprache auf den Grund hin: „reserveeritud“.
Der Hotelgast mußte erst deutliche Worte finden, um sich Einlaß zu verschaffen. Auf die Frage, wo er sonst in Sillamäe essen sollte, wußten die freundlichen Mitarbeiter nämlich auch keine rechte Antwort (es sei erwähnt, daß es damals nur noch zwei weitere Cafés in der Stadt gab). Nach diesem Erlebnis staunten die Besucher auch nicht mehr, als sie die Hälfte der Tische im angeblich voll besetzten Café verwaist vorfanden. Ähnlich reagierte man, als die Kellnerin den „willkommenen“ Gästen Pommes Frites servierte, obwohl sie den Hinzugestoßenen erst zwei Minuten vorher erklärt hatte, es gäbe an diesem Abend leider keine Pommes Frites mehr. In Deutschland würde der Gast ein solches Verhalten schlicht als unverschämt einstufen, doch in Sillamäe muß das keineswegs heißen, daß die Kellnerin eine persönliche Rechnung mit dem Gast zu begleichen hat. Sie reagiert deshalb auf bissige Kommentare nicht verärgert, sondern nur mit einem Achselzucken.
Genau die gleiche Reaktion zeigte ein „Handwerker“, der bei dem Versuch, ein Antennenkabel zu installieren, feststellte, daß er zwar den Lötkolben dabei hat, um den Stecker am Kabelende zu befestigen, nicht jedoch einen Schraubendreher, um das Gehäuse zu öffnen. Ähnlich hilflos stand der arme Mann Stunden später vor dem Verteilerkasten im Treppenhaus, welchem man schon von weitem ansah, daß andere vorher ihr Problem mit Gewalt zu lösen versucht hatten. Da es offensichtlich keinen die Schlüssel verwaltenden Hausmeister gab oder der Handwerker lieber eine halbe Stunde geräuschvoll diverse Öffnungsmethoden ausprobierte, hieß es Warten bis die rettende Idee kam: einfach die Scharniere aufzubiegen. Bleibt noch zu erwähnen, daß der hilfsbereite Mann immerhin sofort erschienen war und auch so lange blieb, bis er das Problem gelöst hatte.
Die Einheimischen selbst sind es, die unter diesen Umständen tagtäglich lebend die nōtige Geduld in irrationalem Wechsel einmal aufbringen und dann wieder nicht. Als Aufmerksamkeit des Hauses steht auf der Theke der nicht zur Selbstbedienung konzipierten Mensa des Sillamäe‘er Colleges, die übrigens von einem Subunternehmer bewirtschaftet wird, ein Glöckchen, um die freundliche Mitarbeiterin herbeizurufen, wenn sie sich gerade in der Küche aufhält. Man möchte glauben, ein einmaliges deutliches Zeichen dürfte genügen, um sich bemerkbar zu machen. Doch den meisten Gästen reicht das nicht, obwohl oder trotzdem die Dame sich selbst von penetrantem Klingeln zu keinem bösen Wort hinreißen läßt und statt dessen in geübter Ruhe die Wünsche der Kunden erfüllt. Die könnte man freilich böswillig auch als Zeitlupe bezeichnen.
Vielleicht ist diese Ungeduld auch nur ein Resultat des langen Wartens vor der Tür. Denn selbst wenn das gigantisch große Vorhängeschloß außen verschwunden ist, also schon jemand in der Mensa anwesend ist, bedeutet das noch lange nicht, daß die Hungrigen, Öffnungszeiten hin oder her, bereits Zutritt haben. Der Einfachheit halber enthält der Chef des Hauses die sich natürlich ständig ändernden Öffnungszeiten der Öffentlichkeit meist vor. Ist die Tür einmal offen, steht der Ausschank unmittelbar bevor, doch wie sollte es anders sein, auch das ist eine relative Größe, weil die Dame hinter der Theke mit einnehmendem Lächeln um eine Minute bittet, und das wird nun wieder ohne Klingeln und Meckern akzeptiert.
Manche Menschen in dieser Stadt werden übrigens nicht müde zu erwähnen, daß zu Sowjetzeiten alles besser gewesen sei, damals habe noch Ordnung geherrscht. Die anderen sagen einfach: „Das ist normal“. Und das ist es hier in der Tat.

Lob für jene, die lachen können und manchmal auch weinen müssen

Im Frühjahr und Sommer 1995 arbeitete ich beim inzwischen schon lange nicht mehr existierenden Zwickauer Tageblatt. Über bedeutende Ereignisse war in der Provinz selten zu berichten und für Kultur interessierten sich meistens die Kolleginnen der Redaktion. Im Mai 1995 gab es jedoch die Ausnahme, daß ich die Liedermacherin Bettina Wegner persönlich kennelernen durfte.

In diesen Tagen tourt die 1983 aus der DDR ausgebürgerte Liedermacherin Bettina Wegner durch Sachsen.
„Ich hoffe, daß es ein schönes Konzert wird, wünschte sich Bettina Wegner wenige Minuten vor Ihrem Auftritt und rauchte hinter der Bühne noch schnell eine Zigarette. Mit den Jahren werde sie immer aufgeregter vor jedem Konzert, klagte sie.
Um ein wenig von ihr zu erfahren, bedarf es gar nicht eines langen Gespräches. Die Texte der Liedermacherin sind persönliche und sprechen eine klare Sprache. Sie handeln von Ihrem bewegten Leben, erst in der DDR, von der Ausbürgerung und dem Fußfassen im Westen bis hin zu ihren Erlebnissen im Osten nach der Wende: Gleich nach dem Mauerfall, noch vor der Währungsunion, hatte sie wieder in der Noch-DDR gespielt. „Wir wußten nicht, was mir mit dem Geld machen sollten“, lacht Bettina Wegner. Es wurde dann eine Weile „aufgehoben“.
Über das Publikum Im Osten stellte sie fest, daß es noch ein wenig familiärer zugeht. Das weckt alte Erinnerungen, „wir kommen eben doch aus dem gleichen Ei“, sagt die Liedermacherin. Trotzdem hat sie den Eindruck daß die Menschen verwirrt sind. Erfreut und überrascht berichtet sie: „Es kommen ganz junge Leute, die mich auf der Bühne nie gesehen haben können.“ Und das stimmt auch. Im Publikum sitzen wenige Zuhörer, die ihrer Generation angehören, die meisten könnten Ihre Kinder sein.
Gleich das erste Lied handelte von ihrer Ankunft im Westen, von den Menschen die fragten „Wie geht ’s dir?“. Noch ehe die Antwort kommen konnte, wurde dieselbe Frage schon dem nächsten gestellt. „Es war nicht ehrlich gemeint“. Um so mehr setzt Bettina Wagner auf Ehrlichkeit. Als sie wegen der Probleme Ihres Sohnes in die Schule bestellt wurde, war sie entsetzt. Die Lehrer beklagten, daß der junge lache, wenn er sich freue und weine, wenn er traurig sei. Das verwirre die anderen Kinder. Bettina Wegner lobte ihren Sohn und dichtete ein Lied. „Wer nicht leiden kann, ist tot“, heißt es darin treffend. Trotzdem habe sie auch im Westen liebe Freunde gefunden. „Die haben die gleichen blauen Flecken wie ich“.
Bettina Wegner hat in den zwölf Jahren nach ihrer Ausbürgerung aus der DDR treffende Texte über die westdeutsche Gesellschaft verfaßt und nicht vor einem Bruch mit zwei Plattenfirmen zurückgeschreckt, die ihre Inhalte beeinflussen wollen. Hits sollten es mal wieder sein. „Ich will mich nicht verkohlen lassen, das wollte ich schon da nicht, wo kein Platz für mich war“. Im wesentlichen sei sie die gleiche geblieben, im Westen wie im Osten. Als der neue Verlag den im Ärger geschriebenen Song nicht auf Ihrer neuen Platte veröffentlichen wollte, gab ‘s schon wieder Ärger.
Zur Zeit, erzählte die Berlinerin, gibt es im Westen ungefähr doppelt so viele Konzerte wie im Osten. Das liegt aber nicht daran, daß sie in der früheren DDR weniger gerne auftritt. Der Kontakt zu den Veranstaltern ist im Westen einfach besser, besonders seit Ihrer Zusammenarbeit mit dem aus Hessen stammenden Schriftsteller Rainer Lindner, der auch in Zwickau mit von der Partie war. Seit 1985 treten beide gemeinsam auf.
Bettina Wegners früherer Begleiter, der Münchner Gitarrist Peter Maler avancierte in den letzten Jahren zum gefragten Solomusiker und mußte seine Arbeit mit der Berliner Sängerin deshalb beenden. Die Liedermacherin tourt seitdem mit ihrem Berliner Kollegen Stefan Körbel. Auch er gab im Pestalozzi-Gymnasium eine Kostprobe seiner Kompositionen.
Die Berlinerin überraschte das Publikum schließlich als sie eine Lanze für die Volksmusik brach und das deutsche Liedgut klar gegen die sogenannte volkstümliche Musik abgrenzte. „Wenn ich ein Vöglein wär’“ findet sich auch auf Ihrer CD „Sie hat ‘s gewußt“.
Nachdem Bettina Wegner das bekannte ergreifende Lied von den „kleinen Händen“ gesungen hatte, das auch nach so vielen Jahren immer noch brandaktuell ist, gab es noch eine Zugabe. Ohne Begleitung mit der Gitarre kam ihre melodietragende Stimme mit einem Roma-Lied voll zur Geltung. Es entstammt dem Programm, das sie mit einer Gruppe von Künstlern in Asylbewerberheimen zum besten gibt.

Der Mob und das Pandämonium


Ein ganz normaler Tag an der Uni
Wo man hinschaut Tabletts mit Geschirr und Verpackungsabfall aus der Cafeteria, hunderte Zigarettenkippen auf der Treppe vor der Bibliothek und zerrissene, wenn überhaupt vorhandene Zeitungen in der Leseecke. Dieses Bild bietet sich den Besucherinnen und Besuchern an einem ganz gewöhnlichen Tag in der Universität – sogar in den Semesterferien.
Viele Studierende der 90er Jahre machen sich offenbar keine Gedanken darüber, von wem ihr Abfall am Abend beseitigt wird. Obwohl unzählige Mülleimer vorhanden sind, wird der Unrat häufig achtlos neben den Tonnen „entsorgt“.
Es kommt aber noch schlimmer, denn all dies geschieht oftmals keineswegs „aus Versehen“, wie das folgende Beispiel belegt. Wider Erwarten auf das Vergehen angesprochen: „willst du das nicht in den Mülleimer schmeißen?“, reagiert der Übeltäter auch noch frech: „Nein, will ich nicht, ich wollte das da auf den Stuhl schmeißen.“ (Personen und Handlungen dieser Episode sind nicht frei erfunden.)
Die Liste derartiger ,,Kavaliersdelikte“ ließe sich beliebig erweitern. Es interessiert nicht, welche Konsequenzen das eigene Handeln für Kommilitonen und Unipersonal hat. Wichtig ist einzig und allein, daß die Einzelnen ihr Schäflein ins Trockene bringen und zwar auf dem bequemsten Wege. Angesichts der chronischen Überlastung der Hochschulen ist ein solches Verhalten eigentlich alles andere als gefragt.

Klassendenken statt Solidarität
Die gegenwärtigen Studierendengeneration bemängelt beispielsweise, daß die Universität zu voll ist, man gibt in Fragebögen wissenschaftlicher Untersuchungen gar an, darunter zu leiden. Doch andererseits wird dies durch das alltägliche, extrem egoistische Verhalten noch verschlimmert. Der Einzelne entwickelt eine ,,Das-ist-meins-Mentalität“, nach der für die Allgemeinheit bestimmte Gegenstände wie Bücher, Kopierer, Drucker und so weiter, einmal ergattert, in Beschlag genommen werden. Selbst wenn es Stunden dauert und die Schlange der Wartenden wächst, kommt keinem der Gedanke, für kürzere Geschäfte einmal zurückzustehen.
Kaum ist man fertig, verwandelt sich die Einstellung freilich ins genaue Gegenteil. Für das Wegräumen der Bücher nach dem Kopieren beispielsweise oder das simple Zurückstellen der Kaffeetasse fühlt sich die BenutzerIn dann nicht mehr verantwortlich. Das soll das „Personal“ erledigen. Die Angestellten der Bibliothek und der Cafeteria sind aber allein schon wegen des Massenansturms überlastet.
Statt wie früher die Studierenden durch Hinweisschilder vom eigenhändigen Rückstellen der Bücher abzuhalten, muß die Bibliothek seit vergangenem Jahr auf die Kooperationsbereitschaft ihrer Nutzer und Nutzerinnen vertrauen. Heute fordern die gelben Tafeln daher zum Abräumen auf. Diese Hinweise werden jedoch derart beharrlich ignoriert, daß man meinen könnte, die Studierenden seien des Lesens gar nicht mächtig.
Nicht besser ist der Zustand der außerhalb der Bibliothek aufgestellten und damit der Aufsicht entzogenen Zeitungen. Selbst der inzwischen über den Bänken montierte offizielle rügende Hinweis, daß der ,,derzeitige Zustand nicht akzeptabel“ sei, schindet nicht genug Eindruck bei den LeserInnen, als daß Diebstahl und Vandalismus abnähmen.
Die gleiche Arroganz legen die Studierenden an den Tag, wenn es darum geht, ihre durch die halbe Universität getragenen Tabletts aus der Cafeteria dorthin zurückzubringen oder ihre Zigaretten im Aschenbecher zu löschen und ihre Plastikbecher und Schokoriegelpapierchen in die Mülltonne zu werfen.
Die Ursachen dieser Mentalität sind nicht ausschließlich in der allgegenwärtigen Überfüllung der Universität zu suchen. Die Erstsemester bringen diese Einstellung schon aus der Schule mit, wo ihnen früh vermittelt wurde, daß der Banknachbar ein potentieller Konkurrent ist.

What is this and what the hell is it doing in here?!
Die Entscheidung über den Beruf fällt dann in der Regel nach einem der folgenden Muster: Entweder man schreibt sich für erfolgversprechende Modefächer wie Betriebswirtschaft oder Jura ein, die nicht unbedingt das Traumfach sein müssen, aber dafür eine berufliche Zukunft mit hohem Einkommen und Prestige versprechen. Oder es wird dasselbe studiert wie schon die Eltern, weil es für viele die einfachste und von zu Hause am ehesten unterstützte Wahl ist.
Wieder andere immatrikulieren sich erst einmal für ein x-beliebiges Fach, um „drin“ zu sein und orientieren sich dann erst. In diesem Fall dient das Studium also als Beschäftigungstherapie, die häufig mangels anderer aussichtsreicher Ausbildungs- oder Berufsmöglichkeiten mitunter nur nach langem Zögern gewählt wird. Dies hat jüngst auch eine Studie des Konstanzer Sozialwissenschaftlers Hansgert Peisert ergeben. Die Attraktivität des Studiums hat darum in den vergangenen Jahren trotz schlechterer Rahmenbedingungen nicht gelitten.
Die gegenwärtige Misere der deutschen Hochschulen ist auch auf die Bildungspolitik der Sozialdemokraten in den 70er Jahren zurückzuführen. Damals wollte man allen das Abitur ermöglichen und dadurch die Universitäten für alle Bevölkerungsschichten öffnen. Mit einer Verbesserung der Chancengleichheit für den Nachwuchs einkommensschwacher Familien ging zugleich eine starke Zunahme der Immatrikulationen insgesamt einher. Ein Grund dafür ist das ungleich höhere Prestige eines Hochschulstudiums im Vergleich mit einer Ausbildung.
Die Früchte ernteten die Schüler und Schülerinnen der 80er Jahre, für die das Abitur immer stärker zum wichtigen Kriterium für eine berufliche Karriere gleich welcher Art wurde. Dieser Zustand hat. entgegen der ursprünglichen Intention, das Klassendenken sogar noch verstärkt. Die Generation der Studierenden der 90er Jahre hat nichts anderes kennengelernt.
So entsteht ein Teufelskreis, der die beobachteten Verhaltensweisen nach sich zieht. Einmal auf den Geschmack gekommen, lehnen die Studierenden nämlich eine verstärkte Öffnung der Universität ab, sind jedoch auch gegen Verschärfungen und Studienzeitverkürzungen, so die erwähnte Studie. Mit anderen Worten: Sie sind für den Status Quo, weil sie, einmal im Unibetrieb, selbst davon profitieren.

,,Geklonte“ Kinder der 68er
Gleichzeitig konstatiert die Konstanzer Untersuchung eine verstärkte materialistische Grundeinstellung der Studierenden. Einerseits stöhnen alle über die hohen Mieten, andererseits ist es aber für viele (zum Glück bei weitem nicht alle) offenbar kein Problem, gleichzeitig ein vergleichsweise teures Auto zu unterhalten. Von Ausgaben für (repräsentative) Kleidung und Reisen ganz zu schweigen.
Auch dies lehrt, daß von der ursprünglichen Intention der Öffnung der Universitäten nicht viel geblieben ist, schließlich hat sich die Unterstützung durch den Staat (BAföG) in den letzten elf Jahren alles andere als verbessert.
Sind die Kinder der 68er, aufgewachsen während der geistig-moralischen Wende, alle „geklonte“ Studierende, die, uniform ausstaffiert und denselben Leidenschaften frönend, dasselbe Ziel anstreben nämlich möglichst schnell möglichst viel Geld zu verdienen, um den ohnehin hohen Lebensstandard noch steigern zu können? Ist in den 90ern statt Selbstverwirklichung und persönlicher Entfaltung wie in den 70ern nur Luxus angesagt? Dies wäre vor allem insofern erschreckend, als die Studierenden von Heute die gesellschaftliche „Elite“ von Morgen sein wollen.