Freitag, 28. November 2008

Mann über Bord!

Das ist kein Witz. Ein junger Mann aus Lettland ist tasächlich vor wenigen Tagen gegen 22 Uhr vom Deck der Fähre Stockholm – Riga in die Ostsee gestürtzt.

Nach bisherigen Kenntnissen hatte eine Gruppe von zehn bis 15 Freunden die Reise von Riga nach Stockholm angetreten. Das Schiff verläßt Riga am späten Nachmittag und benötigt die ganze Nacht, um am nächsten Morgen sein Ziel zu erreichen.

Nach Zeugenangaben haben die jungen Leute bereits während der Überfahrt nach Schweden Alkohol getrunken und durch ihr Verhalten den Eingriff des Sicherheitsdienstes provoziert. Am Ziel angekommen war die Gruppe dann bereits nicht mehr in der Lage, die Fähre für einen Besuch der schwedischen Hauptstadt zu verlassen.

Gegen 18 Uhr legt das Schiff dann abends wieder ab und fährt die Nacht über zurück nach Riga. Etwa vier Stunden nach der Abfahrt wurden dann die Passagiere über Lautsprecher informiert, daß eine Person über Bord gefallen sei.

Der Kaitän begann unmittelbar nach dem Vorfall mit der Suche nach dem Verunglückten und kreiste meherer Stunden an Ort und Stelle. Zwei weitere Schiffe wie auch der Rettungsdienst in Götenburg unterstützten die Versuche. Zwei Hubschrauber waren im Einsatz.

Nachdem der junge Mann aus der Höhe eines ungefähr vierstöckiges Hauses ins Meer gestürzt war, waren nach Zeugenberichten einige Freunde entsetzt und weinten, während andere offensichtlich zu alkoholisiert waren, um den Vorfall überhaupt zu begreifen. Sie amüsiert sich. Einige riefen, er solle durchhalten, er werde gerettet. Es gelang jedoch nicht, den jungen Mann zu finden.

Gegenwärtig ist das Wasser etwa 7 Grad kalt. Ein Mensch überlebt bei dieser Temperatur höchstens 20 Minuten.

Samstag, 22. November 2008

Russischer 007 in Estland

Am 21. September wurde in Tallinn Herman Simm (61), ein Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums, gemeinsam mit seiner Frau Heete als mutmaßliche Agenten des russischen Geheimdienstes verhaftet.

Die Affäre ist für die estnischen Behörden so pikant, daß kaum Informationen an die Öffentlichkeit dringen und nur stückweise bekannt wird, welchen Schaden dem Land und dem Verteidigungsbündnis durch Simm konkret entstanden ist. Das Ehepaar Simm und seine Anwälte wie auch die NATO selbst schweigen ebenfalls anfangs. Simm behauptet jetzt, er sei von den Russen unter Druck gesetzt worden und darum den Weg des geringeren Widerstandes gegangen.

Simm hatte bereits in den 80er Jahren Kontakt mit dem KGB aufgenommen, als im Baltikum die Proteste gegen die Sowjetherrschaft begannen und es als möglich erschien, daß die baltischen Staaten aus dem Staatsverband der Sowjetunion herausgelöst würden. Der russische Geheimdienst hat Simm offensichtlich als Schläfer bewahrt.

Simm machte in Estland nach der Unabhängigkeit zügig Karriere. 1994 wurde er Chef der Polizei, wo Heete Simm früher als Anwältin arbeitete, und wechselte später ins Verteidigungsministerium, wo er für die Koordination mit NATO und EU zuständig war. Simm hatte folglich Zugang zu allen geheimen Dokumenten, die zwischen den Hauptstädten der beteiligten Staaten kursieren. In den vergangenen Monaten betraf dies insbesondere Informationen über den Kosovo, Afghanistan und Georgien.

Seit September geben sich Delegationen von NATO und EU in Tallinn die Klinke in die Hand, um herauszufinden, was genau Simm den Russen übermittelt hat. Der Direktor des NATO Office of Security (NOS), Michael Turner Evanoff, leitet die Untersuchungen und bestätigt das enorme Ausmaß des Verrates. Ein Vertreter der deutschen Regierung spricht von einer Katastrophe, und der estnische Abgeordnete Jaanus Rahumägi, der dem Kontrollausschuß der Geheimdienste vorsitzt, bezeichnet den Vorfall als historischen Schaden. Auch die NATO in Brüssel verlautbart, Simm sei das größte Leck seit dem Ende des kalten Krieges.

Die Presse amüsiert derweil, daß Simm ein altes umgebautes Kofferradio für die Kommunikation mit seinen Kontaktpersonen benutzte, das an längst vergangene Zeiten erinnert. Auch handelte es sich wie während des Kalten Krieges um ein spionierendes Ehepaar.

Simm wurde wahrscheinlich weniger aus ideologischen Gründen als des Geldes wegen zum Agent. Er erwarb in den letzten Jahren kostspielige Immobilien, ein Grundstück am Meer und eine Villa in Saue bei Tallinn, weshalb die Behörden schließlich auf ihn aufmerksam wurden. Als sich ein anderer Este, den der russische Geheimdienst anzuwerben versuchte, den Behörden anvertraute, flog Simm auf.

Die NATO versucht nun, die russischen Pläne zu entschlüsseln, weil man befürchtet, daß es durchaus weitere Lecks in Osteuropa geben könnte. In Brüssel geht man davon aus, daß der russische Geheimnis eine ganze Reihe von Simms in den baltischen Staaten unterhält.

Rußland hat zwar nun einen Spion verloren. Doch gleichzeitig kann Moskau Rache am Westen nehmen für die über Jahre abgelehnte Osterweiterung der NATO. Nach Ansicht von Spiegel online zeigt der Vorfall, wie verletztbar die NATO durch diesen politisch gewollten Schritt geworden ist. Möglicherweise unterminiert der Fall Simm auch das Vertrauen des Westens in die neuen Mitgliedstaaten, deren Zugang zu geheimen Dokumenten bislang den Kenntnissen in westlichen Hauptstädten entsprach.

Dies berichtet die estnische Tageszeitung Postimees unter Berufung auf Daily Telegraph, Daily Mail und Spiegel.

Freitag, 21. November 2008

Verfassung in schlechter Verfassung – Stellungskämpfe statt Politik

Ein Präsident wirbt um Sympathie
Valdis Zatlers wurde vor etwa anderthalb Jahren als Nachfolger der populären Vaira Vīķe-Freiberga und entgegen Volkes Willen ins Amt gewählt. Der Artz sei, so hieß es, bei einem Spitzentreffen der Koalitionspolitiker im Zoo ausgewählt worden – nicht aus dem Zoo freilich. Daß er nach der engagierten Vorgängering von den Regierungsparteien bewußt als bequemer Kandidat gedacht war, steht weitgehend außer Frgae. Zatler wurde weiterhin auch deshalb von der Öffentlichkeit belächelt, weil er bei Auftritten wie auch in Interviews mit inhaltslosen Allgemeinplätzen und Stlblüten glänzte wie: “Wer bin ich?”

Im September 2008 dann bestätigte Zatlers plötzlich nicht wie von der Koalition gewünscht, Vaira Paegle von der Volkspartei als neue Botschafterin bei der UNO. Die Betroffene ärgerte sich, das Land war verblüfft, aber eigentlich war dieser Schritt ohne große Bedeutung.

Das etwas im Lande nicht in Ordnung ist, hat Zatlers bereits vor einem Jahr verstanden. Nachdem die Regierung den Chef der Anti-Korruptionsbehörde absetzen wollte, kam es zu einer Manifestation auf dem Domplatz, die wegen des schlechten Wetters als Regenschirmrevolution in die jüngere Geschichte eingegangen ist. Das Volks skandierte: Parlamentsauflösung! Zatlers besucht die Veranstaltung überraschend und sagte: Liebe Mitbürger, erst einmal braucht ihr eine Losung. War der Mann taub?

Nein. Bei seiner Ansprache zum 90. Geburtstag des Republik Lettland mahnte Zatlers die Politiker, die Demokratie könnte durch eine Verfassungsänderung gefördert werden, welche dem Volk die Möglichkeit der Parlamentsauflösung zuerkennt. Die bisherigen Reaktionen demonstrierten Hochnäsigkeit gegenüber dem ausgesprochenen Willen des Volkes. Seit einiger Zeit hat Zatlers neue Berater und Redenschreiber.

Einstweilen kann nach der alten Verfassung von 1922 das Parlament nur aufgelöst werden, wenn der Präsident dies anregt und das Volk in einem Referendum zustimmt. Ein Referendum über das Recht des Volkes zur selbstständigen Initiative scheiterte im Sommer am verfehlten Quorum der Beteiligung – mindestens die Hälfte aller Wahlberechtigten.

Verfassung ändern oder nicht?
Im Unterausschuß des Rechtsausschusses, der mit der entsprechenden Neuregelung befaßt ist, kommt der Gesetzentwurf nicht voran. Regierungsparteien und Opposition straiten darüber, welches Quorum erforderlich sein soll, damit ein Referendum zur Parlamentsauflösung Geltung erlangt. Die Koalition pocht auf die Hälfte der Wahlberechtigten, wie es auch derzeit für Verfassungsänderungen erforderlich ist. Die Opposition kontert, dieses Quorum zu erreichen sei so schwierig, daß eine solche Volksinitative eine bloß formale Möglichkeit wäre. Sie verlangt, daß die Hälfte der Wahlbeteiligung der letzten Parlamentswahl ausreichen solle. Dies gilt auch derzeit bei Referenden über einfache Gesetze. Gestritten wird ebenso über die Änderung der Rechte des Präsidenten.

Die Abgeordneten der Regierungsparteien bremsen nach Auskunft der Ausschußvorsitzenden, Solvita Āboltiņa, von der oppositionellen Neuen Zeit die Arbeit des Ausschusses durch Abewesenheit, um die Beschlußfähigkeit zu unterlaufen. Selbst wenn die Angeordneten erschienen, käme keine Diskussion zustande, weil einige Fraktionen ihren Standpunkt noch nicht intern diskutiert hätten und die Volkspartei, die sich bereits eine Meinung gebildet habe, unter diesen Umständen ihre Position zu vertreten nicht bereit ist.

Es besteht kein Zweifel, daß die Regierungsparteien kein großes Interesse an einer schnellen Lösung dieser Frage haben. Und trotzdem prognostiziert die Volkspartei des abgetretenen Ministerpräsidenten Aigars Kalvītis nun, schon nächstes Jahr könne eine Verfassungsänderung verabschiedet werden. Das stünde Spekulationen über neue Bündnisse bis zur kommenden Wahl 2010 entgegen.

Der frühere Justizminister und Vertreter der konservativen Für Vaterland und Freheit, Dzintars Rasnačs, warnt vor übereilten Entscheidungen; in einer so wichtigen Frage müßten einheimische und internationale Verfassungsexperten gehört werden. Aboltiņa erwidert, nach einem Jahr Diskussion könne nicht von Eile gesprochen werden.

Der Vertreter der Ersten Partei / Lettlands Weg, Jānis Šmits, meinte, die 600.000 Bürger, die im Sommer Jahr für die Verfassungsänderung gestimmt hätten, seien noch nicht das Volk. Wie er das im Detail meint, ließ er offen. Immerhin ist das ein Viertel der lettischen Wohnbevölkerung vom Kleinkind bis zum Greis und eingerechnet der Einwohner, die nicht über die lettische Staatsbürgerschaft verfügen.

Der Präsident hat nach der Verfassung auch selbst das Recht zur Gesetzesinitiative, hätte also längst eine Verfassungsänderung einbringen können. Dies wäre die logische Reaktion auf seinen Auftritt bei der Manifestation 2007 gewesen. Davon hat Zatlers bislang keinen Gebrauch gemacht. Bisher also beschränkt sich seine Emazipation mehr auf Worte als auf Taten.

Unwägbarkeiten zwischen geltendem und zu schaffendem Recht
Āboltiņa meint, der Präsident dürfe nicht vergessen, daß Lettland eine parlamentarische und keine präsidentielle Republik sei, ihm also zunächst mehr representative Aufgaben zukämen, als der Eingriff in die alltägliche Politik.

Das angejährte Gesetzeswerk macht aus dem Regierungssystem tatsächlich einen Zwitter. Der Präsident hat entschieden mehr Rechte als in anderen repräsentativen Demokratien, wird aber gleichzeitig vom Parlament und zwar mit nur absoluter Mehrheit gewählt. Für seine Absetzung hingegen wären zwei Drittel der Abgeordneten erforderlich.

Abgesehen davon, daß Zatlers in einem dann fälligen Referendum über die von ihm angeregte Parlamentsauflösung auch unterliegen und damit sein Amt verlieren könnte, könnte das Parlament im Zeitraum zwischen der Anregung und der tatsächlichen Auflösung den Präsidenten absetzen. Die Verfassung beschränkt nämlich die Handlungsmöglichkeiten eines abgesetzen Parlamentes in diesem Punkt nicht kosequent. Sitzungen eines aufgelösten Parlamentes werden vom Präsidenten anberaumt, der auch die Tagesordnung bestimmt. Zahlreiche Politiker wollen darum auch die Rechte des Präsidenten konkretisieren.

Während der Erfolg eines Referendums nach der Manifestation 2007 zu vermuten gewesen wäre, ist die Frage des Impeachments verbunden mit der Aussicht auch der oppositionellen Parteien bei allfälligen Parlamentwahlen. Alles sieht also danach aus, als würden diese Fragen noch zwei weitere Jahre bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode vor sich hindümpeln.

Dabei ist es eine verfassungsrechtlich interessante Frage, Quoren für die Installation der Verfassungsorgane Parlament und Präsident mit denen ihrer Entlassung zu vergleichen. Ein Parlament ist völlig unabhängig von der Wahlbeteiligung gewählt. Welches Quorum also schiene logisch und vernünftig, damit Wähler und Wahlenthalter das von ihnen selbst gewählte oder hingenommene Parlament aufzulösen? Es macht sicher keinen Sinn, wenn letztlich ein Drittel der Wahlbevölkerung das Parlament aktiv wählt und anschließend die anderen zwei Drittel selbiges in die Wüste schicken können.

Überhaupt erinnert die Parlamentsauflösung durch das Wahlvolk an das imperative Mandat. Das ist ein Rätemodell und heißt auf Russisch Sowjet.

Die Regenschirmrevolution machte auf Kalvītis zwar so viel Eindruck, daß er zurücktrat. Sonst aber änderte sich nichts: der Leiter der Anto-Korruptionsbehörde wurde später doch abgesetzt, die Verfassung ist nicht geändert, das Parlament ist noch immer nicht aufgelöst und die gleichen Koalitionsparteien sind nach wie vor an der Macht.

Mittwoch, 19. November 2008

90 Jahre, ein stolzes Alter, eine stolze Leistung?

Die durchschnittliche Lebenserwartung des Menschen liegt nicht bei 90 Jahren. Für einen Staat ist das Alter von 90 hingegen ziemlich gering. Selbst so junge Staaten wie Deutschland oder Italien sind ein ganzes Stück älter. Aber gut, man kann den Letten nicht zum Vorwurf machen, daß Expansionsgelüste des Christentums sie unterjocht haben und sich über die anschließenden Jahrhunderte andere benachbarte Großmächte ihres Territoriums bemächtigten.

Um die Verbidung zwischen Staat und Mensch herzustellen: In Lettland erreicht die durchschnittliche Lebenserwartung mit 76 Jahren bei Frauen und 64,9 Jahren bei Männern einen der geringsten Werte in der Europäischen Union.

Aber Lettland als Staat wird auch nicht einfach nur 90, sondern gleichzeitig auch 17, 39 oder 33 – je nach Standpunkt. Die Republik Lettland wurde vor 90 Jahren ausgerufen. De facto bestand sie aber nur 39 Jahre lang, denn ein halbes Jahrhundert währte die Inkorporation in die Sowjetunion: folglich besteht die erneuerte Unabhängigkeit erst seit 17 Jahren. Umfaßt die Summe von 39 Jahren den Zeitraum der Souveränität, so ist die lettische Demokratie abzüglich der sechs Jahre der autoritären Herrschaft von Kārlis Ulmanis erst 33 Jahre alt. Wie wenig diese Zahl die Menschen interessiert, beweist, daß Ulmanis bemerkenswerterweise nach 1991 ein Denkmal gesetzt wurde, an dem die Menschen nach wie vor Blumen niederlegen.

Vergliche man den Staat konsequent mit einem Menschen, so wäre die wieder hergestellte Republik Lettland am Ende der Pubertät. Ein Teenager. Den Bestand der Republik betreffend, aber auch die in Freiheit verbrachten Jahre markieren ein Alter, in dem Energie und Erfahrung sich die Waage halten; mit 33 mag noch ein wenig Übermut vorhanden sein, aber mit 39 beginnt bereits ein Alter, in dem man von alten Gewohnheiten nicht mehr lassen kann?

Mit 90 wiederum kann der Mensch schon einmal ein wenig tüdelich sein. Jedenfalls waren die Feierlichkeiten rund um den 18. November geprägt von Phänomenen, die so sicher nicht in jedem Land passieren.

Bereits der 17.11.2008, ein Montag, also eigentlich ein Werktag, aber eben auch ein Brückentag, begann für jene, deren Arbeitgeber sich für die Brücke entschieden hatten, tariflich im Nahverkehr Rigas als Zahltag. Denn obwohl die Schaffner natürlich arbeiten mußten, galten Monatskarten für Werktage nicht. Da am Nationalfeiertag der ÖPNV immer gratis ist, durften sich die Schaffner wenigstens am Dienstag voll und ganz der Geburtstagsfeier ihres Staates widmen. Brückengewinner und –verlierer müssen jedoch den Arbeitstag am Samstag, dem 22. November, nachholen, ob sie nun persönlich für oder gegen die Brückenregelung waren.

Innerfamiliär kann dies Probleme hervorrufen, da ja nicht alle Mütter, Väter, Omas, Opas, Kinder und Enkel den gleichen Regeln unterliegen. So sehen sich viele sogenannte Fernstudenten, die üblicherweise samstags Vorlesungen hören, gezwungen, am 22. November zu arbeiten. Wegen der Brücke waren die Lehrstunden mancherorts am 9. November vorzuholen – in diesem Jahr ein Sonntag. Dies trifft natürlich gleichermäßen die Lehrkräfte. Wozu also eine Brücke am Monfeiertag, wenn dafür am Sonnwerktag die Werktagmonatskarte natürlich ebensowenig gilt?

Aber zum Jubiläum schlug Lettland, Riga noch eine weitere Brücke. Nachdem während der letzten Jahre viel über eine weitere Daugavaquerung zur Minderung der alltäglichen Staus diskutiert wurde, konnte das Bauwerk, die Südbrücke, jetzt endlich eingeweiht werden – natürlich nicht ohne Skandälchen. Der Direktor der Bauinspektion, Eduards Raubiško, gab kurz vor der Eröffnung bekannt, daß er selbst das Bauwerk mit 7 auf einer 10 Punkte Skala bewerten würde, wo 10 die Bestnote ist: nicht gut, aber auch nicht schlecht. Bekannt geworden waren Mängel am Bau.

Im Fernsehen kommentierte er die Anbindung an beiden Ufern, Passanten wurden um eine Bewertung der Ausschilderung gebeten. Und so schlug Raubiško vor, man solle doch einmal eine Exkursion über die Brücke machen, und dann würden sich die Fahrer schon an die Straßenführung gewöhnen. Dafür nutzt der Pendler freilich am besten einen Feiertag mit weniger Verkehr.

Und so wurde der Abend des Geburstages nach eindrucksollem, musikalisch untermaltem Feuerwerk bei klarem Wetter, intensiv genutzt. Die Schaulustigen der Feierlichkeiten fuhren nach Hause, Technikinteressierte zur Brücke; und in der gesamten Umgebung stand der Verkehr bis 23 Uhr nahezu still.

Präsident Valdis Zatlers und die anwesenden Amtskollegen aus Estland, Toomas Hendrik Ilves, und aus Litauen, Valdas Adamkus, hatten gemeinsam in ihren Ansprachen am Freiheitsdenkmal den Letten noch einen schönen Ausklang des Feiertages gewünscht.

Dienstag, 18. November 2008

Finanzkrise mischt politische Karten in Lettland neu

Ivars Godmanis ist zum zweiten Mal Ministerpräsident von Lettland, allerdings erst seit weniger als einem Jahr. Ins Amt gelangte er, weil sein Vorgänger selbst für die eigene Partei unhaltbar geworden war. Kaum ist er im Amt, gerät das Land neuerlich in eine tiefe Wirtschaftskrise. Bereits zu Beginn der 90er Jahre hatte ein großer Teil der Bevölkerung ihm den sozialen Niedergang zum Vorwurf gemacht.
Noch im Sommer lag die Vermutung nahe, daß die deutlich größere Fraktion der Volkspartei Godmanis nicht lange gewähren läßt und selber sein Amt wieder zu besetzen trachtet, so wie es 2004 bereits einmal geschehen war. Doch im Angesicht der tiefen Verunsicherung in der Bevölkerung, deren massenhafter Andrang bei der Parex Bank die Probleme dort innerhalb von Tagen verschärfte wie auch der Strum der Wechselstuben nach der Verbreitung von Gerüchten über eine bevorstehene Abwertung des lettischen Lat, wird die Volkspartei vorübergehend verschmerzen, nicht in vorderster Front Verantwortung zu tragen.
Das aber ändert nichts am Wunsch der Partei, wieder den Regierungschef und den Bürgermeister von Riga zu stellen. Da sich gerade in der Hauptstadt russischstämmige Einwohner mit Staatsbürgerschaft, also Wahlberechtigte konzentrieren, teilen sich lettische und russophone Parteien die Mandate im Stadtrat etwa zur Hälfte. Mangels anderer Nebenkriegschauplätze ist der Stadtrat der Hauptstadt sehr politisiert. 2005 hatte die Neue Zeit gewonnen. Doch Bürgermeister Aivars Aksenoks regierte nur knapp zwei Jahre, bis er Anfang 2007 durch Jānis Birks von der nationalkonservativen Für Vaterland und Freiheit abgelöst wurde.
Nun ist folgendes Szenario denkbar, mit dem sich die Volkspartei stufenweise alle Wünsche erfüllen könnte: Zunächst wird der frühere Bürgermeister Andris Ārgalis, der damals ebenfalls Für Vaterland und Freiheit angehörte, dann aber zur Volkspartei wechselte, in Riga inthronisiert und zwar mit Hilfe der Sozialdemokraten und der russophonen Fraktionen des Harmoniezentrums und Heimat (Dzimtene). Dieser Name klingt eher nationalistisch, doch unter dieser Flagge trat 2005 eine Koalition mit der Sozialistischen Partei an, deren radikalerer Flügel in einer anderen Fraktion sitzt.
Dieses Revirement wäre eine Brüskierung von Für Vaterland und Freiheit, die daraufhin wohl die nationale Koalition verlassen würde, was Godmanis die Mehrheit kostete.
Präsident Zatlers beriefe daraufhin Godmanis erneut, der dann mit der Volkspartei und dem russophonen Harmoniezentrum eine Regierung bildete. Das Harmoniezentrum war in Form der Partei der Volksharmonie erst einmal von 1994 bis 1995 Mehrheitsbeschaffer einer Minderheits-Übergangs regierung und drängt seit langem an die Macht. Außerdem könnte die Volkspartei unter Ausschluß von Bauern und Grünen endlich die kommunale Gebietsreform umzetzen.
Einige Monate vor der kommenden Wahl 2010 könnte dann wieder die lettische Karte gezogen werden, die russophonen diskreditierend und mit der Neuen Zeit wieder auf den Kampf gegen die Korruption setzend. Die Umfragewerte der Volkspartei sind seit Monaten unterhalb von 5%. Die Partei hat also nichts zu verlieren, sondern nur zu gewinnen und – die Zeit bis zur nächsten Wahl zu nutzen.

Lokal und global, Risiken und Chancen des Kaukasuskonfliktes

Ergänzung im Rahmen der Finanzkrise.
Alle Rundfunkbeiträge liegen dem Autor als MP3 vor.
Das Interessante am Konflikt im Kaukasus ist nicht nur er selbst, sondern die internationale Reaktion. Der Chor der Kommentare, Argumente und Erfahrungen, beeindruckt auch durch die Bedeutung für die Zukunft, erinnert an die klassische Frage mit der Henne und dem Ei.

Polen und die USA einigten sich auf die Stationierung von Raketen plötzlich schneller als geplant, weil Rußland nach allgemeiner Ansicht im Kaukasus überreagiert hat. Rußland ist in die abtrünnigen georgischen Regionen einmarschiert, weil Georgien Süossetien überfallen hat. Dies wiederum geschah, weil der georgische Präsident die territoriale Integrität seines Landes – mit Gewalt – wiederherstellen wollte. Eine Fußnote der Geschichte, daß Rußland seine Sicherheitszone mit einem Übersetzungsfehler aus dem Französischen ins Russische rechtfertigen konnte.

So weit ist alles wohl unumstritten. Einzig bleibt die Frage, warum gerade jetzt diese Eskalation? Die Existenz des Konfliktpotential ist schließlich nichts Neues.

Grund für den Zeitpunkt ist sicher ein Zusammenspiel der erst kürzlich erfolgten Zurückweisung Georgiens durch die NATO in Bukarest eben aufgrund der fehlenden territorialen Integrität und das bevorstehende Ende der Ära Bush. Nicht nur, daß Bush im Gegenteil zu Verbündeten wie Deutschland und Frankreich Georgien in den Membership Action Plan aufnehmen wollte, es ist auch fraglich, wie eine neue Administration in Washington mit Georgien umgehen wird.

Die öffentliche Diskussion[1] im Westen verdeutlichte schnell sehr unterschiedliche Ansichten von amerikanischen geostrategischen Interessen über baltische und polnische geostrategische Sorgen auf der einen Seite bis zu den Position der alten Strategen der Entspannungspolitik und Friedensbewegten wie auch schwelendem Antiamerikanismus auf der anderen.

Da es außer Frage steht, daß der bewaffnete Angriff auf Südossetien der Weisheit letzter Schluß nicht gewesen sein kann (und dies ist eine harmlose Formulierung!), geben einige Reaktion Anlaß zur Besorgnis.

In Deutschland wiederum gibt es zwar analytische Stimmen, viele Kommentare beschränken sich jedoch entsprechend der erwähnten unterschiedlichen Positionen darauf, entweder Saakaschwili oder aber der russischen Regierung Vorwürfe zu machen.

Erste Reaktionen
Unmittelbar nach dem Angriff auf Südossetien stellte der ARD-Korrespondent des Moskauer Studio, Stephan Laack, in seinem Kommentar im Echo des Tages am 10. August die Frage: Wer hat diesen Krieg vom Zaun gebrochen? Saakaschwili habe mit der „irrsinnigen Offensive” alles verspielt und das Land gespalten. Eine verblüffende Aussage, denn in Südossetien und Abchasien hat sich an der Einstellung zu Georgien nichts geändert, die russische Reaktion das georgische Volk jedoch wenigstens einstweilen zum Schulterschluß angeregt, wie auch Ulrich Heyden im Eurasischen Magazin berichtet. Die ehemalige georgische Parlamentspräsidentin Nino Burdschanadse, die sich aus der Politik bereits schon zurückgezogen hatte, steht als potentielle Nachfolgerin Saakaschwilis bei einer allfälligen Wahl bereit. Laack warnt außerdem Europa vor Übernahme von schwarz-weiß-Denken im US-Stil, um den Einfluß in Moskau nicht zu verlieren. Aber die Existenz dieses Einflusses muß sich nun erst einmal erweisen. Der jüngste Besuch des russischen Außenministers Lawrow in Warschau und der plötzlich geänderte Ton könnten ein Hinweis darauf sein, daß die Reaktion der EU etwas bewirkt hat.

Insofern wird gerade jetzt deutlich, daß Europa im Gegenteil zu den USA die einzige Institution ist, die in diesem Konflikt vermitteln kann. Dies könnte die europäischen Einigung und den gescheiterten Lissaboner Vertrag bald in den europäischen Ländern in einem anderen Licht erscheinen lassen.

Generell ist gegen den oft geäußerten Appell, den Dialog mit Rußland nicht abbrechen zu lassen, nichts einzuwenden. Während des Kalten Krieges hat, ja mußte man auch mit der Sowjetunion sprechen, deren Existenz durch Konfrontation, wie in den 50er Jahren versucht, nicht untergraben werden konnte.

Widersprüchlich sind Positionen wie die Egon Bahrs, der kritisiert, daß im Gegenteil zu den letzten 18 Jahren nun statt Kooperation Konfrontation betrieben werde. Die Zeitenwende von der Rolle eines Partners zum Kontrahenten wurde schließlich in Moskau vollzogen. Auch General a.D. Klaus Naumann des ist der Ansicht, daß Moskau sich durch seine Überreaktion als Partner diskreditiert habe.[2] Daß es Sicherheit und Stabilität nur mit Rußland gebe, so Bahr, ist auf der einen Seite selbstverständlich. Die zwischen den Zeilen geforderte Rücksichtnahme auf Moskau mit dem Hinweis, die von Bush dem Älteren und Gorbatschow ausgehandelten Vereinbarungen hätten bisher – eingeschlossen der Osterweiterung von NATO und EU – alles ausgehalten, hingegen setzt die Russische Föderation der Sowjetunion ebenso überraschend gleich wie Erhard Epplers Titulierung Saakaschwilis als „Verrückten”, der einer Großmacht auf der Nase herumtrampele, wenn er auch einräumt, die Russen hätten überzogen.

Es sei ein Witz, so Bahr weiter, daß die Russen glauben sollten, die Raketen in Polen seien nicht gegen sie gerichtet. Die Amerikaner realisierten ihre Machtinteressen beispielsweise im Kosovo, während sich Rußland habe „demütigend anhören müssen” gleiches Recht abgesprochen zu bekommen. Insofern hat Eppler Recht, daß es ein Gesichtsverlust für die Russen wäre, nach der Bombardierung Südossetien an Georgien zu übergeben. Aber es wäre eben auch ein Gesichtsverlust, jetzt schnell allen Forderungen des Westens zu entsprechen. Stephan Laack spricht am 15. August im Echo des Tages von einer Brüskierung Moskaus und der Einkreisung Rußlands. Der Kreml bemängele zurecht, nicht gehört worden zu sein und es sei an der Zeit, russische Positionen Ernst zu nehmen. Doch welche sind diese Positionen?

Exkurs: Der Kosovo-Vergleich[3]
Von Stephan Laacks Hinweis, die russischen Positionen seien nicht berücksichtigt worden, wie auch von Egon Bahrs Hinweis auf Rußlands Demütigung läßt sich zu einer oft geäußerten Ansicht überleiten, die Reaktion Moskaus im Kaukasus sei die Rache für die westliche Politik im Kosovo. Das mag sogar ganz konkret zutreffen, läßt aber außer Acht, daß aber welche Rußland nunmehr gegen seine eigenen Prinzipien verstößt. Und so ist dies auch nicht der einzige Vergleich. Ulrich Heyden kommentiert im Eurasischen Magazin lakonisch, daß die russische Elite das russische Vorgehen in Georgien für nicht schlimmer halte, als die Angriffe der USA und ihrer Verbündeter in Belgrad, Bagdad oder Kandahar. Also eine Argumentation, die nahe an Auge um Auge und Zahn um Zahn liegt. Wieso soll, was im Kosovo noch vor Monaten nach Moskaus Meinung falsch war, in Abchasien und Südossetien plötzlich richtig sein? Warum hat Rußland damals anders lautende UNO-Resolutionen hat mitgetragen? Überdies müßte Rußland ja nun nach Ansicht des DGAP-Experten Alexander Rahr die Blockade der Unabhängigkeit des Kosovo beenden.

Richtig ist, so wie die Anerkennung von Abchasien und Südossetien gegen Völkerrecht verstößt, tat es auch die Politik des Westens im Kosovo. Wobei der Hinweis Epplers, Völkerrecht sei eigentlich Staatenrecht bereits tiefer liegende Schwierigkeiten aufzeigt. Dennoch hinkt der Vergleich generell. Im Kosovo gab es den Ahtisaari-Plan. Der Westen wartete acht Jahre nach dem militärischen Eingriff von 1999, führte in dieser Zeit Verhandlungen mit allen Parteien mit dem Ziel, eine Unabhängigkeit des Kosovo zu verhindern, ehe die Provinz gegen die Position Rußlands als unabhängiger Staat anerkannt wurde, weil in Europa niemand mehr einen anderen Ausweg sah. Rußland hingegen anerkennt die Territorien Georgiens wenige Tage nach der Militäraktion.

Auch der Vorwurf des Völkermords greift nicht. Aus Abchasien wurde eine georgische Mehrheitsbevölkerung vor mehr als einem Jahrzehnt vertrieben. Rußland hat als vorgeblicher Friedenswahrer in den vergangenen Jahren keine Versuche einer Lösung unternommen, sondern sich durch die Verteilung von Pässen zur Konfliktpartei entwickelt. Georgien hatte de facto keinen Zugriff auf die abtrünnigen Republiken. Das war im Falle Serbiens ganz anders.

Hintergrund des Konfliktes
Leider wird von vielen der erwähnten Journalisten und Politiker der Konflikt im Kaukasus auf den Waffengang im August reduziert. Was hingegen vielfach unterschlagen wird ist, daß die Sowjetunion das letzte große Kolonialreich auf der Welt war, welches sich vom britischem Empire beispielsweise zunächst einmal nur dadurch unterschied, daß es ein kompaktes Territorium hatte. Rußland ist das Erbe dieses untergegangenen Staates angetreten,[4] in dem aber immer noch eine Vielzahl von Völkern leben, die keine Russen sind. Darunter sind solche mit einer eigenen Republik in der Russischen Föderation und solche ohne. Einige von ihnen haben sich in diesem staatlichen Gebilde eingerichtet und keine Ambitionen auf Unabhängigkeit, andere haben dafür auch den Krieg nicht gescheut wie Tschetschenien. Sicher ist, daß eine Behandlung der nicht russischen Bevölkerung wie es die Schweiz mit der rätoromanisch sprechenden Minderheit praktiziert, nicht einmal durch die eigene Republik mit Präsidenten gewährleistet ist. Ganz im Gegenteil kann behauptet werden, daß Rußland wie zur Zaren- und Sowjetzeit auf eine schleichende Russifizierung setzt. Rußland hatte bisher kein Interesse an der Unabhängigkeit der abtrünnigen georgischen Provinzen, um keine Konflikte daheim anzufachen. Ganz im Gegenteil hatte Rußland ein Interesse am Erhalt des Status Quo, denn ein schwelender Konflikt an der Grenze zu Georgien konnte eines Tages ein willkommener Anlaß sein, eigene geostrategische Interessen durchzusetzen.. So gab es eben dort „Friedenstruppen”, aber keinen Ansatz einer Lösung unter Einbeziehung internationaler Organisationen.

Was kann sich der Westen von Moskau zumuten lassen? Und welches Recht hat Rußland, den Balten, Georgiern oder Ukrainern vorzuschreiben, welchen internationalen Organisationen sie angehören wollen? Der frühere Botschafter der USA in Deutschland, John Kornblum, kommentierte bei Anne Will, Rußland müsse sich die Frage stellen, warum so viele Nationen aus eigenem Willen der NATO beitreten wollten. Rußlands Rhetorik des „nahen Auslandes” der vergangenen Jahre ist jedenfalls auch im Baltikum keine vertrauensbildende Maßnahme gewesen- Ein russischer Diplomat hatte beispielsweise Estland als einen der größten Feinde Rußlands bezeichnet. In der Reaktion hatte ein estnischer Kollege dies anschließend als eine große Ehre für ein so kleines Land wie das seine bezeichnet. Und während Eppler die Reaktion Moskaus als die einer Großmacht bezeichnet, jedoch nicht typisch russisch, widerspricht der FDP-Europaabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff, das Rußland der 90er unter Boris Jelzin sei eine Anomalie der Geschichte gewesen, nun kehre das Land zu alten Mustern zurück. Darum sprechen andere Stimmen auch vom Phantomschmerz, der Tatsache, daß Rußland den Verlust der sowjetischen Territorien noch nicht verwunden hat.

Spätere Reaktionen
Der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, sieht denn im jetzigen russischen Handeln neben der Fehler des Verlustes an Glaubwürdigkeit auch die Anerkennung Abchasiens und Südossetiens als solchen, weil sich dieser Schritt nicht mehr so einfach rückgängig machen läßt und er ungewollte Folgen im Pulverfaß Kaukasus weiterer ähnlich gelagerter Konflikte wie dem um Berg Karabach zeitigen kann. Es ist auch interessant, daß der russische Außenpolitik-Experte Fjodor Lukjanow noch am 15. August im Spiegel online erklärte, daß eine Anerkennung „jetzt keinen Sinn macht und kein einziges Problem lösen würde (...) Wenn es [Rußland, Anm. d. Autors] Abchasien und Südossetien als unabhängige Staaten anerkennt, steht es ganz alleine da“.[5]

Natürlich hat Gesine Dornblüth wohl Recht, daß Georgien Abchasien und Südossetien wohl verloren hat. Eine neue Generation sei herangewachsen, die einen anderen Zustand gar nicht mehr kenne und eine tiefe Abneigung gegenüber Georgien fühle, weil, wie auch Eppler betont, diese Territorien de facto schon lange nicht mehr zu Georgien gehörten. Aber eben das hat ja der Westen über lange Zeit verschlafen. Dabei läßt Dornblüth unberücksichtigt, daß unfreie russische Medien die Abchasier genauso beeinflussen, wie die Bevölkerung Rußlands selbst. Darum isz ihr andererseits wieder zuzustimmen, daß es den Abchasen und Osseten in Rußland nicht unbedingt besser gehen wird. Auch der ehemalige Intendant des WDR, Fritz Pleitgen, berichtet ohne kritische Distanz von den russischen Medien bei Anne Will davon, daß die einfachen Russen vor den Raketen in Polen Angst hätten. Damit schließt er sich Lukjanow an, der im Interview mit Spiegel online ebenfalls von der Angst der Russen vor einer amerikanischen Invasion spricht, welche Folge der US-Politik sei.[6] Ischinger setzt dem aber entgegen, daß von der Stationierung der Raketen in Polen zumindest niemand behaupten könne, sie sei völkerrechtswidrig.

Rußland fühlt sich zu Unrecht bedroht. Darum bekam Georgien in Bukarest eben keinen Fuß in die Tür der NATO. Die Reaktion des Westens im Kaukasus-Konflikt hat fehlende Bereitschaft zu einer direkte Konfrontation mit Rußland gerade gezeigt. Die Furcht vor einer Einkreisung also eben Folge des Phantomschmerzes. Die Sorgen Polens und der baltischen Staaten sind hingegen angesichts der Tonlage Moskaus inklusive anfänglich ganz offener Drohungen gegen Polen eine reelle Erfahrung im Jetzt und Heute, wie auch Alexander Graf Lambsdorff sagt. Rußland seinerseits scheut eine direkte Konfrontation ebenfalls und wird sicher seine „Staatsbürger” in Lettland oder Estland nicht militärisch „schützen”. Eine solche Entwicklung könnte schlimmstenfalls den Beginn des 3. Weltkrieges markieren.

Öffentliche Meinung
Vor solchen Szenarien fürchtet sich auch die öffentliche Meinung (in Deutschland), wie es im WDR5-Tagesgespräch vom 28. August zum Ausdruck kam. Sie ist geprägt von Unkenntnis der historischen Hintergründe einerseits und gegen die USA gerichteten Emotionen andererseits. Da kommen Erinnerungen an Stellvertreterkriege während des Kalten Krieges wie in Vietnam zusammen mit der seit Jahren geführten Diskussion über den Feldzug gegen den Irak. Spätestens mit Guantanamo haben die USA ihre moralischen Ansprüche nicht nur in der öffentlichen Wahrnehmung verraten. Verwunderlich ist aber, daß die öffentliche Meinung bereits wieder die Aufregung um die Wahlen zur Duma 2007 und des neuen Präsidenten in diesem Jahr vergessen zu haben scheint. Es kann keine Frage sein, daß die Reaktion der USA mit geostrategischen Interessen verbunden ist. Aber das gilt für Rußland gleichermaßen. Also will man nun lieber einem demokratischen Staat die Macht über Ölpipelines anvertrauen, die sich anschickt, einen Schwarzen zum Präsidenten zu wählen oder einer Autokratie.

Fazit
Rußland hat sich isoliert, auch wenn der Botschafter, Vladimir Kotenev, im Presseclub am 31. August das Gegenteil behauptete, Ghaddafi und Berlusconi nannte. Aber will Rußland nun offiziell in einen Club von Diktatoren und zweifelhaften Regimes? Mehrfach wurde der Begriff des Kalten Krieges genannt? Dr. Hans-Henning Schröder von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin lehnt diesen Begriff im Audio Magazin der Süddeutschen Zeitung im Hinblick auf den aktuellen Konflikt ab, er werde nur verwendet, weil er bekannt sei. Einen Kalten Krieg könne es aber nur zwischen gleichen Gegnern geben und auf Systemkonkurrenz beruhen. Dem pflichtet auch der Historiker Jörg Baberowski von Humboldt-Universität zu Berlin bei. Er bezeichnet die Destabilisierung Georgiens ebenso wie bisherigen Versuche, die russische Minderheit im Baltikum zu instrumentalisieren, als Salamitaktik.

Das Meyer Lexikon jedoch bezeichnet als Kalten Krieg eine Auseinandersetzung nicht militärischer Art zwischen zwei Staaten oder Blöcken mit ideologischer und propagandistischer Begleitung. Angesichts des sehr unterschiedlichen Verständnisses von Demokratie und Selbstbestimmung im Westen und in Rußland, wo ein staatsoligarchischer Kapitalismus herrscht, kann von einer Systemkonkurrenz m. E. die Rede sein. Propagandistisch begleitet wird sie ohne jeden Zweifel. Die russische Föderation wiederholt die Geschichte insofern, als sie wie das Zarenreich – etwa mit der späten Abschaffung der Leibeigenschaft erst 1861 – ebenso wie die Sowjetunion Machtpolitik betreibt, anstatt auf inländische nachhaltige Entwicklung zu setzen. Die beiden erwähnten Staaten sind anschließend vor allem auch an ökonomischen Problemen gescheitert.

Sicher ist wohl so viel, daß wie der Generalsekretär der NATO, Jaap de Hoop Scheffer, bereits unmittelbar nach Ausbruch des Konfliktes sagte, man nicht zu Business as usual zurückkehren könne. Nach dem Ende des Kalten Krieges und 9/11 ist der Kaukasus-Konflikt erneut ein Ereignis von langfristiger Bedeutung. Sanktionen gegen Rußland sind zwar wenig erfolgversprechend, dann drohte eher die Gefahr, daß die Welt so wie beim Ersten Weltkrieg langsam in eine militärische Auseinandersetzung schlittert. Rußland aus WTO und G8 auszuschließen ist auch für den Westen nicht sinnvoll. Es könnte höchstens überlegt werden, Rußland aus dem Bund der Demokratien, dem Europarat, auszuschließen. Egon Bahr hat allerdings Recht, daß die Welt des 21. Jahrhunderts ohne Dialog und Kooperation ungemütlich wird. Lawrows Besuch in Warschau gibt also Anlaß zur Hoffnung. Viele im Westen haben Rußland nicht verstanden.[7] Aber vielleicht muß der Westen weniger Rußland verstehen als Rußland den Westen. So schrieb auch die NZZ, daß leider der Anachronismus gelte, „daß Rußland, statt geliebt, gefürchtet werden will.“[8]

Rußland, der Westen und der Kaukasus vor dem Hintergrund der Finanzkrise
Unter dem Titel „Das Schmollen ist gebrochen“ kommentierte
Klaus Kuntze am 16. November im Deutschlandradio, es habe der Finanzkrise und Putins Drohungen mit der Raketenstationierung in Kaliningrad sowie des Verzichts auf die Ostseepipeline bedurft, um den Westen zur Erkenntnis gelangen zu lassen, daß sein kleinkindliches Verhalten nichts bringe. Kunzte räumt wohl Medwedews Irrtum über die Einnahmen aus dem Rohstoffverkauf ein, die sich überdies vorwiegend die Oligarchen in die Taschen gesteckt hätten. Der Finanzminister sei nach der ürsprünglichen Hoffnung auf einen Rohölpreis von 200 Dollar pro Barrel in der Not, die Kredite des Westens mit dem Abbau der Währungsreserven bedienen zu müssen. Die Erkenntnis des Autors, wie abhängig westliche Investoren und russische Rohstofflieferanten voneinander sind, macht seine Schlußfolgerung unverständlich. Rußland hat die Forderungen des Westens weitgehend erfüllt. Hat also nicht der Westen seine Ziele im Kaukasus erreicht und Rußland klein beigegeben? Der Westen habe sich „zu unkritisch auf die Seite des georgischen Abenteurers Saakaschwili drängen lassen“, meint Kuntze abschließend. Wirklich? Von wem?
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[1] Die entsprechenden Interview in Schriftform sind verlinkt. Audiodateien liegen ebenfalls vor.
[2] Die Entzauberung Russlands, 16. August 2008, Neue Zürcher Zeitung
[3] Auch die NZZ erklärte dies im Beitrag „Südossetien ist nicht Kosovo“ von Cyrill Stieger am 28. August 2008.
[4] In einem Interview mit Ulrich Heyden erinnert auch der georgische Oppositionelle Georgi Chaindrawa, daß Rußland seit dem 9. Jahrhundert ein „imperialistischen, aggressives Land“ ist.
[5] „Saakaschwili ließ Russland keine Wahl“, Interview Speigel online, 15.8.2008
[6] „Saakaschwili ließ Russland keine Wahl“, Interview Speigel online, 15.8.2008
[7] Warschaupakt plante nuklearen Überfall auf Westeuropa. Pläne eines präemptiven Kriegs im Spiegel freigegebener Ostblock-Dokumente, 13. September 2008, Neue Zürcher Zeitung
[8] Wie weit reicht der Arm der NATO?, NZZ 30.8.2008

Donnerstag, 13. November 2008

Parteien, Politiker und Wähler sind in derselben Krise

Die hessischen Verhältnisse wurden während der Monate seit der Landtagswahl im Januar umfangreich kommentiert, fast ausschließlich tendenziös, denn schnell ist eine Sympathie des Urhebers zur Union oder Sozialdemokratie erkennbar. Nachdem Andrea Ypsilanti nun ihren Plan, sich mit Unterstützung der Linken zur Ministerpräsidenten wählen zu lassen, aufgegeben hat, schaffte es die Gemengelage zum Thema bei Anne Will am 9. November.

Deutschlands politische Kultur: Moralisieren statt Politisieren
Und wieder packten die Diskutanten 60 Minuten lang eine moralische Keule nach der anderen aus. Erneut führte das zu nichts anderem, als wie regelmäßig schon zuvor die Vergangenheit der Linken als PDS und SED zu geißeln, welche eine Zusammenarbeit mit dieser Partei verbiete. Dagegen gehalten wird der ausländerfeindliche Wahlkampf von Roland Koch, die Integration der Blockflöten durch die CDU nach der deutschen Einheit, Kochs Ausfälle gegen die Grünen während des Wahlkampfes und seine spätere Umarmungstaktik sowie der Hamburger Erste Bürgermeister Ole von Beust, der sich ursprünglich durch einen Rechtspopulisten namens Schill hatte ins Amt katapultieren lassen.
Allein schon diese Aufzählung zeigt, daß, wer im Glashaus sitzt, nicht mit Steinen werfen sollte. Diese Diskussionen führten früher zu nichts und heute ist es nicht anders. Das zeigte auch Anne Wills Talkshow. Gerade wegen dieser „Schlagabtäusche“ gehen die Gäste beinahe unkommentiert über den demokratietheoretisch wichtigsten Aspekt hinweg, der auch bei Anne Will nur vom SPD-Landesvoritzenden in Schleswig Holstein, Ralf Stegner, angesprochen wurde, daß das Wahlergebnis nämlich ein Wählervotum ist. Bei allem Verständnis für die Ablehnung gegenüber der Linken in Reihen jener Menschen, die unter der SED-Herrschaft gelitten haben, darf nicht vergessen werden, daß nicht nur ein Spitzenpolitiker dieser Partei ein früherer Bundesvorsitzender der SPD ist, sondern diese Partei ihre jüngste Erfolge der Enttäuschung von Parteimitgliedern wie auch Wählern der SPD über die in ihren Augen unsoziale Politik der Regierung Schröder verdankt. Und diese Menschen sind beileibe nicht einfach alle Extremisten.

Wortbruch, Gewissen und Verantwortung
Die moralische Keule hilft auch wenig in der Diskussion um Wortbrüche. Hoffentlich hat nicht nur Ypsilanti, sondern die Politik generell verstanden, daß Versprechungen, mit wem zu koalieren beabsichtigt oder abgelehnt wird, den Wählerwillen bereits vor dem Urnengang ignorieren. Allerdings wurde Andrea Ypsilanti natürlich auch von der moralischen Keule der Presse und der politischen Widersacher in der eigenen wie in anderen Parteien förmlich zur Zurückweisung der Linken gezwungen. Wähler, Politiker und Journalisten werden sich damit abfinden müssen, daß Deutschland – wenigstens zeitweilig – ein Fünfparteiensystem hat, in dem eine Koalition aus nur zwei Parteien nicht immer möglich ist. Die Linke wird vielleicht im Januar in Hessen an der 5%-Hürde scheitern, wie Klaus von Dohnanyi bei Anne Will überzeugt war. Es ist aber unwahrscheinlich, daß nach den Erfolgen in Hessen und Niedersachsen keine weiteren in den alten Bundesländern folgen werden gerade auch im Blick auf die bevorstehende schwierige wirtschaftliche Entwicklung.
Vorwürfe gegen die Abweichler in Hessen müssen ebenfalls vielschichtiger betrachtet werden, als nur die moralische Keule zu schwingen. Zunächst einmal ist einem demokratischen Staat der Abgeordnete – glücklicherweise – nur seinem Gewissen unterworfen. Die vier Abgeordneten der SPD, die Ypsilanti ihre Unterstützung zu verschiedenen Zeitpunkten verweigerten, hatten also ein Recht dazu. Freilich darf das Handeln jener drei Abweichler, die sich erst in letzter Minute äußerten, diskutiert werden. Das Argument, im Fall von Carmen Everts sei seit ihrer Dissertation die Ablehnung der Linken klar, greift zu kurz. Die Vorsitzende einer Landtagsfraktion sollte sich auf persönliche Zusagen ihrer Abgeordneten verlassen können, zumal davon auszugehen sein sollte, daß die Ablösung von Roland Koch als moralische Verpflichtung dem Wähler gegenüber für das Gewissen der Abgeordneten ebenfalls etwas bedeutet.
Und für das Gewissen der Abgeordneten gibt es noch eine weitere Dimension. In Deutschland wird nach starren Listen gewählt. Die Gewählten verdanken ihr Mandat also nicht nur dem Wähler, sondern selbstverständlich auch der sie aufstellenden Partei. Selbst Direktkandidaten müssen sich überlegen, zu welchem Anteil sie als Vertreter einer Partei gewählt wurden oder aber sich auch als Unabhängige durchgesetzt hätten. Entscheidungen von Parteitagen sind dem Buchstaben der Verfassung nach nicht bindend für das Stimmverhalten der Abgeordneten, doch eine Gewissensentscheidung hätte ebenfalls darin bestehen können, sich auf dem Parteitag mit seiner abweichenden Meinung zu äußern und das eigene Mandat zur Verfügung zu stellen. Die Dissonanz in der Partei über die Kooperation mit der Linken wäre so offenkundig geworden. Ob Andrea Ypsilanti und der Rest der SPD diesen Schritt freudig und kaltblütig begrüßt und angenommen hätten, ist eine offene Frage. Ebenso gut hätte Parteitagsbeschluß den Beschluß fassen können, die Minderheitsregierung nicht zu bilden.

Politisches Fingerspitzengefühl und Machtspiele
Aus diesem Gründen spricht viel dafür, daß die späte Entscheidung der drei zusätzlichen Abweichler in direktem Zusammenhang mit der Kabinettsbildung von Andrea Ypsilanti steht, in der sich Jürgen Walter, der ja gegen seine Parteichefin schon in der Spitzenposition unterlegen war, übergangen fühlte. Immerhin hatte er selbst vorher den Koalitionsvertrag mit ausgehandelt.
Hier geht es also weniger um moralische Keulen als politisches Fingerspitzengefühl. Und an dem scheint es Andrea Ypsilanti zu fehlen. Ohne Dagmar Metzger aber mit der Linken hätte sie im Landtag eine Mehrheit von nur einer Stimme gehabt. Das ist sowieso sehr knapp, aber besonders bei Experimenten mit neuen politischen Mehrheiten. In so einem Fall muß eine Parteichefin ihre gesamte Partei und alle Fraktionsmitglieder mitnehmen anstatt ihre innerparteiliche politische Linie durchzusetzen. Führungsstärke äußert sich hier weniger im Durchsetzungsvermögen als in Kompromißfähigkeit. Überdies wäre für eine mittelfristige Stabilisierung Ypsilantis Regierung, Ansehen und den Erwerb eines Amtsbonuses für den Sieg bei der nachfolgenden Landtagswahl, eine Politik erforderlich gewesen, zu deren Unterstützung sich von Fall zu Fall eventuell eben doch auch die FPD hätte entschließen können.

SPD: Partei oder politischer Chaos Klub?
Die Summe ist eine Harakiri-Politik der SPD. Nach Politikwissenschaftler Klaus von Beyme sind die Funktionen von Parteien folgende: Zieldefinierung, Artikulation, Aggregation, Sozialisation und Elitenrekrutierung. Im Klartext,
was die SPD will, hat Andrea Ypsilanti im Wahlkampf deutlich erklärt. Damals sorgte die Kritik des Parteifreundes Wolfgang Clement für Aufsehen. Hat die SPD also klare gemeinsame Ziele?
Auch wenn Clements Meinung fraglos innerparteilich eher eine Minderheitsposition war, Aggregation bedeutet, auch innerhalb der Partei kontroverse Meinung einem Kompromiß zuzuführen. Das scheint der SPD beinahe kaum noch zu gelingen, wie der Verschleiß von Parteivorsitzenden seit dem Rücktritt Willy Brandts zeigt.
Artikulation meint, dem Wähler die eigenen Ziele zu erklären. Auch damit tut sich die SPD seit den innerparteilichen Konflikten um HARTZ-Reformen zumindest sehr schwer.
Das wirkt sich negativ aus auf die Sozialisation, die Bindungsfähigkeit. Hier mag man den Mitgliederverlust der SPD vor dem Hintergrund ähnlicher Tendenzen bei der großen Volkspartei CDU entschuldigen. Ein Problem ist es allemal.
Tragisch aber ist die Elitenrekrutierung. Das Fehlen von Führungs- und Integrationsfiguren, von charismatischen Personen, wird von Beobachtern in allen Parteien konstatiert. Aber Beymes Begriff umfaßt auch,
was der amerikanisch-italienische Politikwissenschaftler Giovanni Sartori als „capable of placing through elections candidates for public office” bezeichnet. Eine Partei muß demnach willens sein, politische Verantwortung zu übernehmen, und über Kandidaten verfügen, die öffentlichen Ämtern übernehmen können. Nach diesen politikwissenschaftlichen Definitionen kann Fundamentalopposition niemals eine Partei sein.
Um Mißverständnissen vorzubeugen, die SPD war immer eine diskussionsfreudige Partei, in der leidenschaftlich um den „richtigen” Weg gerungen wurde. Die Regierung Schmidt stürzte 1982 auch wegen des Streites über die Nachrüstung – sieben Jahre vor dem Fall der Mauer! Die CDU dagegen ließ sich dagegen willig im Interesse der Macht vom Wolfgangsee aus im Sommertheater belehren.
Seit den 80er Jahren hat sich viel verändert. Wähler wählen anders, wechselhafter als früher. Politiker müssen sich zunehmend in einer Mediendemokratie beweisen. Eine Krise der Parteiendemokratie gibt es auch in anderen Staaten. Die SPD trifft sie einstweilen aus strukturellen Gründen besonders hart.

Samstag, 8. November 2008

Edgar, die Wahl und das System

In der estnischen Hauptstadt Tallinn wird plötzlich über Aspekte des Wahlsystems bei der Kommunalwahl diskutiert. Es geht um die Frage, ob die gesamte Stadt inskünftig ein einzelner Wahlkreis sein soll.
Zur Zeit gibt es in Tallinn acht Wahlkreise: Kesklinn (das Zentrum), Haabersti, Kristiine, Mustamäe, Nõmme, Põhja-Tallinn (Nordstadt), Pirita und Lasnamäe. Das entspricht der Verwaltungsstruktur der Stadt. Gewählt wird mit Vorzugsstimme für Parteilisten. Die Mandatsverteilung erfolgt nach der d’Hondt Methode.
Exkurs Vorzugsstimme: Der Wähler trägt in dem vorgesehen Feld auf dem Stimmzettel die Nummer des von ihm bevorzugten Kandidaten ein und stimmt damit automatisch für die Liste der Partei, welche diesen Kandidaten aufgestellt hat. Der Wähler entscheidet sich also für eine Partei, auf deren Liste er einen konkreten Kandidaten bevorzugen kann. Das führt zu einer Änderung der Reihenfolge der Kandidaten auf der entsprechenden Liste durch den Wahlvorgang.
Exkurs d”Hondt: Bei diesem Verfahren der Mandatsverteilung, deutsch auch Höchszahlverfahren genannt, wird die für die einzelnen Parteien abgegebe Stimmenzahl der Reihe nach durch 1, 2, 3, 4 usw. geteilt. Auf diese Weise entsteht eine einfache Tabelle aus den Quotienten dieser Divisionen. Anschließend werden die zu vergebenen Mandate der Reihe nach an die jeweils nächst höchste Zahl verteilt. Der belgische Jurist Victor d’Hondt hatte dieses System im 19. Jahrhundert, im Zeitalter vor Computer und Taschenrechner entwickelt, um komplizierte und langwierige Rechnungen zu vermeiden.
Im Tallinner Stadrat gibt es 63 Abgeordnete. Bei den Kommunalwahlen 2005 errang die Zentrumspartei von Edgar Savisaar 32 Sitze und damit die denkbar knappste mögliche absolute Mehrheit. Jüri Ratas wurde Bürgermeister.
Exkurs Edgar Savisaar: Dieser Mann ist das enfent terrible der estnischen Politik, über ihn scheiden sich die Geister, er wird entweder verehrt oder gehaßt. Savisaar erfand in der Gorbatschow-Zeit zusammen mit dem späteren Nationalbankpräsidenten, Gründer der liberalen Reformpartei des heutigen Regierungschefs, zwischenzeitlichen Ministerpräsidenten und derzeitigen EU-Kommissar, Siim Kallas, die Idee des selbstwirtschaftenden Estlands (Isemajandav Eesti), dessen Abkürzung IME als Wort gelesen Wunder bedeutet. Savisaar regte die Gründung der Volksfront an, wurde 1990 deren Ministerpräsident und mußte dann doch 1992 zurücktreten. 1995 schaffte er als Juniorpartner und Innenminister im Kabinett seines Volksfrontnachfolgers, Tiit Vähi, erneut den Weg auf die Regierungsbank. Allerdings nur für Monate, denn er hatte heimlich seine Gespräche der Koalitionsverhandlungen augezeichnet. Der Lindiskandaal zwang ihn zum Rücktritt. 2005 wurde er Wirtschaftsminister unter Ansip, als dieser Res Publica die Partnerschaft kündigte und war demzufolge zum Zeitpunkt des Wahlerfolges 2005 am Bürgermeistersessel nicht interessiert.
Nun sind Bürgermeister normalerweise nicht die einflußreichsten politischen Positionen, die zu vergeben sind. Im kleinen Estland jedoch gibt es unter der nationalen Ebene keine politischen Spielplätze. Gewählte Landräte in den 15 immer noch nicht reformierten Kreisen wurden schon vor Jahren abgeschafft. So sind die Stadträte von Tallinn und Tartu die einzigen vorhandenen Nebenkriegsschauplätze, auch wenn in ihrer Politisiertheit manche andere Kommune dem nicht nachsteht.
Die Frage nach dem Zuschnitt der Wahlkreise ist aus mathematischen Gründen wichtig. Das d’Hondt System sollte einfach sein. Aber es begünstigt auch die Erfolgreicheren. Das heißt, die großen Parteien erhalten bei dieser Methode der Mandatvergabe etwas mehr Sitze, als nach einer reinen Prozentrechnung. Und dieser Effekt kummuliert sich in mehreren Wahlkreisen. Folglich hätte die Zentrumspartei, gäbe es in Tallinn nur einen Wahlkreis, zwei Mandate weniger errungen – und die absolute Mehrheit knapp verpaßt. 2002 etwa erhielt die Vaterlandsunion trotz 6,8% Wahlerfolges überhaupt keine Vertretung im Stadtparlament.
Das Ergebnis eines solchen Ergebnisses wäre vermutlich, daß der Politisierung Tür und Tor geöffnet würde, wie es in vorherigen Wahlperioden auch war. Edgar Savisaar war bereits einmal von 2001 bis 2004 Bürgermeister, bis er durch eine Eingung anderer Parteien gegen ihn gestürzt wurde. Was auf der nationalen Ebene seit 1992 geschah, daß nämlich angesichts von Mißtrauensvoten und Koalitionswechseln noch keine Regierung eine ganze Legislaturperiode regieren konnte, gilt für die Stadt verstärkt, wo im selben Zeitraum mehr Bürgermeister ein- und abgesetzt worden sind.
Es überrascht also wenig, daß Savisaar im März 2007 seinen letzten Faustpfand nutzte. Als sich nach den Parlamentswahlen Ministerpräsident Andrus Antsip trotz des Sieges seiner Koalition mit der Zentrumspartei andere Partner suchte, setzte sich Savisaar entgegen vorherigen Versprechungen doch selbst auf den Chefposten in der Unterstadt, nur wenige hundert Meter vom Domberg entfernt.
Die Frage der Wahlkreiseinteilung in Tallinn ist also nicht unbedeutend, denn vor der bevorstehenden Europawahl streiten sich jüngst die Parteien auch darüber, ob die Listen hier starr oder lose gebunden sein sollen. Ein Umdenken in beiden Punkten würde sofort die Frage nach der nationalen Ebene aufwerfen, wo ebenfalls Vorzugstimmen und d’Hondt zur Anwendung kommen.
Der Leiter der Wahlabteilung in der Staatskanzlei, Mihkel Pilving, hält diese Gedanken für Spekulationen, schließlich würden Parteien und Wähler sich bei einem anderen System anders verhalten. Eine zweifelhafte Stellungnahme. Welcher Wähler beschäftigt sich schon im Detail mit dem Auszählungsverfahren?

Montag, 3. November 2008

Der ganz andere Meri

Lennart Meri ist auch außerhalb Estland nicht unbekannt. Der Schriftsteller wurde während der Umbruchzeit Außenminmister und war von 1992 bis 2001 Präsident. Der 1929 geborene Meri starb 2006.
Ein Cousin, Sohn des Onkels des früheren Präsidenten, Arnold Meri, hingegen muß sich 88jährig derzeit juristisch für seine Vergangenheit verantworten. Während Lennart Meri ein Gegner der Sowjets war, machte Arnold Meri Karriere. Wegen seines Einsatzes im Zweiten Weltkrieg dufte er sich seit 1941 Held der Sowjetunion nennen, erhielt 1948 den Leninorden und wurde 1961 stellvertretender Bildungsminister der estnischen sozialistischen Sowjetrepublik. Daß er den Siegestag noch 2002 mit Vladimir Putin gemeinsam in Moskau feierte, stieß in Estland nicht auf Verständnis.
Vor dem Landgericht Pärnu wird nun der Vorwurf des Genozides verhandelt, doch Meri versucht, dem Prozeß wegen seines angeschlagenden Gesundheitszustandes zu entgehen. Während Richter Mart Reino die Ergebnisse der jüngsten Expertise nicht offenlegen möchte, behaupten Meri und sein Anwalt Sven Sillar, noch keine Kenntnisse des jüngsten Berichtes zu haben. Arnold Meri erklärt jedoch, es ginge ihm noch schlechter als vorher, was ihn aber einstweilen nicht weiter störe.
Reino hatte den Prozeß im Mai für die Zeit der Untersuchung Meris unterbrochen, denn die letzte Expertenmeinung liegt bereits viereinhalb Jahre zurück und in dieser Zeit, so der Richter, könne sich selbstverständlich der Gesundheitszustand eines Menschen ändern. Nach Angaben des Anwalt leidet Meri an Lungenkrebs und sein Arzt habe von weiten Reisen abgeraten.
Bei der Eröffnung des Prozesses in Kärdla auf der Insel Hiiumaa hatte Meri sich für nicht schuldig befunden. Vorgeworfen wird ihm, als damaliger erster Sekretär des Zentralkommitees der leninistisch-kommunistischen Jugend 1949 die Deportation von 251 Einwohnern der Insel in die Oblast Novosibirsk in Sibirien organisiert zu haben. Unterwegs starben elf der 13 über 75 jahre alten Personen. 16 waren noch nicht 18 Jahre alt.
Die damaligen Deportationen von insgesamt über 20.000 Menschen aus Estland betrafen vorwiegend Frauen und Kinder, bewußt, denn bestraft werden sollten die Verwandten von Männern, die sich als Partisanen in den Wäldern versteckt hielten oder ins Ausland geflohen waren.
Meri behauptet, die Deportationen seinen von Moskau so minuziös geplant worden, daß jemand seines geringen Ranges dort nichts hätte beeinflussen können. Er sei zuständig gewesen für die Kontrolle der Vorschriften, wieviel persönliche Gegenstände die Betroffenen mitnehmen durften. Vor Ort habe er Verstöße festgestellt und gegen diese per Telegramm nach Tallinn protestiert. Doch dieses Dokument ist heute in den Archiven nicht zu finden.
Der alte Mann wirft nun der heutigen politischen Elite vor, das Thema immer wieder auszugraben, wenn er sich öffentlich kritisch äußere. Die erste Befragung habe bereits 1995 stattgefunden, also immerhin zwölf Jahre vor Prozeßbeginn. Beobachter vermuten ebenfalls, daß möglicherweise Meris Kritik an der Versetzung des Bronzesoldaten im vergangenen Jahr in Wahrheit Auslöser der Anklage sei. Die Behörden jedoch entgegnen, daß nach und nach die Geschichte in allen Regionen Estland untersucht würden und sich ebenfalls gegen Kollaborateure der Nazis richteten. Diese aber hatte bereits die Sowjetunion zur Rechenschaft gezogen.
Die Deportationen von 1949 sind lange her. Die handvoll alter Männer, die für ihre Taten in unteren Rängen während der vergangenen Jahre angeklagt worden waren, hatten auch das Mitleid eines Teils der Bevölkerung. Anders ist dies bei Arnold Meri. Eine Verurteilung würde sicher neuerlich zu Wortgefechten mit Moskau führen. Das verlangte Strafmaß ist lebenslänglich.