Montag, 21. März 2011

Nun doch Wahlrechtsdiskussion in Estland

Der amerikanisch-estnische Politologe Rein Taagepera hat schon früher das estnische Wahlsystem als Maschine zur Enttäuschung der Wähler bezeichnet. Auf seien Vorschlag ging bei den letzten Wahlen zum Obersten Sowjet 1990 die Anwendung des irischen Single Transferable Vote zurück.

Diskussionen über Wahlsysteme gab es seit dem Zweiten Weltkrieg viele. Und unter Wahlrechtexperten gilt das irische System als eines der gerechtesten der Welt. Es handelt sich eigentlich um eine Mehrheitswahl in vergleichsweise kleinen Wahlkreisen mit etwa fünf Mandaten, doch in Folge der komplizierten Verrechnung ist das Ergebnis ziemlich proportional. Das estnische Wahlsystem ist ein proportionales in größeren Wahlkreisen von knapp über zehn Mandaten. Doch die Schwierigkeit beruht darin, daß nur etwa ein Zehntel bis ein Fünftel der Mandate von Kandidaten direkt erworben werden, während die restlichen Sitze durch Kompensationsmandate besetzt werden. Ein sehr kompliziert klingendes, aber in Wahrheit doch nicht so kompliziertes Verfahren der sogenannten Vorzugsstimme, das die Esten von Finnland übernommen haben. Ohne mathematisch in die Tiefe gehen zu wollen, könnte man es so formulieren: Jene Stimmen, die ein Kandidat für seinen Sitz zu viel bekommen hat, werden in Irland nach Wunsch des Wählers auf dem Wahlzettel weiterverteilt. In Estland aber gehen diese Stimmen als Kompensation an von den Parteien der erfolgreichen Kandidaten festgelegte Listen.

War in den vergangenen 20 Jahren dies keine große Diskussion wert in Estland, so gehen jetzt gleich mehrere Sozialwissenschaftler an die Öffentlichkeit: darunter natürlich Rein Taagepera, aber auch Juhan Kivirähk, Martin Mölder und der in England arbeitende Kollege Allan Sikk.

Alle sagen gleichermaßen, daß diese Kompensationsmandate abgeschafft werden sollten. Kivirähk ist der Ansicht, daß die Verteilung der überschüssigen Stimmen nicht auf nationaler Ebene, sondern gleich im Wahlkreis erfolgen sollte. Das aber würde nichts daran ändern, daß Politiker plötzlich ins Parlament gewählt würden, für die der Bürger nicht gestimmt hat, daß populäre Politiker wie eine Lokomotive für ihre Parteifreunde wirken.

Mölder geht bei der Diskussion noch etwas weiter und bezieht das Parteiensystem ein. Er weist auf die Fragezeichen eines Parlamentes hin, welches auf den ersten Blick den Eindruck einer konsolidierten Parteienlandschaft hinterläßt, in dem es Konservative, Liberale, Sozialdemokraten und ein Zentrum gibt. Deren Parteichef Edgar Savisaar gilt als Paria der estnischen Politik, wie auch in diesem Blog mehrfach berichtet wurde. Auf diese Weise, so Mölder, bleibt nur eine Koalitionsmöglichkeit übrig – das neo-liberale Bündnis aus der Reformpartei und der Vaterlandsunion.

Mölder läßt allerdings offen, wo er die direkte Verbindung zwischen Wahl- und Parteiensystem sieht. Sicher ist nur eins, Savisaar war immer der König der Direktstimmen, will sagen, das bestehende Wahlrecht begünstigt durch seine Popularität in der einen Hälfte der Bevölkerung die Zentrumspartei seit jeher. Mölder vergißt, daß rein biologisch eines Tages die Tage des Edgar Savisaar gezählt sein werden. Und was dann aus der Zentrumspartei wird, ist einstweilen völlig offen. Bereits 1995 hat sein Rücktritt nach dem Aufzeichnungsskandal zwar Andra Veidemann zur Abspaltung getrieben, aber wer erinnert sich heute noch an sie? Savisaar kehrte bald fulminant wieder und wurde nach dem Zusammenbruch von Res Publica von Andrus Ansip als Koalitionspartner benötigt.

Mölder prognostiziert zu den nächsten Wahlen das Erscheinen neuer Parteien. Er glaube nicht an eine Rückkehr der Volksunion oder der Grünen, die im März den Wiedereinzug ins Parlament nicht geschafft hatten. Nachdem die Reformpartei selbst 1994 die letzte der genuin neuen Parteien (Allan Sikk) war, stellt sich die Frage, welches politische Spektrum in den Augen der Wähler in Estland nicht abgedeckt ist oder wo es eine glaubwürdigere politische Alternative geben könnte. Und wer sollte diese führen?

Sicher ist, daß das estnische Wahlsystem ähnlich dem deutschen dem Wähler wenig Möglichkeit gibt, die personelle Zusammensetzung der Fraktionen zu bestimmen, ganz im Gegensatz zu den lose gebundenen Listen im benachbarten Lettland. In Estland wiederum können wenigstens theoretisch Einzelkandidaten Erfolg haben, was Mölder seinerseits im Interesse einer nicht zu großen Zersplitterung des Parlaments eher als Ausnahme denn als Regel bezeichnet.

Samstag, 12. März 2011

Zweifel an eletronischer Stimmabgabe

Der Tartuer Informatik-Student Paavo Pihelgas verlangt die Annulierung der elektronisch abgebenen Stimmen bei der Parlamentswahl vom 6. März. Er sagt, er habe sich zu interessieren begonnen, wie das System funktioniert, nachdem der Projektleiter Tarvi Martens öffentlich behauptet hatte, die elektronische Wahl sei sicherer als die auf dem Wahlzettel.

Welche Schwierigkeiten mit die Sicherheit der Daten im Netz verbunden sind, ist in vielen Fällen und verschiedenen Ländern umfangreich diskutiert worden. Und selbstverständlich läßt sich eine Wahl auch fälschen, wenn Zettel in einer Urne gezählt werden oder es gibt Schwierigkeiten mit dem Verständnis dessen, was der Wähler wählen wollte. Normalerweise müssen unklare Wahlzettel in den Kasten der ungültigen Stimmen fallen. Das ist bei einem Kreuzchen wie in Deutschland nicht so schwierig zu erkennen. In Lettland gibt es nicht nur einen Zettel, sondern für jede Partei einen eigenen, so daß jeder Wahlumschlag mit nur EINEM Wahlzettel klar und gültig ist – übrigens auch dann, wenn der Wähler irgendwelche unflätigen Bemerkungen darauf hinterläßt.

In Estland aber trägt der Wähler die Nummer eines Kandidaten mit dem Kugelschreiber ein. Hier kommt also noch das Handschriftproblem hinzu. 4 oder auch 2 und 7 können manchmal ziemlich ähnlich aussehen.

Pihelgas versuchte nun während der Probewahl die Software mit einem eigenen Programm zu stören, was Martens angeblich beim Einloggen bemerkt haben will. Der von dem Studenten programmierte Virus blockiert nach Aussagen des jungen Informatikers die Stimmabgabe für einen bestimmten Kandidaten, und wenn der Wahlvorgang im Netz abgeschlossen ist, erhält der fragliche Politiker die Stimme nicht. Der Wähler bemerkt dies nicht, weil der Virus eine nachgeahmte Seite auf dem Bildschirm anzeigt. Martens gibt zu, das schwächste Glied beim elektronischen Wählen sei der private Computer des Wählers. Die Wahlkommission habe schließlich keine Möglichkeit zu prüfen, ob mit dem Computer, von dem aus ein Wähler sich in das System einloggt, alles in Ordnung ist.

Und so argumentierten auch einige weitere vom estnischen Fernsehen befragten Spezialisten, die darauf hinwiesen, daß eine solche Wahlmanipulation von der Verbreitung des Viruses abhänge. Der Behauptung, die Verbreitung eines Virus koste Zeit, mag man noch mit Skepsis begegnen, richtig aber ist sicher, daß jeder Wähler seine eigene Wahl trifft und jeder Rechner speziell durch eine Virus-Attacke angegriffen werden müsse.

Pihelgas schlägt vor, daß mit der Stimmabgabe eine Art Paßwort verschickt wird, welches vom Rechner der Wahlkommission an den Wähler zurückgeschickt wird, der dann prüfen kann, ob die Codes übereinstimmen. Martens entgegnet dem, daß damit auch wieder Schwierigkeiten verbunden seien und es sowieso niemals absolute Sicherheit gebe.

Wer zieht ein in die Rigaer Burg?

In den letzen Wochen und Monaten wurde die Frage nach der Besetzung des Präsidentenamtes wenig gestellt, weil eigentlich alle Beobachter von der Wiederwahl des Amtsinhabers ausgingen – auch aus der Politik war nichts Gegenteiliges zu hören. Dabei sei daran erinnert, daß in Lettland das Parlament den Präsidenten mit absoluter Mehrheit wählt.

Der vermutung einer Wiederwahl stand zunächst kein Argument entgegen. Daß Amtsinhaber Valdis Zatlers sich nach Anfangschwierigkeiten im Amt “gemacht” hat, wird allgemein anerkannt. Dabei gehört es zur Ironie der Geschichte, daß der 2007 plötzlich als Überraschung von der Regierungskoalition aus dem Hut gezauberte Orthopäde nach seiner politisch durchaus aktiven Vorgängerin von den Mächtigen wohl gerade als jemand favorisiert wurde, der sich eben nicht in den politischen Alltag einmischt. Doch kurz nach seiner Wahl im Frühjahr wurden die Auswirkungen der Finanzkrise im land spürbar, im Herbst demonstrierten die Menschen erstmals seit der Umbruchphase vor 20 Jahren in Massen und Regierungschef Kalvītis trat zurück. Seither ist der Präsident alles andere als zurückhaltend gewesen.

Und nun hat es den Anschein, als würde die Politik hinter den Kulissen doch eine andere Sprache sprechen. Kommt noch hinzu, daß die Regierungskoalition erst kürzlich bei der Neubestellung des Ombudsmannes keinen gemeinsamen Kandidaten auzustellen in der Lage war. Welche politische Kraft hat also welches Interesse und vor allem welche potentielle Kandidaten, die im Gegenteil zum genannten Job in die Rigaer Burg überhaupt einzuziehen bereit sind.

Auch Valdis Zatlers hat sich einstweilen bedeckt gehalten, wobei allgeimein davon ausgegangen wird, daß er wohl gerne wieder kandidieren würde. Das aber wird er sicher nur verkünden, wenn sein Sieg so gut wie sicher ist, denn wie sähe eine Niederlage bei der Wiederwahl in einer indirekten Wahl aus? Beobachter vermuten, daß sich nun die Parteien mit der Nominierung eines Kandidaten bis zum letzten Moment Zeit lassen werden. Da der Amtsinhaber dies schwerlich tun kann, sinken damit Zatlers Chancen deutlich. Erklärt er sich aus dem genannten Grund nicht rechtzeitig, wirkt es ebenso komisch, den Hut in den Ring zu werfen, WENN plötzlich jemand nominiert ist.

Die größte Regierungspartei, die Einigkeit, plant unter Federführung der Parlamentspräsidentin Solvita Āboltiņa die Bildung einer Kommission, welche mögliche Kandidaten bewerten soll. Einstweilen sind aber sogar die Mitglieder dieser Kommission noch ihr Geheimnis. Genannt warden immer wieder Namen wie die Leiterin des Rechnungshofes, Inguna Sudraba, Europakommissar Andris Piebalgs oder auch der Europarichter Egils Levits. Aber Sudraba hat mehrfach den Gang in die Politik abgelehnt und bei Piebalgs und Levits stellte sich die Frage, ob sie bereits sind, sich in die Niederungen der lettischen Politik zu begeben. Einerseits ist das Präsidenteamt in Lettland repräsentativ gedacht, aber die Zwischenkriegsverfassung gibt dem Amt viel mehr Möglichkeiten, als in anderen parlamentarischen Republiken bekannt.

Hausmitteilung: Werkstatt

Ab sofort gibt es ein weiteres Label. Wie der Name “Werkstatt” bereits vermuten läßt, handelt es sich um Texte – einstweilen sind es nur zwei – die noch in der Bearbeitung sind. Das Ziel des Einblicks in die “Werkstatt” ist eine schöpferische Nutzung des Internets. Kommentare können auf weitere Literatur hinweisen und neue Denkansätze geben. Aus diesem Grunde ist die Moderationsfunktion für Kommentare einstweilen deaktiviert.
Werkstatttexte tragen nicht das aktuelle Datum, damit sie nicht zuerst auf dem Bildschrim erscheinen.

Freitag, 11. März 2011

Eesti muutub Saksamaaks

Estland wird zu Deutschland, das war ein Witz, den ich vor über zehn Jahren mit einem estnischen Freund regelmäßig bemüht habe, wenn wir gemeinsam in Riga unterwegs waren und die Veränderungen Estlands und Lettlands miteinander verglichen.

Daß in Estland alles besser sei, haben die Letten schon oft gehört, und die Deutschen lesen regelmäßig in der Presse von diesem erfolgreichsten der drei baltischen Länder: Wählen im Internet und so, alles ganz fortschrittlich. Das prägt das Bild eines Landes in Stabilität und Zufriedenheit. Gewiß, die Finanzkrise hat dem Image ein paar Kratzer verpaßt, aber immerhin konnte sich Estland sogar beim Rettungsschirm für Lettland beteiligen.

Nun hat Estland ein neues Parlament gewählt und das Ergebnis ist wirklich bemerkenswert vor dem Hintergrund, daß Estland trotz aller Anstrengungen einiger Kreise, von eben diesem Faktum ablenken, ein Transformationsland ist, in welchem vor 20 Jahren der Übergang von Diktatur zur Demokratie und von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft stattfand.

Typisch für die politischen Landschaften dieser Staaten war über zwei Jahrzehnte deren politische Unübersichtlichkeit. Da die künstlich nivellierten Gesellschaften einfach keine Ahnung hatten, was konservativ, liberal oder sozialdemokratisch ist und es die entsprechenden Milieus zur Bildung solcher Parteien auch gar nicht gab, orientierte sich das Volk mehr an Personen als Parteien, die sich zur Vermeidung dieses negativ belasteten Begriffes prosaische bis populistische Namen gaben oder einfach einen Spruch irgendwo ausliehen – Neue Zeit, Recht und Gerechtigkeit oder Für Vaterland und Freiheit wären solche Beispiele. Gerne erinnert man sich nach der Spaltung auch an das große und das kleine Bier in Polen (das ist kein Scherz!). Das Volk, an pateranalistische Strukturen gewöhnt, gab oftmals nur zu gerne die Verantwortung nach oben ab, weshalb politische Parteien von Politologen der mangelnden Mitglieder wegen gerne ebenso prosaisch Telefonzellen- oder Taxiparteien nannten – in Anspielung auf mögliche Versammlungsräume.

Typisch war für die Parlamente des post-sozialistischen Raumes eine kaleidoskopische Entwicklung, Spaltungen, Vereinigungen, Parteiwechsel und so weiter, so daß dem Beobachter leicht schwindelig werden konnte. Oft schafften Regierungen keine Legislaturperiode lang, sich an der Macht zu halten, geschweige denn Wahlen zu gewinnen.

Und jetzt kommen die Esten. Im neuen Parlament sitzen nur noch vier Fraktionen. Die bislang als Minderheitsregierung amtierende Koalition wurde trotz aller Härten der Wirtschaftskrise satt bestätigt. Ministerpräsident Andrus Ansip ist nunmehr seit bald sechs Jahren im Amt und hat bereits zwei Wahlen überstanden. So etwas ist zwischen Estland und Bulgarien in den osteuropäischen Staaten nach dem Fall des eisernen Vorhanges überhaupt noch nie vorgekommen.
Die Reformpartei des Regierungschefs rechnet trotzdem mit Koalitionsverhandlungen, die sich etwa einen Monat hinziehen werden. Die Begründung für diese im Vergleich mit früheren Regierungen längere Zeit? 2007 habe niemand damit gerechnet, daß die Regierung die ganze Legislaturperiode durchhalten werde. Davon gehe man dieses Mal aber aus, weshalb die Verhandlungen aufmerksamer geführt werden müßten.

Aber welche Stolpersteine gibt es für zwei Partner, die es nach der Wahl zügig für logisch erklärt haben, die Zusammenarbeit fortsetzen zu wollen? Die konservative IRL (Union aus der Vaterlandsunion und der früheren Saubermannpartei Res Publica) hat etwas mehr zulegen können, als die Reformpartei, bleibt aber trotzdem der kleinere Partner. Vor vier Jahren wäre der frühere, zweimalige Ministerpräsident Maart Laar, der fließend deutsch spricht, gerne Außenminister geworden. Das war schwierig, weil der Reformpartei-Politiker Urmas Paet das Amt besetzte und sich dort als Nachwuchspolitiker Ansehen erworben hatte. Es ist anzunehmen, daß so wie Laar damals auf jegliches Ministeramt verzichtete auch dieses Mal die Regierungsbildung durch solche Ambitionen nicht verhindert wird.
Im vier Parteien umfassenden neuen Parlament gibt es auch irgendwie keine Alternative. Die Reformpartei könnte noch alternativ mit Savisaars Zentrumspartei koalieren, was aber aus inhaltlichen Gründen genauso wie eine Zusammenarbeit mit den erstarkten Sozialdemokraten unwahrscheinlich ist. Nach deren innerparteilichen Querelen im Herbst 2009 sind die 19 Sitze für den neuen Vorsitzenden Sven Mikser ein großer Erfolg, den sie wohl auch dem Zerfall der Volksunion zu verdanken haben. Diese Partei um frühere Kader der kommunistischen Partei war vor allem auf dem lande beliebt. Aber zusammen mit der Reformpartei käme dieses ungleiche Gespann auf 52 Mandate, nur eines mehr als die absolute Mehrheit – zu unsicher. Und dann könnten sich rein mathematisch noch drei Partner gegen die Reformpartei zusammenschließen, was aus inhaltlichen Gründen vielleicht sogar noch eher ginge als gegen die persönlichen Animositäten. Mit Edgar Savisaar wurde in den vergangenen 20 Jahren nur in zwei Ausnahmefällen koaliert.

Weil Savisaar das weiß, hat er jetzt für eine Regierungsbeteiligung seiner Partei angeboten, vom Amt des Parteivorsitzenden zurückzutreten. Das hatte er nach seinem Aufzeichnungsskandal 1995 schon einmal gemacht, um später fulminant zurückzukehren.

In Estland, so sieht es aus, bleibt die nächsten vier Jahre alles beim Alten. Offen ist wohl einzig die Frage, was aus der sich in der Opposition gerne sozialdemokratisch gebenden Zentrumspartei, die in der Vergangenheit vor allem russische Wähler ansprach und ins Parteiensystem ohne ethnische Partei integrierte, in Zukunft wird, wenn Savisaar einst schon aus Altersgründen nicht mehr da sein wird.

Die ganz andere politische Bedeutung des ÖP(N)V

Die baltischen Staaten sind dünn besiedelt und kommen auf eine Bevölkerungsdichte von ungefähr 35 Einwohnern pro Quadratkilometer. Gewiß, die meisten Menschen leben in den Städten, aber gerade in Estland und Lettland mit den historischen Einzelgehöften leben manche Menschen so abgelegen, daß es bis zu ihnen von der Landstraße noch mehrere Kilometer zu Fuß sind. Wer kein Auto hat, ist darauf angewiesen, daß auf dieser kilometerweit entfernten Straße ab und zu einmal etwas fährt, daß einen zum nächsten Geschäft, Post oder Arzt, einfach in ein Dorf oder eine kleine Stadt bringt – aber nicht nur das, natürlich auch zum nächsten Wahllokal.

Wenn also die Wahlbeteiligung niedrig ist, dann stellt sich nicht nur die sozialwissenschaftliche Frage, ob die Leute von der Politik enttäuscht sind, und sich für kein „kleinstes Übel“ entscheiden können, es stellt sich auch die Frage, wer an einer Wahlbeteiligung physisch gehindert ist.

Mit dem öffentlichen Verkehr gibt es gleich zwei Probleme. Nachdem zur sowjetischen Zeit die Energieversorgung kein Thema war und die teilweise abenteuerlich anmutenden Gefährte so gut wie nichts kosteten, haben sich zwei einander gegenseitig bedingende und verstärkende Schwierigkeiten eingestellt. Da die Menschen das Geld für die Fahrkarte nicht haben und die Busse halb leer fahren, steigen die Preise der Fahrkarten und gibt es weniger Busse.

Die Situation wird durch zwei Aspekte verschärft. Da die Busse extrem selten fahren und eben auch nicht unbedingt dann, wenn das Angebot nachgefragt wird, sehen sich viele Menschen gezwungen, private Vereinbarungen zu treffen. Auf diese Weise entstehen illegale Geschäfte. Jemand hat ein Auto und bringt andere zum gewünschten Zeitpunkt irgendwo hin und nimmt dafür natürlich einen kleinen Obolus. Auf der anderen Seite verdienen auch die Busfahrer so wenig, daß sie schon einmal gerne das Geld kassieren, aber dem Fahrgast keinen Fahrschein aushändigen. Statistisch gesehen ist dann dieser Fahrgast nicht gefahren und der Fahrer steckt das Geld anstatt in die Kasse in die Tasche.

Lauristin nach Savisaars Vorbild?

Die politische Aktivistin aus den Zeiten der Volksfront, Marju Lauristin, erklärte ihren Verzicht auf das gewonnene Parlamentsmandat. Sie sei in der Wissenschaft nützlicher.

Die 1940 geborene Marju Lauristin ist emeritierte Professorin der Universität Tartu. Dort hat sie im sozialwissenschaftlichen Bereich gelehrt und publiziert. Sie war Mitbegründerin der Volksfront und der Sozialdemokraten und für diese im ersten Kabinett von Mart Laar Sozialministerin.

Daß Lauristin nun lieber an wissenschaftlichen Konferenzen teilnimmt als an Plenarsitzungen, mag man ihr aus Altergründen verzeihen. Ihre Argumentation hingegen ist fade. Sie habe eigentlich überhaupt nur kandidiert, damit mit ihrem Namen die Partei möglichst gut abschneide. Eine solche Irritierung der Wähler ist sonst beim Tallinner Bürgermeister und früheren Volksfront-Premier Edgar Savisaar üblich gewesen, der zwei Jahrzehnte eigentlich immer überall kandidiert hat, im estnischen Wahlsystem sehr viele Personenstimmen „abgefischt“ hat, um sich dann aus seinen Wahlsiegen das höchste Amt herauszupicken. Im Tallinner Stadtrat regiert seine Zentrumspartei mit absoluter Mehrheit, während auf nationaler Ebene trotz ansehnlicher Erfolge die anderen Parteien immer eine Anti.Koalition gegen ihn gebildet haben.

Sonntag, 6. März 2011

Wer hat Angst vor Sarrazin?

Wieviel Euro waren es noch, die nach Sarrazin für eine tägliche gute Ernährung reichen sollten? Naja, das galt ja nur für Deutschland.

Lettland hat im Rahmen der Finanz- und Wirtschaftskrise und der damit verbundenen steigenden Arbeitslosigkeit das sogenannte „simtlatnieku“-Programm aufgelegt. Menschen arbeiten also für 100 Lat im Monat, was umgerechnet etwa 150 Euro sind. Und das klingt nicht nur nach wenig Geld, das ist es auch in Lettland. Und im Gegensatz zu den 1-Euro-Jobs in Deutschland, wo die Menschen nebenbei anderweitig „versorgt“ werden, heißt das bei 100 Lat eben auch 100 Lat. An diesem Programm nehmen nach Angaben der lettischen Presse derzeit 80.000 Menschen teil.

Dies steht vor dem Hintergrund, daß jüngst erneut in Lettland durch die Presse ging, welche Mitarbeiter der Regierung eine Gehaltserhöhung erhalten. Unter anderem auch im Verteidigungsministerium, das von dem im dänischen Århus promovierten Politologen Artis Pabriks geführt wird. Und diesem rutschte nun in einer Pressekonferenz heraus, daß für 100 Lat nur Trottel arbeiteten.

Der Autor dieser Zeilen kennt Pabriks lange genug persönlich, um beurteilen zu können, daß eine Beleidigung von Menschen in sozialen Nöten sicher nicht das Anliegen des Ministers war – im Vergleich zu Sarrazin?

Dennoch, die unbedachte Äußerung hat Folgen. Elīna Kolāte, eine einfach Dame aus dem Volk verlangt nun gerichtlich eine moralische Entschädigung – von exakt 100 Lat. Sie begründet ihre Eingabe auch damit, daß sie die 100 Lat nicht einmal verdiene, aber trotzdem keine Idiotin sei. Frau Kolāte wünscht, daß sich Pabriks bei ihr persönlich entschuldigen möge.

Artis Pabriks entschuldigte sich bereits öffentlich und erklärte, es handele sich um ein Mißverständnis. Er habe eigentlich sagen wollen, daß es extrem schwierig sei, Menschen für konkrete verantwortungsvolle Aufgaben zu finden, die bereit sind, für sehr wenig Geld zu arbeiten. Wer im Privatsektor oder öffentlichen Dienst ordentlich arbeite, habe auch eine ordentliche Bezahlung verdient. Pabriks erklärte überdies, er sei wütend über sich selbst, denn es sei erforderlich, immer Herr seiner Sinne und seiner Äußerungen zu sein.

Samstag, 5. März 2011

Einige Gedanken zu Karl-Theodor, aber eigentlich über das Wahlvolk

Nein, eigentlich bedarf es gewiß keines weiteren Kommentars zu wiederholen, was Karl-Theodor zu Guttenberg getan hat und wie darauf die politische Klasse und die Bevölkerung reagierten. Diebstahl, Täuschung, Falschaussage und Beurkundung falscher Tatsachen, alles schon gesagt. Daß man einen Doktortitel weder ruhen noch selbst ablegen kann, lassen wir einmal dahingestellt. Das halte ich in diesem Fall tatsächlich für eine Fußnote.

Wenig allerdings wurde darüber gesagt, wenigstens in den von mir konsumierten Medien, daß zu Guttenberg anfangs im Brustton der Überzeugung copy-paste grundsätzlich weit von sich wies. Aber welcher auch anderweitig viel beschäftigte Doktorand ist so dumm, sich gleich in der Einleitung mit fremden Federn zu schmücken. Das dünkt mich bei einer so eloquenten Person, welcher ich den Intellekt zur Erstellung einer tatsächlich selbst verfaßten Dissertation nicht abspreche, daß er möglicherweise selbst überrascht war. Unterstrichen wird meine Überraschung noch durch das Ausmaß der kopierten Textstellen. Das kann eigentlich auch bei einem neben dem Schreibtisch im Kinderbett schreien Kleinkind nicht passieren. Nur vereinzelt wurde die Frage aufgeworfen, ob zu Guttenberg den Text überhaupt selbst verfaßt hat.

Ins Gerede gekommen ist auch, daß Betreuer und Prüfungskommission nichts bemerkt haben wollen. Freilich: welcher Betreuer liest den Text seiner Doktoranden bis zum letzten Satz komplett? Und die Suche nach Plagiaten ist ohne die Hilfe von zumal nicht perfekter Software mit viel Aufwand verbunden. Zeitungsartikel könnte man vielleicht noch mit Hilfe einer elektronischen Variante des Manuskriptes selbst mit der Methode copy-paste und dem Instrument Google aufzuspüren versuchen. Das ist meine Praxis. Aber hier mag man noch der Vermutung anhängen, daß an der Universität dem adeligen Sprößling das Kopieren niemand zugetraut hat. Sollte die Arbeit jedoch tatsächlich so viele Stilbrüche haben, wie dies in der Presse kolportiert wird – ich habe die Dissertation selbst nicht in den Händen gehalten – hätte dies mindestens dem Betreuer auch bei auszugsweiser Lektüre auffallen müssen, und das spricht dafür, daß er die Arbeit nicht wirklich gelesen hat.

Doch ungeachtet dessen scheint das Plagiat ein Faktum zu sein, und welche rechtlichen Folgen dies für den angeblichen Autor haben wird, mag dahingestellt sein.

Aus politologischer Sicht ist der politische Aspekt dieser Affäre interessanter. In der Bevölkerung, in den Medien und vielfach auch in der Politikwissenschaft werden meistens die Politiker gescholten, nur selten die Bürger. Man kann viel über die Werte des deutschen Bürgertums, des Adels und der politischen Klasse lamentieren. Letztendlich vertrete ich die Ansicht, daß die weiße Weste eines Politikers nicht immer so wichtig ist, wie eine gute Arbeit. Ein durch und durch ehrlicher Mensch kann für sein Land mitunter weniger tun.

Aber wie steht es mit den politik- oder auch politikerverdrossenen Bürgern? Ich meine gar nicht, daß viele bereit sind, zu Guttenberg das Fehlen zu verzeihen und sicher viele auch den Unterschied zwischen Abschreiben bei einer Klassenarbeit und dem Plagiattieren einer Dissertation nicht verstanden haben. Schwamm drüber. Wenn aber die Sekretärin von zu Guttenbergs Abgeordnetenbüro in Berlin im Deutschlandfunk freimütig von einer promovierten Anruferin berichtet, die unter Tränen gesagt habe, „wir haben doch alle geschummelt“, dann werde ich hellhörig. Eine lange Reihe junger Wissenschaftler hatte der Kanzlerin ihren Protest unterbreitet. Wieso meint die Anruferin, von „den Doktoranden“ sprechen zu dürfen, wenn sie in Wahrheit nur von sich und vielleicht noch ihrer Clique spricht?

Und das leitet über zum Gedanken, was eigentlich die Leute alle so toll an zu Guttenberg finden, daß alle die, die sonst gegen die Politiker mit der moralischen Keule lamentieren, plötzlich nichts dagegen haben, von einem Dieb und Lügner regiert zu werden? Die Nachmittags-Talkshows sind voll von Gebrüll, wo wer wann im privaten Bereich es mit der Wahrheit nicht ganz so genau genommen hat und damit Beziehungen und Familienbande in Gefahr bringt. Wieso gilt eine vergleichbare Anforderung plötzlich für zu Guttenberg nicht?

Hat zu Guttenberg neben seinen Verfehlungen etwas für diese Zuneigung geleistet? Er hat sich gegen die staatliche Rettung von Opel eingesetzt, später in bezug auf Afghanistan von Krieg gesprochen und die Aussetzung der Wehrpflicht verantwortet. Seine jüngsten Pläne zur Bundeswehrreform wurden jedoch sogar im Kanzleramt gerügt. Aufgefallen ist zu Guttenberg hingegen mit seinem Besuch samt Gattin und Talkshow bei den Soldaten. Bei denen kam das Medienberichten zu Folge gut an, in intellektuellen Kreisen jedoch weniger.

Und hierin liegt der nächste interessante Aspekt. Ein intelligenter Mann aus gutem Hause, der im Gegenteil zur Floskelsprache à la Merkel wie, „ich bin der festen Überzeugung“, so eloquent ist, daß er wie gedruckt ins Mikrophon zu formulieren in der Lage ist. Trotzdem ist er in seiner kurzen Amtszeit in zwei Ministerien keineswegs durch das Nutzen dieser Fähigkeit aufgefallen. Während auch der private Teil seines Lebens regelmäßig Thema der Bild-Zeitung war, erinnere ich mich nicht, ihn auch nur je in einer der vielen Polit-Talkshows gesehen zu haben, deren Langeweile oftmals auch daher rührt, daß Gäste wie Wolfgang Bosbach oder Gregor Gysi häufig zu ähnlichen Fragen über mehrere Tage hinweg in verschiedenen Kanälen auftauchen.

Zu Guttenberg ist dank seiner plötzlichen Karriere in Folge des CSU-Desaster in Bayern und des plötzlichen Rücktritts von Michael Glos in der Politikerriege ungewöhnlich jung. Junge Menschen sind meist attraktiver als ältere, zu Guttenberg gelt sich das Haar und mag Heavy Metal Musik. Sind das jetzt die Kriterien, die in den Augen des Volkes einen guten Politiker ausmachen? Der sowieso immer verhältnismäßig beliebte Frank-Walter Steinmeier stiegt in der Gunst der Bevölkerung, nachdem er seiner Frau eine Niere gespendet hatte.

Donnerstag, 3. März 2011

Angst vor dem Ombudsmann

In Lettland gibt es die Institution des Ombudsmannes noch nicht lange, nach vielen innenpolitischen Konflikten erst seit 2007, gerade einmal endet die erste Amtszeit des ersten Amtsinhabers. Und damit beginnen die Schwierigkeiten, denn Romāns Apsītis will nicht erneut antreten und es scheint auch sonst (unter den Juristen des Landes) niemanden zu geben, der bei diesem Angebot nicht abwinken würde. Der Ombudsmann muß kein Jurist sein, sollte es aber nach verbreiteter Ansicht. Es scheint, als hätten alle potentielle Kandidaten Angst vor dem Ombudsmann und / oder vor den Abgeordneten der Saeima, die dieses Amt durch Abstimmung besetzen.

Das aber ist alles nichts Neues. Seit Mitte der 90er Jahre gab es ein Menschenrechtsbüro, das mit Unterstützung der OSZE gegründet worden war und von Olafs Brūvers geleitet worden war. Brūvers, in Riga geboren, war während der Sowjetzeit als Gegner des Regimes kurzzeitig inhaftiert und lebte dann im Exil. Nach der wiedergewonnen Unabhängigkeit des Landes wurde er als Abgeordneter der Christdemokraten ins Parlament gewählt und anschließend Staatsminister für Menschenrechtsfragen, obwohl seine Partei der Koalition gar nicht angehörte. Aber schon zwei Jahre später gelangte er auf der Liste der Demokratischen (Zentrums) Partei in die Saeima, jener politische Kraft, in der sich damals viele alte kommunistische Kader organisiert hatten.

Das Büro litt unter seiner Führung an der schlechten Finanzierung, was auch von Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga kritisiert wurde. Erst 2007 gelang es endlich, aus dem Büro die Institution des Ombudsmanns zu schaffen. Und auch damals konnte sich die Politik kaum auf einen Kandidaten einigen. Mit dem von der damals in der Regierung einflußreichen Volkspartei nominierten Juraprofessor der Universität Lettlands, Ringolds Balodis, und der von der nationalistischen Für Vaterland und Freiheit portierten Professorin für Politikwissenschaft und Exillettin Rasma Kārkliņa gab es zwei Kandidaten, die im Parlament keine Mehrheit fanden.

Politisch waren beide Kandidaten nicht durchsetzbar. Balodis’ Hindernis war vor allem seine fehlende politische Neutralität; aber auch seine Reputation als Wissenschaftler wurden in Zweifel gezogen und seine Publikationen vom damaligen Präsidenten des Verfassungsgerichtes, Aivars Endziņš, heftig kritisiert. Ironischerweise war es Balodis, der Jahre später die Nationalisten in Frage der diskutierten Verfassungsänderungen beriet.

Rasma Kārkliņa hingegen verfügte einerseits nicht über eine juristische Ausbildung und keine Erfahrung im Bereich der Menschrechte, aber als Exilantin unterstellte man ihr auch fehlende Verwurzelung in der lettischen Gesellschaft. Obwohl die Neue Zeit damals Kārkliņa unterstützte, waren ihre Aussichten von Beginn an noch geringer als die Balodis’.

Hauptproblem war freilich, daß sich schon die Regierungskoalition nicht auf einen Kandidaten einigen konnte. So wurde schließlich der Verfassungsrichter Romāns Apsītis gewählt, dessen Reputation untadelig ist, der aber unmittelbar nach seiner Bestellung in der Wirtschaftskrise mit der Diskussion konfrontiert wurde, ob sein Büro nicht den nötigen Sparmaßnahmen zum Opfer fallen sollte. Doch Apsītis wird nun vorgeworfen, sich selbst nicht aktiv genug eingemischt zu haben. Im Fernsehen verkündete er jüngst, er habe sich schon 2007 nicht um das Amt gedrängt und stehe für eine zweite Amtszeit nicht zur Verfügung.

Vier Jahre später können sich die Koalitionsparteien schon wieder nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen. Die größere Partnerin, die Einigkeit, hielt sich über Wochen bedeckt und nannte keinen einzigen Namen – so lange, bis der kleinere Partner, die Union der Grünen und Bauern den Vorschlag des oppositionellen Harmoniezentrums, den Liquidator der bankrotten Rigaer Krankenversicherung Juris Jansons positiv beurteilte. Erst dann bewegte sich die Einigkeit und schlug die Verwaltungsrichterin und frühere Mitarbeiterin des Menschenrechtsbüros Anita Kovaļevska vor.

Aber das Geschacher hatte bereits vorher begonnen. Nachdem zunächst die Verfassungsjuristin Jautrīte Briede als potentielle Kandidaten gehandelt wurde, der Unterstützung durch die Einigkeit nachgesagt wird, unterstrichen einige Politiker, es habe noch keine Entscheidungen gegeben. Die Aussichten dieser Kandidatur waren gering, denn der Chef der Union aus Grünen und Bauern, Augusts Brigmanis, wies auf die Ämterhäufung der Einigkeit hin.

Für die Partei Brigmanis’ mag ein weiterer Hinderungsgrund gewesen sein, daß Briede einmal Soros-Stipendiatin war. Über diese Organisation ranken sich in Lettland unzählige Verschwörungstheorien. Die „Soroser“ gilt in einschlägigen Kreisen als Schimpfwort.

Die frühere Verfassungsrichterin und Abgeordnete der Einigkeit, Ilma Čepāne, wurde ebenfalls erwähnt, erklärte aber ihrerseits, kein solches Angebot erhalten zu haben und auch nicht kandidieren zu wollen. Die politische Kultur in Lettland sei leider so, daß die Politiker die Empfehlungen des amtierenden Ombudsmannes ignorierten und die Wahl politisierten. Sie habe mehrere Juristen angesprochen, doch alle hätten abgewinkt.

Der bereits erwähnte frühere Präsident des Verfassungsgerichtes, Aivars Endziņš, der 2007 erfolglos für das Amt des Präsidenten kandidiert hatte, steht nach eigenen Angaben ebenfalls nicht zur Verfügung.

Der Streit um die Besetzung stört nun den Koalitionsfrieden. Bereits nach der Wahl im Oktober hatte es für die Regierungsbildung verschiedene potentielle Modelle gegeben. Das als russisch geltende Harmoniezentrum kommt mit der Union der Grünen und Bauern ebenfalls mit 51 Mandaten auf die absolute Mehrheit von 100 Abgeordneten. Was für eine Regierungsführung zu knapp sein mag, könnte aber in einer einmaligen Abstimmung den Ausbruch aus der Koalitionsraison ermöglichen.

Die Einigkeit reagierte ein wenig wie die „beleidigte Leberwurst“ und machte den für einen demokratischen Staat geradezu absurden Vorschlag, sämtliche Ämterbestellungen durch das Parlament – Generalstaatsanwalt, Leitung des Rechnungshofes, Chef der Anti-Korruptionsbehörde etc. – künftig in offener Abstimmung durchzuführen. Dies hebe die Reputation des Parlamentes. Die anderen Fraktionen bezeichneten den Vorschlag hingegen als Populismus. Präsident Valdis Zatlers wiederum wiederholte seinen Vorschlag, solche Ämter sollten künftig auf Vorschlag des Präsidenten besetzt werden. In der Tat ist eine solche Diskussion für Lettland typisch. Gibt es irgendwo Probleme, so kritisiert auch den lettische Journalist und Medienwissenschaftler Ainārs Dimants, wird zunächst eine Änderung der „Statuten“ diskutiert.

Juris Jansons erklärte während Anhörungen in den Fraktionen, er sei mit dem Harmoniezentrum politisch nicht verbunden. Für ein kleines Land wie Lettland aber nicht untypisch stellte sich heraus, daß der Abgeordnete der Partei, Juris Silovs, der Jansons zu den Terminen begleitete, ein alter Kollege von Jansons aus dessen Zeiten bei der Nationalbank ist.

Jansons wurde am 3. März mit 53 Stimmen gewählt.

Rücktritt oder nicht Rücktritt, das ist hier die Frage

Die lettische Innenministerin Linda Mūrniece von der Parteienkoalition Einigkeit versieht ihr Amt, seit Valdis Dombrovskis im März 2009 Regierungschef wurde. Das Ministerium gilt nicht nur jetzt, sondern war schon in den Boomjahren nach dem EU-Beitritt das „ärmste“. Dies ist insofern von Bedeutung, als das für die innere Sicherheit zuständige Ministerium Dienstherr der diversen operativen Dienste ist. Und daß deren Mitarbeiter schlecht verdienen, weiß im Lande jeder. Daher ja auch das weit verbreitete und nicht unbegründet Vorurteil, die Polizei in Lettland sei korrupt.

Linda Mūrniece beschäftigte sich in ihrer Amtszeit mit verschiedenen Reformversuchen, zog aber auch viel Kritik auf sich, etwa als sie 2009 die Sondereinheit der Polizei, Alfa, in die lettische Provinzstadt Bauska schickte, um eine spontane Brückenblockade als Protest der Einwohner gegen die Krankenhausschließung aufzulösen. Ihre harten Kommentare zur nicht genehmigten Demonstration wurden auch hier kritisiert. Als jüngst Polizisten dieser Einheit an einem Überfall auf ein Spielcasino in einer anderen Kleinstadt beteiligt waren, wurde Alfa spontan abgeschafft. Erneut wurde Mūrniece kritisiert, sie habe ihren Apparat nicht im Griff. Trotz Rücktrittsforderungen blieb sie aber im Amt.

Kritisiert wurde auch die Vorführung der Tatverdächtigen vor Gericht. Da die zum Tatzeitpunkt getragene Kleidung polizeilich untersucht wird, wurden sie in in vorübergehend gestellten, aber in der Konfektionsgröße viel zu großen Kleidungsstücken und zusätzlich verbundenen Augen in den Saal gebracht. Auch Mitleid in Abrede stellend werteten dies ehemlige leitende Mitarbeiter der Polizei und Psychologen als unprofessionell.

Als aber nun vor kurzem in einem Internetvideo beobachtet werden konnte, wie zwei Polizisten in Riga ein Auto stehlen, war dies offenbar für die Innenministerin persönlich der Tropfen, der das Faß zum überlaufen brauchte. Sie reichte ein Rücktrittsgesuch ein – welches Ministerpräsident Dombrovskis aber nicht annahm.

Nun wird Mūrniece angeblich erst im Juni zurücktreten, wenn noch einige weitere Schritte der Polizeireform beendet wurden. Der Partei- und Fraktionsvorsitzende des Koalitionspartner Union aus Grünen und Bauern, Augusts Brigmanis, zweifelte, ob der Schritt nicht eher damit zu begründen sei, daß es der Einigkeit an politischen Personal fehle, die Vakanz erneut zu besetzen. Schon seit der Regierungsbildung im November des letzten Jahres gibt es Konflikte, weil die Einigkeit mit Regierungschef und Parlamentspräsidentin nicht nur viele Ämter einnimmt, sonder der Koalitionspartner auch im Kabinett die schwierigeren Posten innehat – von der schwierigen inneren Sicherheit einmal abgesehen.

Experten weisen allerdings auch auf den Vorteil für die Union aus Grünen und Bauern hin, wenn die Einigkeit im Kabinett mit unpopulären Ministern vertreten ist. Linda Mūrniece wurde im Januar nach Umfragen noch von 45% der Befragten negativ bewertet. Im Februar waren es bereits 65%. Die Ablehnung, die der Ministerin entgegenschlägt, ist nicht neu. Im lettischen Wahlsystem mit lose gebundenen Listen war Mūrniece bei der Parlamentswahl im Oktober die Königin der ausgestrichenen Kandidaten ihrer Partei und verdankt ihr Parlamentsmandat – welches sie freilich als Ministerin ruhen lassen muß – nur dem Verzicht der Parteifreundin Vaira Paegle.

Kaffeesatzlesen vor der estnischen Wahl

Es wurde an dieser Stelle bereits berichtet, daß Ministerpräsident Andrus Ansip trotz divereser rhetorischer Lapsūs während der letzten Jahre auch mit Blick auf die katastrophale Situation im südlichen Nachbarland Lettland von vielen Menschen in Estland geachtet oder als das kleinere Übel betrachtet wird. Das seine Reformpartei am Sonntag auf dem ersten Platz landet, scheint ebenso gut wie sicher wie die Wahrscheinlichkeit, daß der neue Regierungschef der alte sein wird. Die derzeit nach dem Austritt der Sozialdemokraten regierende Minderheitsregierung könnte sogar eine Mehrheit erreichen.

Daß die Umfragewerte in den letzten Wochen teilweise Wechselhaft waren, ist dem Umstand geschuldet, daß der Chef der Zentrumspartei, das Enfant terrible der estnischen Politik, Edgar Savisaar neuerlich in einen Skandal wegen seiner Verbindungen nach Rußland und von dort angenommenen Geldes verstrickt ist. Eigentlich wenig überraschend, plädiert dieser Politiker doch schon lange für bessere Kontakte zu großen Nachbarn und wird im Inland besonders von russischstämmigen Wählern bevorzugt. Dem estnischen Parteiensystem erweist er damit eigentlich den Dienst, daß nach 1995 nie wieder eine ethnische Partei ins Parlament gewählt wurde.

Die von der Tageszeitung Postimees be Turu-uuringute AS bestellten Zahlen sagen der Reformpartei des Ministerpräsidenten 28% voraus, gefolgt – dank des Skandals mit nunmehr etwas größerem Abstand – von der Zentrumspartei mit 25%, 14% für die Union aus Vaterland und Res Publica (IRL in der einheimischen Abkürzung) sowie 13% für die Sozialdemokraten. Nach der innerparteilichen Krise seit Ende 2009 mit dem neuen Parteivorsitzenden Sven Mikser ein echter Erfolg. Die Demoskopen sagen nun einen Kampf um den zweiten Platz voraus, denn die Zentrumspartei könnte noch Einbußen hinnehmen, während die anderen beiden Parteien auch daran profitieren, daß die Volksunion und die Grünen nach ihren inneren Konflikten den Sprung ins Parlament verfehlen könnten. Und so kommt TNS Emor auch zu 25% für die Zentrumspartei, 21% für IRL und 16% für die Sozialdemokraten.

Tõnis Stamberg von Turu-uuringute AS weist darauf hin, daß zuletzt 19% der Wähler erklärten, an der Wahlt teilnehmen zu wollen, aber noch nicht wüßten, welcher Partei sie ihre Stimme geben werden. Diese Beobachtung deckt sich mit dem hier vorher zitierten Politologen Rein Toomla, der auf die hohe Bedeutung der letzten Tage des Wahlkampfes hingewiesen hatte.

Die jüngsten Umfragen lassen allerdings auch Zweifel an Toomlas Gedanken aufkommen, daß die Reformpartei mitunter sogar eine absolute Mehrheit der Mandate erringen könnte. Wahlumfragen sind in den jungen Demokratien Osteuropas aber schon immer problematisch gewesen. Und für die Wahl Estland 2011 gilt eine mehrfache Ausnahme: neben dem Skandal so kurz vor der Wahl gibt es dieses Mal sehr viele Einzelkandidaten und es wird möglicherweise ein Parlament mit rekordkleiner Fragmentierung entstehen.

Wenn die Reformpartei nicht alleine regieren kann, steht IRL zur Verfügung. Würde es für beide zusammen auch nicht reichen, wir in einem Parlament mit nur vier Fraktionen die Regierungsbildung interessant. Savisaars Zentrumspartei kam als Partner immer nur nach dem Bruch anderer Bündnisse in Frage, seit 1992 zwei Mal. Die Sozialdemokraten wiederum hatten wegen der Arbeitsmarktpolitik vergangenes Jahr die regierende Koalition verlassen.

P.S.: Gerade wir gemeldet, daß bereits mehr als 27% der Wähler die Möglichkeit zum früheren Abstimmen genutzt haben.

Dienstag, 1. März 2011

Polizei außer Rand und Band?

Im lettischen Jēkabpils wurde im Januar ein Spielsalon überfallen, während die Einnahmen abgeholt wurden. Gewalttätige Überfalle waren in Lettland Mitte der 90er Jahre nicht Ungewöhnliches. Später besserte sich die Situation und auch das erwartete Ansteigen der Kriminalität infolge der Krise hat nicht zu spektakulären Fällen geführt. Dieser Fall ist aber nun spektakulär, weil hier Polizisten gegen Polizisten vorgehen mußten. Vier der fünf beteiligten Räuber waren Polizisten, zwei gehörten der Spezialtruppe Alfa an. Der Polizist Andris Znotiņš verlor dabei im Dienst sein Leben.

Die maskierten Räuber betraten den Spielsalon und die Polizisten behaupteten, sie seien in einen Einsatz im Rahmen der Drogenfahndung. Die in entsprechenden Etablissements regelmäßig anwesenden Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma mußten sich auf den Boden legen, ihnen wurde bekamen Tränengas in die Augen gesprüht. Ein Angestellter des Spielsalons wurde angeschossen, weil er die Alarmknopf gedrückt hatte. Die Höhe der Beute ist unbekannt, doch als die Räuber gestellt wurden, entdeckte die Polizei im Fahrzeug 104.500 LVL. Daß der Überfall ausgerechnet im Moment der Übergabe der Einnahmen an einen Geldtransport stattfand, läßt vermuten, daß die Polizisten über Insiderkenntnisse verfügten.

Dies ist nicht der erste Fall, der einen Schatten auf den Ruf der Polizei in Lettland wirft. Abgesehen von der Korruption der Verkehrspolizei, die in den letzten Jahren nachgelassen haben soll, gelang 2007 einem Untersuchungshäftling während der Überführung angeblich in Handschellen die Flucht aus dem fahrenden Streifenwagen durch einen Sprung von der Inselbrücke in die Düna. Der Verdächtige wurde zwar schnell wieder verhaftet, doch der damalige Innenminister Ivars Godmanis, der inzwischen EU-Abgeordneter ist, kam in Erklärungsnot.

Innenministerin im Kabinett Dombrovskis ist derzeit Lind Mūrniece. Sie stand schon mehrfach in der Kritik und wurde zum Rücktritt aufgefordert, so auch in diesem Fall. Sie nahm die Polizei allerdings in Schutz und leugnete, daß die geringen Einkommen der Polizisten, die im Rahmen der Krise wie vielen anderen Staatsdienern noch einmal gekürzt worden waren, die Ursache für den „Seitenwechsel“ der Polizisten sein könne. Sie erklärte in einem Radiointerview, die betreffenden Kollegen hätten nun ihr wahres Gesicht gezeigt und seien entweder als Kriminelle geboren oder aus anderen Gründen zu solchen geworden.

Tatsächlich sind die Einkommen in Staatsdienst und Polizei so gering, daß viele weiteren Nebentätigkeiten nachgehen. Gerade Polizisten eignen sich durch ihre Ausbildung für die Mitarbeit in einem Sicherheitsdienst. In den freien Tagen des Schichtdienstes anderorts dazu zu verdienen, ist nicht untersagt.

Inzwischen wurde bekannt, daß zwei der Polizisten aus der Kleinstadt Tukums im Einzugsbereich von Riga stammen und dort im Rahmen einer Restrukturierung eigentlich hatten entlassen werden sollen. Infolge einer Intervention der Polizeigewerkschaft, wie das Innenministerium dieser vorwirft, wurden ihre Verträge jedoch erneuert. Die Gewerkschaft kontert, das Ministerium selber habe keine Rechtsmittel gegen einen entsprechenden Gerichtsbeschluß eingelegt, wobei Mūrniece zugeben mußte, daß angeblich aufgrund orthographischer Fehler die Kündigungen von den Richtern als nicht rechtswirksam angesehen wurden.

Trotzdem hatten sich die Räuber unter anderem beim außer Gefecht gesetzten Sicherheitspersonal bewaffnet. Die zwei gestohlenen Waffen wurden vermutlich nach dem Überfall in einen Schneehaufen geworfen, denn sie tauchten zunächst nicht wieder auf.

Mūrniece räumte im fraglichen Interview grundsätzliche Probleme mit der Polizei und besonders der Sondertruppe Alfa ein. In vier Jahren habe es dort 40 Dienstaufsichtsbeschwerden gegeben. Die Innenministerin klagte, eine elitäre Truppe müsse sich auch dementsprechend verhalten. Sie reagierte durch die Beurlaubung einiger hoher Amtspersonen, darunter des Kommandanten der Spezialeinheit Alfa. Darüber hinaus werden alle mehr 7.000 Mitarbeiter der Polizei von Psychologen befragt würden und das Ministerium prüfe, ob Nebenjobs der Ordnungshüter zu Interessenskonflikten führen könnten.

Die Innenministerin und die Spezialeinheit Alfa waren 2009 ins Gerede gekommen, als im Rahmen der geplanten Schließung eines Krankenhauses im südlettischen Bauska spontane Demonstrationen die Brücke einer wichtigen Verkehrsachse besetzten. Damals wurde ebenfalls aus Riga die Sondereinheit geschickt. Mūrniece sagte nun, diese Entscheidung habe sie seinerzeit gar nicht selbst getroffen.

Als Reaktion auf die jüngsten Ereignisse hat die Innenministerin nun beschlossen, den Polizisten ihr Gehalt – allerdings erst im kommenden Jahr – um 50% zu erhöhen, womit sie indirekt ihrer eigene, früheren Behauptung widerspricht, die Höhe des Einkommens könne nicht Grund dafür sein, daß Polizisten kriminell würden. Als weitere Folge des Überfalls von Jēkapbils wird die Einheit Alfa außerdem liquidiert – allerdings wohl nur dem Namen nach. Aufgaben wie die Festnahme von Verbrechen werden einer anderen Einheit übertragen, aber die an dem Vorfall unbeteiligten Polizisten weiterbeschäfigt, ohne den Namen Alfa zu verwenden, der nach Aussage des Chefs der Polizei von Riga, Ints Kužis, nun in Verruf geraten sei. Andererseits benenne man andere Abteilungen der Polizei schließlich auch nicht mit Sondernamen. Linda Mūrniece will außerdem disziplinarisch durchgreifen, jedes kleinste Vergehen solle nun wieder geahndet werden, mit der Demokratie sei es in diesem Sinne vorbei. Unangemeldete Kontrollen finden bereits statt.

Eine Psychologin sagte, jeder Polizist brauche wenigstens 20 Therapiestunden, um zu lernen, wie er seine Aggressionen in einem Job beherrscht, in welchem er beständig mit Aggression konfrontiert wird. Agris Sūna, der Chef der Polizeigewerkschaft verlangt nach wie vor den Rücktritt der Ministerin, die jetzt nun eine Hexenjagd beginne.

Estland sieht sich selbst

„Eile nägin ma Eestimaad“, sang Urmas Alender mit der Gruppe Ruja in den 80ern.

Das Mitglied der Estnischen Akademie der Wissenschaften, Endel Lippmaa erklärte jüngst in der Öffentlichkeit, Estland sei kein baltischer Staat (mehr). Lippmaa kommt eigentlich aus dem naturwissenschaftlich-mathematischen Bereich, engagierte sich aber während der Umbruchszeit politisch, war Minister und Abgeordneter der aus der ehemaligen Volksfront hervorgegangenen politischen Kräfte, ist also kein Nationalist.

Lippmaa argumentiert, daß die Politik in Estland eher der in Skandinavien realisierten gleiche als jener in den beiden südlichen Nachbarrepubliken Lettland und Estland.

Die Abgrenzung von diesen beiden anderen früheren Sowjetrepubliken, mit denen man gemeinsam im Ausland eben gern als das „Baltikum“ gesehen wird, ist nicht neu. Der jetzige Präsident Toomas Hendrik Ilves war in verschiedenen Regierungen zwei Mal Außenminister und hat in dieser Dienstzeit ebenfalls erklärt, Estland sei kein ost-, sondern ein nordeuropäisches Land. Osteuropa wurde hier verstanden als Synonym für den post-sozialistischen Raum.

Das Baltikum hat sich im deutschen Sprachraum erst im 19. Jahrhundert eingebürgert und lehnt sich an die lateinische Bezeichnung der Ostsee als Mare Balticum an. Auf Lettisch und Litauisch heißt dieses Gewässer auch Baltijas Jūra sowie auf Englisch Baltic Sea und Russisch Балтийское море. Daß die Deutschen wiederum von der Ostsee und die Schweden von Östersjön sprechen, überrascht geographisch so wenig wie der estnische Name Läänemeri, also Westmeer. Auch ist es zutreffend, daß vom Baltikum als dem geographischen Siedlungsraum der Balten sprechend, die finno-ugrischen Esten nur bedingt einschließt. Ironischerweise spricht das dem Estnischen eng sprachverwandte Finnisch von Itämeri, eben Ostsee.

Dennoch handelt es sich bei diesen Versuchen fraglos um eine Imagefrage. Daß Estland ein post-sozialistisches Land ist, ist eigentlich unbestritten. Und wie sehr vielen Esten daran gelegen ist, dies vergessen zu machen, ließ sich an einem weiteren Versuch von Eerik-Niiles Kross erkennen. Der Sohn des bekanntesten Gegenwartschriftstellers Estlands, Jaan Kross, hatte in seiner Zeit als Direktor des Büros für Sicherheitspolitik gefordert, Estland auf Englisch von „Estonia“ in „Estland“ umzubenennen, weil bei seinen Auslandsbesuchen immer alle Gesprächspartner die 1994 gesunkene gleichnamige Fähre ansprächen. Darüber hinaus schlug er damals vor, die von einer Studentenverbindung stammende Landesflagge blau-schwarz-weiß von einer Trikolore in ein wie in Skandinavien übliches Kreuz unter Verwendung der gleichen Farben zu ändern. Diese Anregungen stießen jedoch nicht auf fruchtbaren Boden.

Zweifelsohne wird Estland ein „baltischer“ Staat bleiben und die Staatssymbole werden wohl auch nicht geändert. Viele andere Staaten hat dies ebenfalls nicht an einer mittelfristigen Veränderung ihres Images gehindert. Endel Lippmaa blieb übrigens die Erklärung schuldig, wo er in Wirtschafts-, Sozial- und Steuerpolitik so viele Ähnlichkeiten zwischen den skandinavischen Staaten und Estland sieht.

Wahlen in Estland

Estland wählt im März ein neues Parlament, das inzwischen sechste seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991. 20 Jahre sind nun vergangen. Interessant ist, daß weniger als zwei Monate vor dem Urnengang inhaltliche Themen eine untergeordnete Rolle einzunehmen scheinen. Umfragen zu Folge kann sich Ministerpräsident Andrus Ansip gelassen darauf freuen, die Wahl zu gewinnen und im Amt zu bleiben und im Gegenteil zu 2007 sogar die regierende Koalition fortzusetzen. Das wäre im post-sozialistischen Raum eine der seltenen Ausnahmen. Ansip ist aber schon deshalb eine Ausnahme, weil er seit nunmehr fast sechs Jahren an der Spitze wechselnder Koalitionen im Amt ist.

Estland ist mitten in der Eurokrise in die Gemeinschaftswährung der EU aufgenommen worden und auch, wenn Estland unter den Folgen der Krise stark zu leiden hatte, sieht man auch das dramatischer Schicksal des südlichen Nachbarn Lettland, der unter anderem auch mit der Hilfe Estlands vor dem Bankrott gerettet werden mußte. Andrus Ansip gilt deshalb trotz vorhandener Kritik allgemein als erfolgreich. Die Opposition aus Sozialdemokraten und Volksunion stecken selbst seit Jahren in der Krise und sind schwach. Bleibt als Konkurrent nur noch das Urgestein der estnischen Politik, Edgar Savisaar mit seiner Zentrumspartei, der seit Jahren Bürgermeister der Hauptstadt ist. Sein Problem seit 20 Jahren liegt in seiner Person, welche die Esten spaltet, und das Fehlen von koalitionsbereiten Partnern. Folglich war er in diesem Zeitraum nur zwei Mal Juniorpartner.

Der estnische Politologe Rein Toomla analysierte, daß die Parteien sich in ihren Positionen nach rechts bewegt hätten. Im estnischen Parteiensystem ist das eigentlich nichts Neues, haben doch selbst die Sozialdemokraten gleich 1992 mit den Nationalisten koaliert und auch die Zentrumspartei vertritt linke Positionen mehr oder weniger nur als Opposition.

Gegenstand politischer Stellungnahmen sind statt politischer Inhalte systemische Fragen besonders zum Wahlsystem.

Das Wahlsystem für die Volksvertretung Riigikogu ist die Verhältniswahl mit eine fünf Prozent-Hürde und dem sogenannten System der Vorzugsstimmen. In der Wahlkabine macht der Wähler kein Kreuzchen, sondern trägt die Nummer des bevorzugten Kandidaten ein. Damit geht die Stimme an die Liste, auf welcher der betreffende Politiker kandidiert und der Wähler spricht dieser Person damit seinen Vorzug aus. In der Praxis freilich stimmen viele Wähler für bekannte und populäre Politiker, die dann ein Mehrfaches der nötigen Stimmen erhalten, um in das Parlament einzuziehen und quasi eine Lokomotivfunktion für die Liste ihrer Partei übernehmen, von der weitere Kandidaten gewählt sind nach von der Partei festgelegter Reihenfolge, möglicherweise sogar ohne selbst auch nur eine einzige Vorzugsstimme erhalten zu haben. Das bedeutet aber auch, daß individuelle Kandidaten ins Rennen steigen und versuchen können, allein das erforderliche Quorum zu erreichen, ohne einer Liste anzugehören, die mindestens fünf Prozent der Stimmen landesweit erreicht haben müßte. 2009 gelang dies bei den Wahlen zum Europäischen Parlament beispielsweise dem Fernsehmoderator Indrek Tarand. Auf nationaler Ebene ist dies auch nur in Ausnahmefällen gelungen.

Diese Hoffnung ist freilich gering, wie der Soziologe Aivar Voog sagt vorrechnet. Die vier großen Parteien in Estland, Reformpartei, Zentrumspartei, Vaterland und Res Publica Union sowie die Sozialdemokraten werden nach allen Prognosen etwa 90% der Stimmen bekommen, ein Einzelkandidat müßte also die verbliebenen zehn Prozent überzeugen gegen eine Konkurrenz aus verschiedenen Splitterparteien wie auch der Volksunion, die seit der Unabhängigkeit immer im Parlament vertreten war und erst jetzt nach zahlreichen Schwierigkeiten um den Wiedereinzug ins Parlament bangen muß.

Voog empfiehlt potentiellen Kandidaten eher, sich parteilos auf einer Liste aufstellen zu lassen und auf eines der Kompensationsmandate zu hoffen. Je mehr solcher Individualisten eine Partei aufstellen könne, desto mehr Wähler fühlten sich angesprochen. Der Soziologe spricht über dieses Thema angesichts einer zunehmenden Unzufriedenheit mit den „etablierter“ Parteien, die zunehmen Einzelpersonen motivierten, selber zu kandidieren. Im Wahlkreis Läänemaa aber müßte ein Einzelkandidat es auf 20% der Vorzugsstimmen, um die Quote zu erreichen, wohingegen in Harjumaa und Raplamaa gtu sieben Prozent genügten. Doch hier, so gibt Voog zu bedenken, stellen die regierenden Parteien starke Konkurrenten wie Ministerpräsident Andrus Ansip und den früheren Regierungschef Mart Laar auf.

Der Empfehlung von Voog folgend verkündete der nationalistisch gesinnte Historiker Mart Helme gemeinsam mit seinem Sohn Martin, bis Dezember 2010 um Anhänger zu werben, um in jedem der zwölf Wahlkreise einen eigenen Kandidaten aufzustellen, fanden jedoch derer nur sieben. Die Familie Helme wirbt mit wenig einfallsreichen und zweifelhaften Parolen. Die politische Elite habe abgewirtschaftet und handele nicht im Interesse des Volkes. Außerdem wolle man das Wahlsystem ändern und das Prinzip der Abberufbarkeit einzelner Abgeordneter einführen, was gegen die Gewissensfreiheit des Mandatsträger verstoßen würde. Ihre nationalistische Einstellung kommt bei der Forderung zum Ausdruck, Ausländern das kommunale Wahlrecht abzuerkennen. In Estland leben viele in Sowjetzeit zugewanderte Russen, die zu einem Teil den Status der Staatenlosen genießen, aber trotzdem auf kommunaler Ebene abstimmen dürfen, da im Nordosten der Bevölkerungsanteil von Menschen nicht estnischer Nationalität teilweise bei über 90% liegt.

Andere Parteien diskutieren die Senkung der 5%-Hürde. Die von der politischen Bedeutungslosigkeit bedrohte Volksunion verlangt gar eine Senkung auf 0,7% und die gleichzeitige Verkleinerung des Parlaments von 101 auf nur noch 51 Mandate. Rein arithmetisch aber wären schon zwei von 100 Prozent erforderlich, um in einer 51-köpfigen Volksvertretung einen Sitz zu erlangen, vorausgesetzt, es scheiterten nicht zahlreiche Splitterparteien sogar an dieser Hürde. Die Volksunion beruft sich dabei auf eine ehemalige Politikerin, die nach der Unabhängigkeit als Mitglied der Sozialdemokraten auch im Kabinett vertreten war. Liia Hänni ist der Ansicht, daß eine zu hohe Einzugshürde die Macht den finanzstarken Parteien der Monopolmeinung und Minderheitenpositionen unberücksichtigt überläßt.

Dem aber widerspricht das politische Establishment einschließlich ihrer ehemaligen politischen Heimat. Deren neuer Vorsitzender Sven Mikser beklagte die Unklarheit so kurz vor der Wahl, ob es sich wirklich um einen Vorschlag im Interesse des Volkes oder die eigene Popularisierung handele. Die Vaterland und Res Pulica weisen auf die Funktion zur Konsolidierung des Parlamentes hin. 1992 wäre ohne 5%-Hürde wohl die Reformregierung Mart Laars nicht zustande gekommen, heißt es. Während dessen Partei natürlich eine gewissen Voreingenommenheit unterstellt werden kann, ließe sich praktisch wenige Wochen vor der Wahl eine Änderung des Modus gar nicht umsetzen.

Die Volksunion steht sich aber angesichts grundlegender innerparteilicher Diskussion selbst im Weg. Während der Parteivorsitzende ein Kabinett aus Experten ihres Fachgebietes will, lehnt der eigene Kandidat für das Amt des Regierungschef, Jaan Toots, dies mit dem Hinweis auf die dann fehlende politische Verantwortung ab. Sein Credo ist, das Land brauche keine Koalition aus untereinander austauschbaren Parteien.

Vor vier Jahren waren auch die estnischen Grünen in Fraktionsstärke ins Parlament eingezogen, nachdem sie während der 90er Jahre eines jener Beispiele waren, die von der Möglichkeit individueller Mandate profitiert hatten. Die Grünen hatten es 2007 nicht in die Regierung geschafft und litten während der Legislaturperiode unter internen Konflikten, so daß ihr Erfolg im März unklar ist. Die Partei trat darum mit einem Zukunftsmanifest die Flucht nach vorn an, welches von zahlreichen bekannten Persönlichkeiten wie etwa dem ehemaligen Ministerpräsidenten Andres Tarand, dem Sohn des bekanntesten Gegenwartschriftstellers Jaan Kross, Eerik-Niiles Kroß, dem Direktor des Tallinner Zoos, Mati Kaal und vielen anderen unterzeichnet wurde. Es handelt sich nicht um ein Programm oder eine Beitritterklärung, sondern eher um ein moralischer Pamphlet, welches an das Gewissen eines Kulturvolkes zu appellieren versucht. Die Grünen versuchen jedoch auch, bekannte Persönlichkeiten für eine Kandidatur zu gewinnen und plädieren in diesem Rahmen für eine Öffnung der Listen. Dann könnte der Wähler nicht nur eine Vorzugsstimme abgeben, sondern die Reihenfolge der Kandidaten durch seine Stimmabgabe beeinflussen.

In einem Interview bestätigte Ministerpräsident Andrus Ansip jüngst, daß auch seine Regierung Fehler gemacht habe. Als Beispiel erwähnt er die schuldentreibenden Nachtragshaushalte, die er in einer von Kolumnisten herbeigeschriebenen befürwortenden Atmosphäre nicht habe verhindern können, obwohl seine Regierung dazu die Möglichkeit gehabt hätte. Im März wird wohl in Estland mit oder ohne Grüne und Volksunion weitgehend alles beim Alten bleiben.

„Orte“ und Personen im virtuellen Raum

Es ist an der Zeit, einen Post in eigener Sache zu schreiben. Der Anlaß ist die Kommentarspalte eines meiner Beiträge zu estnischen Politik im Estland-Blog, deren Einträge sich auf 32 summierten, ehe die „Moderation“ sich genötigt sah, dem ein Ende zu setzen. Das ist aber nicht der Grund. Der Grund ist vielmehr die Kommunikationsform im Internet und die eigenen Erfahrungen damit – den vorhandenen Möglichkeiten gegenüber gestellt.

Kommunikation ist immer ein Vorgang zwischen Kommunikator und Rezipient, wobei bei weitem nicht klargestellt ist, daß sich beide verstehen. Im persönlichen, mündlichen Kontakt geben Tonlage, Mimik und Gestik dem Rezipienten eine Möglichkeit der zusätzlichen Interpretation. Im Schriftverkehr ist dies nicht möglich. Und die Kommentierung im Internet ist ähnlich flüchtig, da oft in Eile verfaßt, wie E-Mails. Solange der Empfänger den Sender noch kennt, kennt er gegebenenfalls auch dessen Duktus. Bei Unbekannten ist dies anders. Und im Netz kann der Unbekannte noch unbekannter sein, wenn er sich hinter Nicknames versteckt.

Im Estland-Blog konnte im erwähnten Fall für Außenstehende zunächst der Eindruck entstehen, die Moderation habe zwei Streithähnen das Wort entzogen. Das stimmt natürlich nur insofern, als der Autor als Kommentator seines Posts jederzeit die Möglichkeit hat, einen neuen Text zu posten. Daß steht dem in diesem Fall anonymen Kommentator nicht offen. Er könnte, so wie dies der Autor des besagten Posts hier tut, in einem anderen Blog schreiben, wo er selbst die Moderationsfunktion innehat.

Der Grund für das moderatorenseitige Schließen der Diskussion lag in der Abschweifung vom Thema, die der Autor des Posts in seinem Kommentaren selbst angesprochen hatte. Ein zweiter Grund ist sicherlich die Frage, welchen potentiellen Leser der Disput interessiert? Zumindest gibt es keine weiteren Kommentatoren, die sich an dieser Diskussion beteiligt hätten. Das kann natürlich auch daran liegen, daß der Autor des ursprünglichen Beitrags auch bei anderen Kommentatoren kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn ihm an deren Äußerungen etwas zu kritisieren notwendig erscheint. Und wer läßt sich schon gerne deutlich kritisieren?

In jedem Fall läßt man sich als Autor natürlich nicht gerne das Wort abschneiden – verbieten möchte ich an dieser Stelle nicht sagen.

Ein Autor eines im Internet veröffentlichten Textes muß sich eigentlich immer den anonymen, und deshalb auch regelmäßig unflätigen Kommentaren stellen. Damit hat der Autor umfangreiche Erfahrung. Als Verfasser von Beiträgen auch in und über Lettland in lettischer Sprache diffamieren Leser ihn regelmäßig als schlechten Kenner der Lage, ja sprechen ihm das Recht ab, innerlettische Fragen überhaupt zu diskutieren. Ein einheimischer Kollege wiederum erlebte den Vorwurf, als er etwas über Australien schrieb, warum er denn über den fernen Kontinent schreibe und nicht über Lettland. Dies ist gewiß einem verbreiteten Provinzionalismus geschuldet, der beispielsweise anläßlich des Besuchs eines Marokkaners in einer Politikvorlesung mit Diskussion über den Umbruch in den arabischen Ländern dazu führte, daß unter den Studenten schnell nach dem Sinn von Revolutionen gefragt wurde – in Rußland ginge es jetzt schlechter als vorher – und so die Diskussion von Ägypten innerhalb von zehn Minuten beim Konflikt zwischen Russen und Letten in Lettland angekommen war.

Deshalb stellt sich immer wieder die Frage, wozu ein Autor, zumal in einem völlig unbezahlten Blog, diesen Streß auf sich nimmt. Manchmal sind Kommentare ja auch unter der Gürtellinie. So wurde dem Autor in den Kommentar eines mit einem männliche Koautor verfaßten Textes die Frage geschrieben, ob es sich bei den Autoren um ein homosexuelles Paar handele.

Trotzdem gibt es viele Gründe für eine publizistische Tätigkeit, begonnen bei der Ordnung der eigenen Gedanken, wobei ja gerade Kommentare helfen können, bis hin zu dem Wunsch, entweder damit Geld zu verdienen oder auch einfach eine interessierte Öffentlichkeit mit Informationen zu versorgen, die in diesem Umfang oder Form anderswo nicht angeboten werden. Und daß die deutsche Presse lange nicht so viel über die baltischen Staaten schreibt, wie es die Blogs können, steht außer Frage.

Auf die Blog-Nutzer geschaut stellt sich die Frage der Reichweite, wie viele (regelmäßige) Leser gibt es überhaupt und welches Vertrauen bringen diese den Autoren entgegen, ein Blog ist schließlich nicht die taz, FAZ, Zeit oder Süddeutsche – wobei diese von Blog-Kommentatoren gerne als Mainstream-Medien der Unglaubwürdigkeit bezichtigt werden. An dieser Stelle hilft natürlich ein mehr oder weniger moderierter Blog mit mehreren Autoren gegenüber einem individuellen, in dem der einzelne Autor nicht der Kontrolle „seiner Kommune“ unterliegt. Doch auch dann handelt es sich bei keinem der beteiligten Autoren zwangsläufig um Personen mit journalistischer Erfahrung, die einen journalistischen Anspruch erheben (würden).

Ein Vorteil des Blogs ist, er ermöglicht zumindest die Anonymität seiner Autoren. Der eine mag dies für sich aus verschiedenen Gründen praktizieren, für den anderen ist es ein Hindernis, die selbst verfolgten Ziele zu erreichen, was mitunter nur möglich ist, wenn er identifizierbar und vor allem auch erreichbar ist.

Und hier beginnt das Problem. Das Kommentieren von Posts ist keine Einbahnstraßen-Kommunikation, der Autor kann auf Kommentare kommentierend reagieren, aber eben nur eingeschränkt durch die Moderation oder auch durch Selbstzensur – denn wieviel Sinn macht es, auf unflätige oder unsinnige Kommentare zu reagieren? Machte es hingegen mehr Sinn, diese einfach zu löschen oder gar nicht erst zuzulassen?

Im konkreten Fall des mit 32 Einträgen kommentierten Textes über die bevorstehenden Parlamentswahlen in Estland hätte der Autor die von einem konkreten, anonymen Kommentator vorgebrachten und mit Estland nur noch in bedingtem Zusammenhang stehenden Thesen gerne separat diskutiert. Warum auch sollte dies in einer Kommentarspalte geschehen, wo dies vielleicht keinen anderen Leser interessiert? Ganz abgesehen davon handelte es sich um einen schon eher wissenschaftlichen Disput, dessen Inhalt tatsächlich mit dem Post selber, der eigentlich nur eine Nachricht war, nur noch sehr wenig im Zusammenhang stand. Doch während der Autor identifizierbar ist und der Kommentator dementsprechend seine Ideen hätte diesem persönlich mailen können, blieb der Kommentator hinter seinem Nickname versteckt und gab dem Autoren keine Möglichkeit, den Disput privat fortzusetzen – überdies in dieser Kombination nicht das erste Mal.

Der konkrete Kommentator ist eigentlich immer mit den Posts des konkreten Autors im Estland-Blog unzufrieden, soweit es um Politik geht. Und um Politik geht es eigentlich angesichts der Profession des Autors immer. Der Kommentator übersieht dabei, daß, so der Blog nicht in privater Tagebuchform geführt wird, es verschiedene journalistische Formate gibt: Nachrichten, Reportagen, Kommentare, Glossen usw. Der Autor hält sich vorwiegend an ersteres, denn das Ziel ist es, der interessierten Öffentlichkeit mitzuteilen, was in und um Estland geschieht, nicht dieses aus seiner eigenen politischen Überzeugung zu bewerten, geschweige denn wissenschaftlich zu bearbeiten. Doch der Kommentator negiert bei jedem Post die Vertrauenswürdigkeit der Quelle und wirft dem Autor vor unkritisch zu sein. Zwischen den Zeilen läßt sich dabei eine Verurteilung allen, was in Estland politisch geschieht, herauslesen. Er erwartet also vom Autor die Kritik der estnischen Zeitläufte. Dies ist aber nie das Ziel der Texte, zumal es verständlich ist, daß für die meisten Posts keine eigene journalistische Recherche vorgenommen wird, sondern eher wiedergegeben wird, was die estnischen Medien im Chor berichten.

Selbst behauptet der Kommentator von sich, Doktorand der Politikwissenschaften zu sein und von diversen Organisationen finanziell gefördert zu werden. Das wird wohl, selbst wenn er es unter einem Pseudonym schreibt, so stimmen. Nicht sicher hingegen ist, ob seine wissenschaftlichen Arbeiten erstens denselben Duktus haben, wie seine Kommentare im Estland-Blog, und zweitens er auch an der Universität so einseitig diskutiert wie hier. Sei es nun die Euro-Einführung in Estland oder die nach Meinung des Kommentators völlig deplazierte neo-liberale Politik des Landes, es werden von ihm zahlreiche auch im Internet zugängliche Quellen renommierter Autoren genannt, die seine Meinung untermauern. Geflissentlich und ziemlich unwissenschaftlich geht er jedoch nicht darauf ein, daß in den Wissenschaften Thesen üblicherweise diskutiert werden, es also meistens auch eine Anti-These gibt. Die Diskussion um den Euro hat dies jüngst mehr als deutlich gezeigt. Vielleicht liegt es auch daran, daß der Kommentator auf die von ihm zitierten Autoren und Thesen entkräftende Argumente immer nur mit neuerlichen Zitaten weiterer Autoren antwortet. Im Grunde also kommt ein wissenschaftlicher Disput in der Kommentarspalte des Estland-Blogs gar nicht zustande, weil sich der Kommentator dem verweigert.

Diskussion ist jedoch in einer Demokratie wichtig. Und vielleicht ist die fehlende Bereitschaft das Kommentators zum Disput im Estland-Blog symptomatisch, er äußert nämlich auch in seinen Inhalten ein Demokratieverständnis, das stellenweise mehr als merkwürdig ist. Aber eine Wiederholung der bereits im Netz stehenden Diskussionen über Wahlergebnisse, deren Repräsentativität angesichts des Boykotts einer schweigenden Mehrheit und der generelle Zweifel an der Demoskopie ist an dieser Stelle überflüssig.

Es ist dabei eine Fußnote, daß der Kommentator auch sachlich schlecht informiert ist, er müßte sonst wissen, daß das Sozialversicherungssystem Estlands entschieden weniger neo-liberal ist als das des südlichen Nachbarn Lettland.

Nur so viel steht fest, der Kommentator ist ein Serientäter. Den Nickname einfach mal googelnd findet man noch andere Stellen im Netz, wo der Kommentator Texte anderer Autoren kommentiert hat. Und um ihn im mit Google verheirateten Blogspot besser zu finden, sei mit „moevenort“ der Nickname auch in diesem Text wenigstens einmal erwähnt. Der Estland-Blog darf sich der Achtung des erwähnten Kommentators erfreuen, denn hier unterscheidet sich sein Duktus doch positiv.

P.S.: moevenort, mir als promoviertem und deutschsprachigem Politiolgen könnten Sie doch vielleicht im Gegensatz zu "antyx" Ihr Publikationsverzeichnis schicken. Das werde ich in keiner Datenbank wohl unter einem Ort finden, an dem sich Möven aufhalten, ohne damit etwas (Böses) über diese Vögel sagen zu wollen.
http://blog.antyx.net/2011/02/estonian-parliamentary-elections-are.html