Freitag, 23. September 2011

Letten mißtrauen sich selbst

Dieser Text ist vor den außerordentlichen Parlamentswahlen entstanden.

Also über Politikverdrossenheit wird auch in den etablierten Demokratien Westeuropas seit so langer Zeit diskutiert, daß jeder Student jahrzehntealte Werke zum Thema in der Uni-Bibliothek finden kann. Mal heißt es Politik-, dann Parteien- oder Politikerverdrossenheit, was man wissenschaftlich mit verschiedenen Methoden auseinanderdröseln kann. Selten jedoch hinterfragt mal der Durchschnittsmensch seine eigenen Erwartungen an den Staat und seinen Beitrag zum Schlamassel.

Die Letten haben nun plakativ das Mißtrauen gegen sich selber geäußert, indem sie in einem Referendum am 23. Juli 2011 das von ihnen selbst erst am 2. Oktober 2010 (neun Monate und 21 Tage, die Zeit einer Schwangerschaft!) gewählte Parlament in die Wüste geschickt haben. Umfragen belegen nicht nur, daß viele Wähler so wie immer vor Wahlen in den vergangenen 20 Jahren nicht wissen, wen sie wählen sollen, sie zeigen auch, daß sowohl Referendumsmuffel – die eine Neuwahl meist für überflüssig hielten – als auch Befürworter der Entlassung des Parlamentes wenig Erwartungen in die Neuwahl setzen. Ein vom lettischen Radio interviewter Passant bringt es auf den Punkt: zunächst einmal müsse sich die Gesellschaft verändern.

Und so verwundert es auch wenig, daß, obwohl andere Passanten bekundeten, ausschließlich für neue Gesichter stimmen zu wollen, da die alten ihre Zeit in mehreren Parlamentszusammensetzungen abgesessen hätten, bei der anstehenden Neuwahl viele alte Gesichter wieder zur Wahl stehen – inklusive Ainārs Šlesers sogar als Spitzenkandidat seiner Partei, dessen von den Abgeordneten-Kollegen abgelehnte Immunitätsaufhebung der Grund für den historisch einmaligen Schritt des abgetreten Präsidenten Valdis Zatlers zur Parlamentsauflösung war.

Damit bleibt einstweilen und ziemlich sicher auch danach alles beim Alten. Der politische Diskurs verändert sich nicht. Der Bürgermeister von Ventspils, Aivars Lembergs, steht erneut als Chef der Exekutive zur Verfügung, weigert sich aber wie immer, sich in die Niederungen des politischen Alltags zu begeben und Abgeordneter zu werden.

Šlesers bemerkt zutreffend, daß sich die Menschen weniger für Wahlrechtsänderungen interessierten als für ihren Lebensstandard und sich die Politik deshalb genau darum zu kümmern habe, ohne zu erklären, warum er als langjähriger Minister in Regierungen saß, die dieses Ziel gewiß nicht als Priorität behandelt haben. Der Spitzenkandidat des Harmoniezentrums, Jānis Urbanovičs will auch erst einmal expressiv verbis für drei Jahre als Priorität den Lebensstandard heben, danach könne sich die Politik Fragen widmen, ob es nun eine Okkupation gegeben habe oder nicht.

Hintergrund ist die Forderung der Einigkeit nach den letzten Wahlen, das Harmoniezentrum müsse, um eine Zusammenarbeit in der Regierung möglich zu machen, die Okkupation anerkennen. Rigas Bürgermeister Nil Uschakow war ebenfalls kritisiert worden, daß er bei seinem Besuch im Museum dieses Namens gleich gegenüber des Rathauses diesen Begriff sich geweigert hatte in den Mund zu nehmen.

Die seit den letzten Wahlen nationalistischer gewordenen Nationalisten legen in Umfragen zu. Darüber freut sich Nationalist Raivis Dzintars, der ebenfalls mit dem alten Dauerbrenner in den Wahlkampf ziehen will, es müsse künftig ein Machtzentrum beim Präsidenten statt im Koalitionsausschuß gehen, will sagen, die Verfassung müsse geändert werden.

Mit anderen Worten, während Lettland und seine Bevölkerung unter den Folgen der Krise leidet, diskutieren die Politiker über Verfassung und Vergangenheit und versuchen, sich Pfründe und juristische Sicherheit zu erhalten. Es steht zu befürchten, daß die Wähler sich auch erneut für diese Positionen entscheiden werden.

Einziger Neuzugang im politischen Spektrum ist die Partei von Ex-Präsident Zatlers, der mit der Benennung seiner Partei als Zatlers Reformpartei unter Aufnahme seines Nachnamens sowohl schwer an den deutschen Joachim Siegerist mit seiner fragwürdigen Siegerist Partei erinnert, als auch bislang auf eine Festlegung in Fragen von Inhalten und Personal weitgehend verzichtet, was er in seinem weiterhin abgehackten Redestil gern in jedes Mikrophon rechtfertigt.

Ja, wahrscheinlich werden die lettischen Parteien wieder einmal nicht mit dem Harmoniezentrum koalieren wollen. Vermutlich sollte es für die Einigkeit mit Zatlers und den Nationalisten reichen, vielleicht aber auch in anderer Konstellation mit der Union aus Grünen und Bauern. Ohne letztere wäre allerdings ein positiver Aspekt anzumerken, es gäbe erstmalig keine Oligarchen mehr in der Regierung. Wie professionell jedoch Zatlers politische Genossen arbeiten werden, nachdem er einen in den 30ern stehenden Unternehmer als Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten ausgerufen und einen Millionär für das Finanzministerium nominiert hat, bleibt ebenso ungewiß wie die Frage, wie die eher national denkende Bürgerliche Union innerhalb der Einigkeit mit den Nationalisten in einer allfälligen Regierung erneut in die nationale Frage über die sozio-ökonomische stellt.

Lettland hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren in der Öffentlichkeit vorwiegend mit der Vergangenheit statt mit der Zukunft beschäftigt, während im Hintergrund ganz andere politische Inhalte verfolgt wurden. Einstweilen deutet alles darauf hin, daß sich daran auch nach dem nächsten Urnengang nichts ändert. Sechs Monate sieht die Verfassung vor, ehe eine neuerliche Parlamentsauflösung möglich ist. Seit vergangenem Jahr kann dies auch das Volk allein mit einem Referendum anstrengen, den Präsidenten braucht es dazu nicht mehr. Mal sehen, wie lange die Letten dieses Mal Vertrauen in ihre eigene Entscheidung setzen.

Der Jurist Jānis Pleps erklärte, daß die Gesellschaft ihre Meinung, Politik sei ein schmutziges Geschäft, zügig ändern müsse. Politiker sei ein Job mit hoher Verantwortung, der enorme Kenntnisse verlange. Die negative Einstellung gegenüber der Politik in der Bevölkerung halte die kompetentesten Leute von einer politischen Karriere ab. Also Politikverdrossenheit als self-fulfillig prophecy. Und da steht Lettland dem Westen in nichts nach oder vor. Der aus der ehemaligen DDR stammende Politologe Dieter Segert gab seinem Sammelband über die Parteiensysteme Osteuropas bereits vor Jahren den Titel Osteuropa als Trendsetter.

Sonntag, 4. September 2011

Noch einmal Drambjan

Im August gab es in Estland einen Amoklauf im Verteidigungsministerium, der auch im Blog diskutiert wurde. Im Estland-Blog gab es eine Erörterung der unterschiedlichen Angaben in der Presse. Wikipedija ist sicher alles andere als eine sichere Quelle, aber es ist interessant zu sehen, daß unmittelbar nach den Ereignissen im August über den Täter ein Artikel eingestellt wurde, den es einstweilen auf Englisch, Estnisch und Finnisch gibt.

Die estnische Version bezeichnet Drambjan als Lokalpolitiker, Jurist und Terrorist, der das sowjetische Estland habe wieder herstellen wollen (sic!). Er stamme aus Armenien, seine Muttersprache sei jedoch Russisch. Er habe in Tartu und Kaliningrad studiert, sei geschieden und Vater zweier Töchter, von denen eine in Spanien lebt.

Drambjan habe als Anwalt 2007 Larissa Neštšadimova (estnische Transkription) von Ночной дозор (nächtliche Wache) verteidigt, die im Zusammenhang mit den Ausschreitungen wegen der Versetzung des bronzenen Soldaten angeklagt worden war, wurde aber später durch einen “fähigeren”, der Landessprache mächtigen anderen Juristen ersetzt. Wie gut er sich im estnischen Recht nach der Unabhängigkeit auskannte, wurde bislang weder von der Presse noch von Wikipedija erwähnt.

Drambjan gehörte eine Weile der inzwischen im Parlament nicht mehr vertretenen Volksunion an, die mehrfach mutierte Partei des ehemaligen Präsidenten Arnold Rüütel. Darüber hinaus war er aktiv in der Splitterbewegung Konstitutionspartei sowie in der Vereinigten Linkspartei, der heute bedeutungslosen Nachfolgeorganisation der Kommunisten Estlands. Der gebürtige Armenier hatte nach 1999 für die Liste “Zukunft Maardus” im Stadtrat von Maardu gesessen, war aber mit jeweils 45 und 23 Stimmen als Kandidat der Volksunion und der Linkspartei angehörender Einzelkandidat später nicht erneut gewählt worden. Für die Konstitutionspartei hatte er 2007 auch erfolglos versucht, im Wahlkreis Tallinn-Piritia ins nationale Parlament zu gelangen.

Der Beitrag in Wikipedija diskutiert ebenfalls, daß von politischer Seite nach dem Anschlag in Tallinn der Vergleich zum Amoklauf in Norwegen gezogen wurde und das Psychologen der Ansicht sind, Drambjan habe es lediglich an Aufmerksamkeit gefehlt, sein Tot wäre somit vermeidbar gewesen. Zu den Motiven wird auch hier spekuliert über die schwierige Lebensituation des Verstorbenen, der seine Kanzlei wegen mangelnde Kenntnisse der Landessprache hatte schließen, Wohnung, Sommerhaus und Auto verkaufen müssen und bei Freunden lebte und später einen Schlafplatz in Lasnamäe gemietet habe.

Wer laut wird, hat Recht oder Zufallsgenerator an die Wahlurnen!

In Lettland hat jüngst der Vertreter einer Splitterpartei eine live übertragene Diskussion von Kandidaten zur vorgezogenen, außerordentlichen Parlamentswahl gestört. Der Mann fiel zunächst mit einigen Anhängern sowohl vor Beginn der Sendung als auch während der Übertragung durch laute Kommentare und pfeifen auf und wurde von den Moderatoren um mehr Disziplin gebeten. Auf diese Aufforderung reagierten die Angesprochenen jedoch nicht. Während der eine die Veranstaltung zu stören versuchte, wurde das Geschehen von einem anderen gefilmt. Ein Beteiligter reagierte während einer Werbeunterbrechung auch auf weitere Bitten selbst des Publikums nicht, sondern stürmte auf die Bühne. Er überschüttete die Kandidaten Augsust Brigmanis von der Union aus Grünen und Bauern und den Vertreter von „Alles für Lettland!“, Imants Parādnieks mit Wasser und wurde von der Polizei verhaftet.

Der während der Sendung in Bauska verhaftete Dainis Grabovskis behauptet nun, er habe nicht persönliche Aufmerksamkeit erregen wollen, sondern verlange gleiches Recht für alle. Er kandidiert für die Partei „Volkskontrolle“ und ist führendes Mitglied eines Vereins von Globalisierungsgegnern und wollte in der Funktion als Kandidat ebenfalls an der Fernsehdebatte teilnehmen dürfen. Es sei unfair, daß nur die großen Parteien zu solchen Sendungen geladen würden. Auf der Bühne stünden die Vertreter von im Parlament vertretenen Parteien, die im Juli durch Referendum entlassen worden seien, aber neue politische Kräfte, die angetreten seien, etwas im Lande zu verändern, erhielten keine Chance.

Grabovskis wird minderschweres Randalieren vorgeworfen, ihm droht eine Geldstrafe im „Wert“ von 15 Tagen Haft. Der Festgenommene stand nicht unter Alkoholeinfluß.

Armands Agrums von den Christdemokraten kritisierte im lettischen Radio zwar die Methoden von Grabovskis, stützt aber dessen Meinung, daß kleine Parteien weniger Möglichkeiten zur Darstellung in den Medien erhielten. Das Fernsehen sei schließlich kein Privatunternehmen und werde von den Steuern finanziert, die alle zahlten. Er meint, gegebenenfalls könnten sich dann ja die kleinen politischen Kräfte auch als die schlechtere Alternative präsentieren. Kaspars Lazdāns von der Partei Freiheit, frei von Mehrwertsteuer, Haß und Wut und pflichtet dem ebenfalls bei, es müsse eigentlich Gleichheit herrschen, doch die Umfragewerte „sortierten“ schließlich die Parteien. Das lettische Fernsehen rechtfertigt sich mit dem Argument, Debatten mit zu vielen Teilnehmern seien für den Zuschauer langweilig.

Der Jura-Dozent der Universität Lettlands, Dr. Artūrs Kučs, sagte dem lettischen Radio ebenfalls, daß die öffentlichen Medien in Lettland auf diese Weise die Prinzipien der Verfassung mißachteten. Die Wähler hätten ein Recht darauf, auch auf die Meinung der Splitterparteien zu hören. Sein Vorschlag, das Prinzip, allen eine Chance zu geben und die Zahl der Debattenteilnehmer gleichzeitig zu begrenzen: Bei den Einladungen sollte das Fernsehen das Zufallsprinzip anwenden.

Der Mann sollte noch einmal eine Stunde Mathematik, Wahrscheinlichkeitsrechnung nachholen. Auf diese Art und Weise könnte es erstens zu Debatten nur zwischen Splitterparteien kommen und in Umfragen an der Spitze stehende Parteien total ausgeschlossen werden. Bei 6 aus 49 ist die Wahrscheinlichkeit, daß mehrfach die gleiche Kombination entsteht nicht kleiner als die, daß die gleiche Zahl kein zweites Mal gezogen wird. Das öffentliche Fernsehen darf, auch wenn es von allen finanziert wird, nicht das Interesse der Zuschauer ignorieren. Eine Mehrheit der Zuschauer hat auch die Mehrheit der Finanzierung geleistet. Freilich soll an dieser in keiner Weise einer in Lettland verbreiteten Meinung das Wort geredet werden, Demokratie sei die Diktatur der Mehrheit.