Samstag, 15. Februar 2014

Unabhängiger Indrek Tarand kandidiert wieder

Vor fünf Jahren wurde der in Estland vor allem als Fernsehmoderator bekannte Tarand als Unabhängiger Kandidat ins Europaparlament gewählt. In die Politik ging er allerdings nicht völlig unbedarft. Tarand war in den 90er Jahren Berater des etrsten Ministerpräsidenten nach der Unabhängigkeit, Mart Laar, und später unter seiner jetzigen Parlamentarierkollegin, Kristiina Ojuland, als Außenministerin Staatssekretär. Tarand hatte in den vergangenen Monaten offen gelassen, ob er erneut anzutreten gedenke. Er hatte erklärt, er müsse erst seinen 50. Geburstag abwarten, um die entsprechende Reife für die Entscheidung zu erlangen. Anfang Februar wurde er nun 50 und tart mit der Ankündigung an die Öffentlichkeit, er werde seinen Hut in den Ring werfen. Als Begründung gab er die geplante Rochade zwischen Siim Kallas und Andrus Ansip an, die ihn abstoße.. Von solch einem vorher angekündigten Rollentausch habe man bei aller Unterstützung, die Parteifreunde bei einer Kandidatur leisten können, noch nie gehört. Die Kommentare im Internet zu der entsprechenden Meldung sind inteteressanterweise sehr gespalten. Die einen Wähler würden ihn jederzeit wieder wählen, andere geben an, von der Arbeit Tarands im EU-Parlament nichts gehört zu haben. Ein dritter Kommentator wiederum meint, das Volk habe die Nase voll von dem Entertainer. Diesem Kommentar wird nun wiederum vorgeworfen, woher ein einzelner wissen wolle, daß das ganze Volk von Tarand enttäuscht sei.

Dombrovskis will Präsident der EU-Kommission werden

Die größte Regierungspartei Vienotība (Einigkeit) hat am Samstag den im November wegen des Zusammebruchs eines Supermarktes zurückgetretenen ehemaligen Ministerpräsidenten Valdis Dombrovskis offiziell als ihren Kandidaten für das Präsidentenamt der EU-Kommission und somit als Nachfolger für José Manuel Barroso aufgestellt. Um einen Kandidaten zu benennen bedarf es der Unterstützung aus der eigenen Parteienfamilie und Fraktionsgemeinschaft im EU-Parlament aus wenigstens zwei weiteren Staaten. Diese haben die Parteifreunde aus Litauen und Estland zugesagt. Für das Europaparlament kandidieren neben Dombrovskis die bisherige Abgeordnete Sandra Kalniete, der ausgeschiedene Verteidigungsminister Artis Pabriks wie auch die derzeitigen Vertreter ihrer Partei in Brüssel Krišjānis Kariņš, Kārlis Šadurskis und Inese Vaidere. Da die Wähler bei den lose gebundenen Listen in Lettland Kandidaten ausstreichen können, gibt es mehr Kandidaten als Lettland mit 8 Sitzen im Europaparlament zustehen. Deshalb folgen noch der Vorsitzende des auswärtigen Ausschusses Ojārs Ēriks Kalniņš, der Saeima Abgeordnete Andrejs Judins, der im vergangenen Jahr die Kindertausch-Aktion ins Leben gerufen hatte, der bisherige parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Veiko Spolītis und andere. Reelle Aussichten dürften nur die ersten drei genannten Kandidaten haben, weil die Vienotība bei weitem nicht mehr so populär ist, wie vor fünf Jahren. Es ist nicht auszuschließen, daß sie sogar nur zwei Sitze erreicht.

Donnerstag, 13. Februar 2014

Politische Rochade in Estland?

Böse Zungen haben den Vergleich mit Medwedew und Putin in Rußland bereits gezogen! In der estnischen Politik könnte sich dieses Jahr ein fliegender Ämterwechsel vollziehen zwischen Ministerpräsident Andrus Ansip und Europakommissar Siim Kallas. Ansip würde im kommenden Jahr sein zehnjähriges Jubiläum im Amt feiern, müßte dafür aber auch die anstehenden Wahlen im März 2015 gewinnen. Das könnte ihm schwer fallen, weil in seiner langen Regierungszeit – ein einmaliger Rekord im gesamten postsozialistischen Raum – die Bevölkerung seiner langsam überdrüssig wird, und nicht nur das. Es gibt handfeste Proteste aus breiten Bevölkerungssschichten wie auch von intellektueller Seite. Im Herbst 2012 wurde intensiv vor dem Parlament in Tallinn demonstriert. Eine ehemalige Weggefährtin und Parteifreundin von Kallas und Ansip, die Europaabgeordnete Kristiina Ojuland, die unter Kallas als Außenministerin diente, warf ihrer alten Partei vor, vom Namen Reformpartei sei nur noch die Hülle übrig geblieben und schickt sich an, eine neue Partei ins Leben zu rufen. Der frühere Ministerpräsident und Gründer der Reformpartei, Siim Kallas, war nun zehn Jahre lang für Estland in der EU-Kommission und kann sich eine Rückkehr in die Heimat vorstellen. Darum schickte er kürzlich einen Brief an seine Parteifreunde mit dem Vorschlag, er sei bereit das Amt des Regierungschefs erneut zu übernehmen, um die estnische Präsidentschaft der EU im Jahre 2018 vorzubereiten. Andrus Ansip wiederum könnte nach Brüssel wechseln. Dieser Vorschlag könnte deshalb von Kallas kommen, weil es hinter den Kulissen heißt, Ansip wolle sich nicht selbst vorschlagen. Ansip aber hatte dafür Kallas schon vorher als seinen Nachfolger vorgeschlagen, da Estland bis zur EU-Präsidentschaft einen erfahrenen Regierungschef brauche, ohne gleichzeitig einen Termin für seinen eigenen Rücktritt zu nennen. Hindernisse auf dem Weg zu einer solchen Rochade bestehen dennoch. Erstens war Kallas bereits einmal Regierungschef, und zweitens wurde bislang der jüngere Außenminister Urmas Paet ebenfalls als möglicher Nachfolger von Ansip gehandelt. Darüber hinaus befindet sich die Reformpartei derzeit in einer Koalition mit der Konservativen Vaterlandsunion, die gerne selber den Europakommissar stellen würde und bei einer eventuellen neuen Regierungsbildung unter einem anderen Regierungschef eventuell generell das Nachsehen haben könnte, wenn sich die Reformpartei einen anderen Partner sucht, der im Parlament umgekehrt für die Konservativen nicht in Sicht ist. Beide Oppositionsparteien, die Sozialdemokraten und die Zerntrumspartei, äußerten sich zwar zurückhaltend über Kallas’ mögliche Rückkehr, charakterisierten ihn aber als umgänglicher und kompromomißorietierter im Vergleich zu Ansip und böten sich entsprechend als Koalitionspartner auch für eine neue Regierung an.

Lettland verliert erneut in Straßburg

Lettland hat vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte des Europarates nicht erst einen Prozeß verloren. Vor einigen Jahren ging ein Fall durch die Medien, als ein früherer Häftling, der in der JVA Daugavpils im Osten des Landes eigesessen hatte, wegen der unmenschlichen Haftbedingungen dort eine Entschädigung von mehr als 11.000 Lat zugesprochen bekam – das sind knapp 16.000 Euro. Viele mußten auch erst begreifen, daß es sich hier nicht um eine einmalige Strafe für Lettland handelte, sondern umm ein Schmerzensgeld, auf das nach diesem Urteil quasi jeder Gefangene aus Daugavpils hätte einfordern können. Nun hat das Gericht im Fall Cēsnieks gegen Lettland für erwiesen erachtet, daß im Jahre 2002 der Beschuldigte von der Polizei mit Gewalt zu Geständnissen gedrängt wurde. Der Gerichtshof betonte, es sei nicht seine Aufgabe die Glaubwürdigkeit der Beweise zu prüfen, auch würden juristische Fehler und Irrtümer bei den Fakten in den nationalen Gerichten nicht bewertet. Wichtig sei aber die Garantie der Gerechtigkeit, welche die Menschrechtskonvention vorsieht. Und in dieser ist die Anwendung von Gewalt ausdrücklich untersagt. Der Kläger verlangte 9.490 Euro als Kompensation für seine Ausgaben und 50.000 Euro Entschädigung. Das Gericht sprach ihm jeweils 5.037 und 6.000 Euro zu. Vorausgegangen war die Festnahme des Beschuldigten für die Beteiligung an einem Mord, nachdem er zunächst erst als Zeuge gehört worden war. Während des Verhörs wurde der Mann mißhandelt und legte ein Geständnis ab. Das Rigaer Regionalgericht gab später dem Beschuldigten Recht, während anschließend der Kriminalsenat des Obersten Gerichtshofes den Mann erneut wegen seines ursprünglichen Geständnisses veruteilte. Ähnlich verhält sich der zweite Fall Sapožkovs gegen Lettland. Der Beschuldigte wurde bei Sichtung seiner persönlich Gegenstände bei der Üerführung in das Gefängnis Daugavgrīva mit einem Gummistock geschlagen, was später auch bei einer ärztlichen Untersuchung dokumentiert wurde. Die Gewaltanwendung wurde von den Behörden damit begründet, der Häftling habe die Durchsuchung seines Eigentums gestört. In diesem Fall verlangte der Kläger sogar 90.000 Euro Entschädigung, zugebilligt wurden ihm aber nur 4.000. Die lettische Regierung hatte sich beim Gericht darüber bewschwert, daß der Kläger nicht sofort Beschwerde eingereicht habe. Der Gerichtshof wies seinerseit auf die Notwendigkeit der Garantie einer effektiven Untersuchung hin. Bei Besuchen in Lettland während der letzten zehn Jahre sei man aber zu dem Schluß gekommen, die zuständigen Amtspersonen in den Gefängnisses seien nicht unabhängig. Damit sei eine ordentliche Untersuchung derartiger Vorfälle beinahe unmöglich. So wurden Eingaben bei der Staatsanwaltschaft zurückgewiesen und ein entsprechendes Verfahren eingestellt, nachdem die Verwaltung des gefängnisses seine Version der Vorfälle vorgetragen hatte.

Sonntag, 9. Februar 2014

Korruptionsbekämperin zum dritten Mal entlassen

Die Anti-Korruptionsbehörde, KNAB, in Lettland ist seit ihrer Gründung 2003 regelmäßig in den Schlagzeilen. Und das nicht unbedingt wegen spektakulärer Erfolge oder Mißerfolge, sondern wegen der oft politisierten Personalpolitik. Über die Vergabe des Chefpostens wurde sich die Politik gleich am Anfang nicht einig und berief schließlich Andrej Loskutow, der später entlassen wurde. Ihm folgte Normunds Vilnītis, der ebenfalls aus dem Amt gejagt wurde.. Der derzeitige Chef Jaroslaw Streļčenoks, welcher als erster nicht von außen kam, sondern bereits vorher in der Behörde gearbeitet hatte, entließ dieser Tage zum dritten Mal innerhalb von knapp zwei Monaten seine Stellvertreterin Juta Strīķe, welche dieses Amt quasi von Beginn an bekleidet. Das erste Mal erfolgte dies am 20. Dezember kurz vor Weihnachten. Der damals noch geschäftsführend im Amt befindeliche Ministerpräsident Valdis Dombrovskis annulierte den Schritt von Streļčenoks umgehend. Eine weitere Entlassung erfolgte am 14. Januar 2014, die ebenfalls vom immer noch die Geschäfte führenden Dombrovskis an seinem letzten Tag im Amt aufgehoben wurde. Die neue Regierungschefin Laimdota Straujuma bemühte sich um ein Treffen mit dem Leiter der Anti-Korruptionsbehörde, was jedoch einstweilen nicht zustande kam. Ähnlich erging es dem Generalstaatsanwalt Ēriks Kalnmeiers. Streļčenoks wirft seiner Stellvertretering nach einem wiederholten Monitoring ihrer Tätigkeit vor, ihre Amtsgeschäfte nicht ausgeführt und mehrfach gegen verschiedene Vorschriften verstoßen zu haben. In der Tat hatte Strīķe nicht nur eine Entscheidung ihres Vorgesetzten während dessen Urlaub in der Vergangenheit aufgehoben. Daß es zum Konflikt kommen würde, war somit vorprogrammiert. In einem Interview mit dem Magazin „ir“ erklärte Strīķe, weiter für ihren Verbleib im Amt zu kämpfen. Auf die Frage, warum sie nach der Entlassung von Streļčenoks’ Vorgänger nicht selbst kandidert habe, antwortete sie, daß vermutlich nur wenige politisch Verantwortliche sie in diesem Amt sehen wollten. Bei vorherigen Auswahkverfahren war sie nicht gewählt worden. Die Anti-Korruptionsbehörde hat in Lettland angesichts verschiedener Skandale und Verwicklung von öffentlicher Hand und Politik darin, nicht wenig zu tun. Einer der bekanntesten darunter sind die Ungereimtheiten bei der staatlichen Luftfahrtgesellschaft air baltic unter deren langjährigen Chef Berthold Flick, Sproß der bekannten deutschen Unternehmerfamilie. Der jüngste Skandal rankt sich um die Absetzung des Vorsitzenden des Rigaer Regionalgerichts. Juta Strīķe betont im gleichen Interview sich auf die internationale Zusammenarbeit mit vergleichbaren Behörden im Ausland berufend, man wundere sich dort, warum mit den vorliegenden Beweisen ein Fall nicht zur Anklage komme. In ihrem Land würde das vorliegende Material völlig ausreichen. Der Think Tank Providus hat ebenfalls erst kürzlich in einem Bericht zur Lage der Korruption im Lande darauf hingewiesen, daß nie so wenig Fälle vor Gericht gekommen seien wie im Jahr 2013. Es besteht kein Zweifel an der Korrumpiertheit von lettischer Politik und Verwaltung, die gewiß italienische Ausmaße oder auch nur französische sicherlich nicht erreicht. In einem kleinen Land von gerade etwas mehr als zwei Millionen Einwohnern, wo jeder fast jeden kennt, ist die Gefahr von Einflußnahme groß, wobei es von außen schwer zu beurteilen bleibt, was hinter den Kulissen passiert und wer auf wen Druck ausübt. Juta Strīķe berichtet im Intgerview ruig, sie habe immer damit gerechnet, daß eines Tages der Tag kommt, an dem sie entlassen und auf Ersparnisse angewiesen sein wird. Diese habe sie.

Wollen die Letten das imperative Mandat?

Das lettische Parlament berat seit etwas mehr als einem Jahr eine Petition aus den Reihen der Bevölkerung. Etwa 13.000 Menschen hatten auf der politischen Mitmachseite www.manabalss.lv eine Motion unterschrieben, die eine Möglichkeit zu Abberufung von Parlamentsabgeordneten bietet. Selbstverstunlich mag es dem ein oder anderen oder gar vielen Wählern vernünftig erscheinen, Abgeordnete zu schassen, die ihre vollmundigen Wahlversprechen nicht einhalten oder gar in irgendwelche Skandale verwickelt sind. Doch Lettland ist wie Deutschland eine repräsentative Demokratie, in welcher Volksvertreter auf Zeit vom Volk gewählt werden, um dieses zu vertreten. Damit sie dabei möglichst nicht unter von jedweder Seite stehen, gibt es die Gewissensfreiheit, die im deutschen Grundgesetz in Artikel 38 festgelegt ist. Freilich spricht man in der Öffentlichkeit gerne von Fraktionszwang, und es versteht sich von selbst, daß Regierungen sich auf die sie stutzenden Fraktionen verlassen können sollten, um ein stabiles Regieren zu gewährleisten. Und in spektakulären Einzelentscheidungen wird dann gerne einmal erklärt, der Fraktionszwang sei bei dieser konkreten Abstimmung aufgehoben. Aber gesetzlich gibt es einen solchen natürlich nicht. Einen Abgeordneten abberufen zu können, stellt die Volksvertreter jedoch unter den konkreten Druck ihrer Wähler. Und das auch wieder nur bedingt, schließlich gibt es ein Wahlgeheimnis. Das bedeutet, über die Abberufung eines Abgeordneten wurden nicht nur jene Wähler entscheiden, die bei der vorherigen Wahl diesen konkreten Politiker gewählt haben – in Lettland wählt man mit lose gebunden Listen, auf welchen mißliebige Kandidaten auch ausgestrichen werden können – sondern alle. Da ist dann anläßlich einer Motion zur Abberufung ziemlich sicher, daß neben unzufriedenen Wählern, die noch bei der Wahl diesen Politiker bevorzugten, dessen Gegner freilich auch alle gegen ihn stimmen werden. In diesem Fall konnte man sich eine Abstimmung beinahe sparen. Einen Abgeordneten abberufbar zu machen, kommt außerdem nahe an das Imperative Mandat heran. Die Wähler wurden also ihre Volksvertreter mit einem konkreten Auftrag in das Parlament schicken. Das konnte natürlich dazu fuhren, daß Kandidaten sich mit ihren Versprechungen zurückhalten. Aber ob der Wähler bei einer Wahlkampagne realistischere Ankündigungen goutieren wurde, bleibt ebenfalls eine offene Frage. Und genau weil die Idee mit dem abberufbaren Abgeordneten demokratietheoretisch problematisch ist, wurde der entsprechende Gesetzentwurf in den Ausschössen des lettischen Parlaments bereits dahingehend korrigiert, daß ein Abgeordneter von seinem Mandat entbunden werden konnte, wenn er gegen seinen feierlichen Eid verstößt. Doch was soll man da als Verstoß werten dürfen? Der Eid ist ja eine sehr allgemein gefaßte Formulierung. «Es, uzņemoties Saeimas deputāta amata pienākumus, Latvijas tautas priekšā zvēru (svinīgi solu) būt uzticīgs Latvijai, stiprināt tās suverenitāti un latviešu valodu kā vienīgo valsts valodu, aizstāvēt Latviju kā neatkarīgu un demokrātisku valsti, savus pienākumus pildīt godprātīgi un pēc labākās apziņas. Es apņemos ievērot Latvijas Satversmi un likumus.» Übersetzung: Ich schwöre (verspreche feierlich) vor dem lettischen Volk, die Aufgaben eines Abgeordnetenmandates übernehmend, treu zu Lettland zu stehen, seine Souveränität und Lettisch als einzige Amtssprache stärken, Lettland als unabhängigen und demokratischen Staat verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft und nach bestem Wissen erfüllen werde. Ich verpflichte mich, die Verfassung Lettlands und seine Gesetze zu achten. Ein Verstoß gegen Recht und Gesetz durch einen Abgeordneten ist außerdem auch ohne die Abberufbarkeit schon heute ein Grund für die Aufhebung der Immunität, die Abgeordnete gerade zum Schutz ihrer Gewissensfreiheit genießen. Pikant ist dieser Aspekt vor dem Hintergrund, daß die Abgeordneten des lettischen Parlamentes 2011 Solidarität mit einem der lettischen Oligarchen, Ainārs Šlesers, gezeigt hatten. Als die Staatsanwaltschaft gegen ihn ermitteln wollte, votierten für die Aufhebung der Immunität nur 35 von 100 Kollegen. Damals war das Anlaß für den scheidenden Präsidenten Valdis Zatlers, die Parlamentsauflosung anzuregen. Also doch eine Abberufbarkeit einfuhren Aus demokratietheoretischer Sicht scheint als Scherbengericht die jeweils nächste Wahl doch die bessere Alternative zu sein. Das lettische Parlament kommt so auch zu dem Schluß, daß für eine solche Maßnahme eine Verfassungsänderung nötig sei, deren Realisierung aber eher schwierig sein könnte. Darüber hinaus geben die Abgeordneten zu bedenken, daß alle Amtspersonen einen Amtseid ablegen und man deshalb vielleicht besser generell über Amtsenthebungsverfahren nachdenken sollte.

Umstrittene Fahrkartenpreise in Riga

Wahrend in der estnischen Hauptstadt nun im zweiten Jahr der öffentliche Nahverkehr für die Einwohner der Stadt gratis ist, hat sich der Rigaer Burgermeister Nil Usakow mit seiner Stadtverwaltung im vergangenen Jahr ausgedacht, daß man sich ähnlich wie in Estland als Einwohner von Riga registrieren läßt und beim öffentlichen Nahverkehr damit andere Konditionen bekommt – billiger fährt als Auswärtige, die künftig den doppelten Preis bezahlen sollten. Vor den Kundenzentren von Rīgas Satiksme bildeten sich lange Schlangen – im Dezember ließ sich auch der Autor dieser Zeilen vorsichtshalber registrieren – um die nunmehr mit Photo ausgestatte neue Karte zu erhalten, die dann im Gegenteil zu alten Mehrfahrtenkarten mit bis zu 50 Fahrten natürlich nicht mehr Übertragbar ist. Schon 2013 regte sich Widerstand unter den zahlreichen Pendlern, die im Rigaer Landkreis in der Umgebung leben. Der Schritt der Stadtverwaltung war insofern auch überraschend, als zahlreiche Stadtbuslinien bis in diese Nachbargemeinden fahren – Babīte, Baloži und Mārupe, um nur einige Beispiele zu nennen. Auch technisch war die Idee fragwürdig. Neben personalisierten Zeitfahrkarten für bestimmte Linien oder das gesamte Netz gibt es gelbe Einweg-Mehrfahrtenkarten aus Karton, die bis zu 20 Fahrten laden können und feste, wiederaufladbare Karten aus Plastik in blau, auf denen bis zu 50 Fahrten gespeichert werden können. (Zur naheren Erklärung, das Fahrkartensystem funktioniert in Riga elektronisch. Die Karte wird an ein Lesegerät gehalten, welches eine Fahrt abbucht und die verbliebene Anzahl im Display anzeigt.) Die Frage wäre also gewesen, wie etwa ein als Rigenser registrierter Passagier und ein Auswärtiger künftig ihre Fahrkarten an den in der Stadt aufgestellten Automaten aufladen kann. Eine Information darüber, daß der Automat zwischen der Karte eines registrierten Einwohners und einer üblichen Mehrfahrtenkarte unterscheiden kann, wurde nicht verbreitet. Das Ministerium für Regionalentwicklung unter dem gerade erst ins Amt gekommen neuen Minister Einārs Cilinskis von der nationalkonservativen Partei „Alles für Lettland! – TB/LNNK“ hat nun im Januar aus juristischen Erwägungen die Notbremse gezogen. Die Verteuerung der Fahrkarten für Auswärtige ist bis Jahresende aufgehoben. Man argumentiert, daß es sich erstens um eine Diskriminierung handele und zweitens Riga als Hauptstadt besondere Aufgaben habe. Gegebenenfalls müßte eben der Rigaer Nahverkehr aus staatlichen Mitteln mehr unterstutzt werden, auch wenn das dem Finanzminister sicher nicht gefallen werde.

Supermarkt in Riga stürtzt ein - politische Folgen

Nach dem Einbruch des Daches eines Supermarktes im Rigar Vorort Zolitūde mit 54 Toten übernahm Ministerpräsident Valdis Dombrosvkis wenige Tage später die politische Verantwortung und trat für viele überraschend zurück. Dombrovskis hatte erst kürzlich das Datum erreich, zu dem er der am längsten amtierende Ministerpräsident seines Landes war, selbst wenn man die beiden Amtszeit von Ivars Godmanis nach 1990 und als direkter Vorgänger Dombrovskis’ zusammen nimmt. Dombrovskis kam als Abgeordneter des EU-Parlaments im Frühjahr 2009 ins Amt als der damalige Präsident Valdis Zatlers seine Rechte bis auf das letzte ausreizend erklärt hatte, er erwarte jetzt eine Regierung mit neuen Gesichtern. Der 1971 geborene Domborvskis ließ sich von seiner Partei – damals noch die neue Zeit – den Posten andienen, obwohl bei höherer Verantwortung und Medienpräsenz die Bezahlung geringer ist. Einem deutschen Journalisten gegenüber rechtfertigte er seinen Schritt mit dem Argument, daß es ja jemand machen müßte. Dombrovskis überlebt im Amt zwei Parlamentswahlen und stellt damit sämtliche Rekorde seiner Vorgänger ohne Zweifel in den Schatten. Sein e ruhige, eher technokratische Art wurde sicher von vielen Kollegen im politischen Raum weniger gemocht, doch in der Bevölkerung konnte er seine Reputation trotz aller harten Sparmaßnahmen, die Lettland zum 1. Januar dieses Jahres in den Euroraum führen, erhalten. Dombrovskis stehe trotzdem nicht zur Verfügung für eine neue Regierung, erklärte der Zurückgetretene. Dahinter stehen zahlreiche Spekulationen. Dombrovskis ist selbst von der FAZ in Deutschland als potentieller Nachfolger von José Manuel Barroso gehandelt worden, der nach den Europawahlen im Frühjahr nicht mehr weiter machen kann. Dombrovskis käme aus einem kleinen Land – große würden die kleinen eher nicht akzeptieren – und wäre mit der Einführung des Euro im eigenen Land sicher der Held der europäischen Positivisten. Gleichzeitig kehrt auch EU-Kommissar Andris Piebalgs nach Lettland zurück, womit eine ausschließlich von Lettland zu besetzende Position frei wird. Komplizierter sieht es beinahe daheim aus. Wer soll Dombrovskis nachfolgen. Und hier beginnen die Spekulationen über den wahrhaftigen Grund des Rücktrittes. Es kann kein Zweifel bestehen, daß mit der Bewältigung der Krise – Lettland hat derzeit das höchste Wirtschaftswachstum in der EU – und der Einführung des Euro Dombrovskis zwei wesentliche Aufgaben erledigt hat. Gleichzeitig begann ihm die Regierungskoalition zu zerfallen. Nachdem der von der Nationalen Allianz gestellte, inzwischen aber nach einem Parteiausschluß parteilose Justizminister Jānis Bordāns nach Ansicht der Nationalisten von Dombrovskis hätte entlassen werden müssen und der Regierungschef diesem Verlangen nicht entsprochen hatte, hatte diese Partei ihrerseits erklärt, der Koalitionsvertrag gelte nun für sich nicht mehr. Dombrovskis fand sich also nach allen Rekorden im Amt in den Niederungen der lettischen Parteipolitik wieder, die nicht wenige Regierungen der letzten 20 Jahre zu Fall gebracht haben. Der größere Koalitionspartner, die Reformpartei des ehemaligen Präsidenten Valdis Zatlers hatte sich nicht nur unmittelbar nach der Wahl von 2011 gespalten, sondern befindet sich weiter auf Spaltungskurs. Auch die größte Regierungspartei, die Einigkeit (Vienotība) selbst ist nicht in guter Verfassung. Während also offiziell verlautbart wurde, jemand müsse ja die politische Verantwortung für das Unglück im Supermarkt übernehmen, scheinen diese Überlegungen einen nachvollziehbareren Hintergrund darzustellen. Es kann trotzdem kein Zweifel bestehen, daß neben einigen Köpfen in verschiedenen Ämtern, die gerollt sind, auf politischer Ebene auch in der ja nun direkter verantwortlichen Rigaer Stadtverwaltung von niemandem ein solcher Schritt in Erwägung gezogen worden ist. Weder von Bürgermeister Nil Uschakow, noch von seinem Stellvertreter Andris Ameriks, der sich bei verschiedenen Eröffnungen auch gern photographieren ließ. Die spannende Frage ist nun, wer Dombrovskis nachfolgen könnte angesichts der prekären Mehrheitsverhältnisse und der Tatsache, daß die nächsten Wahlen bereits im Herbst vor der Tür stehen. Die meisten politischen Kräfte sind der Meinung, daß nach wie vor die siechende Einigkeit die Aufgabe der Regierungsbildung zu übernehmen habe. Laut Verfassung jedoch muß der Präsident einen Kandidaten offiziell ernennen, auch wenn diese zunächst von den Parteien vorgeschlagen werden. Die Einigkeit einigte sich auf drei Personen. Unter ihnen als ernsthaftester Anwärter Verteidigungsminister Artis Pabriks, der früher auch schon Außenminister gewesen ist. Außerdem der Europaabgeordnete Krišjānis Kariņš. Der aus den Reihen der Bauern und Grünen stammende Präsident Andris Bērziņš lehnte diese Kandidatur gleich zwei mal ab mit dem Hinweis, Pabriks habe als Verteidigungsminister keine gute Arbeit geleistet und ein Mann mit wirtschaftlichen Qualifikationen sei derzeit gefragt. Die Handlungsweise des Präsidenten führte schließlich dazu, daß auch in der Presse darüber gestritten wurde, ob sich Bērziņš überhaupt irgendwelcher realer Forderungen an den neuen Regierungschef bewußt sei. Seine eigene Idee, Parlamentspräsidentin Solvita Āboltiņa ins Spiel zu bringen, wurde schnell fallen gelassen. Spekuliert wurde auch darüber, ob der Präsident bei seinem wöchentlichen Treffen mit Dombrovskis diesen nicht zu einem Rücktritt genötigt habe. Als Indiz wurde in der Presse der unerwartete Auftritt Dombrovskis gewertet, nachdem er noch am Morgen in einem Fernsehinterview nichts dergleichen angerissen hatte, wie auch seine Emotionalität während der kurzfristig anberaumten Pressekonferenz. Das sind jedoch Spekulationen. Eine instabile Regierung und weitere schwere Aufgaben im Zusammenhang mit Liepājas Metalurgs, der kurz vor der Pleite steht als auch die anhaltenden Konflikte um die Luftfahrtgesellschaft airBaltic dürften eine Rolle gespielt haben. Probleme, die mit einer in der Schwebe liegenden politischen Zusammenarbeit nur bedingt zu bewältigen sind.

Aufenthaltsgenehmigung für Immobilienbesitz

Sogar das deutsche Fernsehen berichtete über die Idee Lettlands, Investitionen aus dem nicht EU-Ausland mit dem Versprechen von Aufenthaltsgenehmigungen für den Schengen-Raum zu ködern. Das ZDF-“auslandsjournal” zeigte am 3. Juli 2013 wie reiche Chinesen und Russen in Lettland Immobilen erwerben und sich anschließend von Riga aus in der EU frei bewegen können. Das lettische Parlament hat nun eine neue Gesetzesvorlage eingebracht und diese mit dem Status der Eiligkeit versehen, mit der Änderungen dieser Regelungen für den Erhalt der Aufenthaltsgenehmigung vorgenommen werden. Die Novelle sieht ab sofort Quoten für eine Aufenthaltsgenehmigung aufgrund von Immobilienerwerb vor, was den größten Teil der Investitionen ausmacht. Folglich können im kommenden Jahr noch 700 Personen auf eine solche hoffen, 525 Antragsteller im Jahre 2015 und anschließend nurmehr 350 jährlich. Erforderlich für den Erwerb des begehrten Papiers ist der Besitz von funktional miteinander verbundenen Immobilien im Wert von mindestens 150.000 Euro. Darüber hinaus müssen weitere 25.000 Euro in einen „Fond zur ökonomischen Entwicklung” eingezahlt werden, welcher noch gegründet werden soll. Die neuen Voraussetzung stellen eine qualitative Veränderung gegenüber den bisherigen Forderungen dar. Bislang wurden Investitionen von 100.000 Euro in Städten und 50.000 Euro außerhalb der Städte verlangt, das heißt, bislang genügte zur Erlangungen der Aufenthaltsgenehmigung auch der Besitz mehrerer separater Immobilien, deren Wert insgesamt die erforderliche Summe erreichte. Die lettische Politik reagiert mit dieser Novelle natürlich auf eine Diskussion über die bisherige Praxis im Inland, doch auch die Aufmerksamkeit des westeuropäischen Ausland dürfte den Letten wenig gefallen haben. Offiziell werden die Veränderungen mit einem negativen Einfluß auf den Immobilienmarkt begründet. Erst an zweiter Stelle werden die Probleme angeführt, daß Personen aus dem außereuropäischen Ausland auf diese Weise an eine Aufenthaltsgenehmigung für den Schengen-Raum gelangen. Der negative Einfluß auf den Immobilienmarkt ist ein zumindest überraschendes Argument. Zwar steht es außer Frage, daß zahlungskräftigere Kunden als potentielle einheimische Klienten tendenziell die Preise in die Höhe treiben. Auf der anderen Seite dürften viele Objekte auf dem lokalen Markt aber auch wegen ihrer Preislage unverkäuflich sein. Und die Regelung mit der Aufenthaltsgenehmigung wurde schließlich 2010 gerade deshalb eingeführt, um den Immobilienmarkt zu beleben, der nach der Finanzkrise und dem Platzen der Immobilienblase zeitweilig zum Erliegen gekommen war. 2010 sah die neu geschaffene Gesetzeslage im Detail vor, um ein Recht auf ein befristetes Aufenthaltsrecht in Lettland auf fünf Jahre zu bekommen, umgerechnet 142.288 Euro in eine oder mehrere Immobilien in Riga, im Kreis Riga oder in den größten Städten der Republik Daugavpils, Jelgava, Jēkabpils, Jūrmala, Liepāja, Rēzekne, Valmiera oder Ventspils investiert werden mußten. Außerdem der Städte betrug der Mindestpreis umgerechnet 71.144 Euro. Um die Aufenthaltserlaubnis beim Amt für Staatsbürgerschaft und Migration der Republik Lettland zu erhalten, mußte der Ausländer den Kaufvertrag und ein die Zahlung belegendes Dokument vorweisen. Dabei wurde der Katasterwert nicht berücksichtig, sondern ausschließlich der vertraglich vereinbarten Kaufbetrag, was Manipulationen Tür und Tor öffnete, denn Verkäufer und Käufer konnten sich vor dem Hintergrund der gesetzlichen Regelung auf einen über dem Marktwert des Objektes liegenden und im Vertrag ausgewiesenen Betrag einigen. Inbegriffen in die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis waren außerdem Familienmitglieder, Ehegatten und minderjährige Kinder. Das Interesse, in Lettland zu investieren und im Austausch eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen, war besonders bei Personen aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) groß, da auch schon ohne den gesetzlichen Anreiz das Interesse an Immobilien in Rīga und dem Rigaer Badeort Jūrmala nicht neu ist. Wenn das deutsche Fernsehen erst in diesem Jahr darüber berichtete, so gab es bei der BBC bereits im Januar 2011 einen Beitrag, der ebenfalls auf den Wunsch Lettlands hinweist, mehr Kapital ins Land zu locken. Damals protestierten die Nationalisten der Partei „Alles für Lettland!“ vor dem Parlament dagegen. Im Herbst des gleichen Jahres wurden sie bei der vorgezogenen Parlamentswahl in die Abgeordnetenkammer gewählt und auch gleich an der Regierung beteiligt, in welcher sie mit Jānis Bordāns auch den Justizminister stellt. Jetzt konnten sie ihre politischen Forderungen durchsetzen.

Kommunalwahl in Estland

Das Ergebnis der Kommunalwahl in Estland vom 20. Oktober überrascht wenig. Die linksgerichtete Zentrumspartei erreichte landesweit 31,5%, die liberale Reformpartei 16,7%, die konservative Vaterlandsunion 13,9% und die Sozialdemokraten 7,5%. Alle weiteren Parteien blieben weit unter der 5%-Hürde. Das Parteiensystem Estlands hat sich damit weiter konsolidiert, es gibt keine neuen Parteien, keine Partei ist von der politischen Bildfläche verschwunden und es handelt sich bei allen politischen Kräften um solche, die auch auf der nationaler Ebene aktiv sind. Verschwunden ist damit nach den Umbrüchen der letzten Jahre etwa die Volksunion, die früher noch vor allem auf dem Land gewählt wurde. Diese Klientel legt offenbar keinen Wert auf eine eigene politische Stimme. Die Zentrumspartei konnte ihr Ergebnis von 2009 noch einmal verbessern, in der Hauptstadt Tallinn erhielt sie sogar nunmehr das zweite Mal eine absolute Mehrheit. Die Zentrumspartei kam hier auf 52,6%, die Vaterlandsunion auf 19,1%, die Reformpartei auf 10,6% und die Sozialdemokraten 9,9%. Hauptstadtbürgermeister Edgar Savisaar erhielt ebenfalls ein persönlich noch besseres Ergebnis als vor vier Jahren. Das inzwischen gesundheitlich angeschlagene Stadtoberhaupt ist seit zwei Jahrzehnten das enfant terrible der estnischen Politik. Savisaar war Regierungschef der Volksfront in der Umbruchzeit 1990 bis 1992. Seither entzweit er die Esten in jene, die ihn hassen und jene, die ihn trotz zahlreicher Skandale immer wieder wählen. Auch wenn der Bürgermeister im hervorragenden Abschneiden ein historisches Ergebnis sieht, darf nicht vergessen werden, daß der starken Zentrumspartei auf nationaler Ebene ein Koalitionspartner fehlt und sie auf kommunaler Ebene vor allem auch von ethnischen Russen bevorzugt wird. In Estland gibt es nach wie vor Nachfahren von aus der Sowjetzeit zugewanderten Russen, die keine Staatsbürgerschaft haben und teilweise auch nicht haben wollen, die aber bei Kommunalwahlen wahlberechtigt sind. Savisaar ist seit vielen Jahren bei dieser Bevölkerungsgruppe beliebt, während die Esten ihm seine Kontakte nach Rußland verübeln und sich beispielsweise über die fragwürdige Finanzierung einer russisch-orthodoxen Kirche im vorwiegend von Russen bewohnten Vorort Lasnamäe aufregen. Die Vaterlandsunion mauserte sich von beinahe verlorenem Posten in Tallinn auf ein ansehnlichen zweiten Platz unter ihrem Spitzenkandidaten Eerik-Niiles Kross, dem Sohn des vor einigen Jahren verstorbenen Schriftstellers Jaan Kross. In der zweitgrößten Stadt des Landes Tartu ist das Bild ebenfalls eindeutig aber ein ganz anderes als in der Hauptstadt. Die Reformpartei erhielt hier 28,1%, die Vaterlandsunion 21,0%, die Zentrumspartei 18,4% und die Sozialdemokraten 15,8%. Bislang regierte die Stadt eine Koalition aus der Reformpartei und der Vaterlandsunion, in der es zwischenzeitlich zu Konflikten kam, weshalb sich die Reformpartei zu einer breiten Koalition mit der bisherigen Opposition unter Ausschluß der Vaterlandsunion kam. Im Stadtrat hat die Reformpartei jetzt 18 Sitze, die Vaterlandsunion 13, die Zentrumspartei 9 und die Sozialdemokraten 8. Wie sehr die in Estland bei Kommunalwahlen wahlberechtigte russische Minderheit die Zentrumspartei bevorzugt, zeigt sich auch im nordostestnischen Landkreis Ida Virumaa. Hier erreicht die Zentrumspartei ebenfalls mit 53,0% die absolute Mehrheit, gefolgt von den Sozialdemokraten mit 21,3%. Die eher nationalistische Vaterlandsunion erreicht gerade einmal 3,9% und die auf der Landesebene führende Reformpartei von Ministerpräsident Andrus Ansip, der einst Bürgermeister von Tartu war, bekam gerade einmal 1,6%. Interessant ist in diesem Landkreis auch die Stadt Narva, die nach Einwohnerzahl immerhin drittgrößte Stadt des Landes, deren Einwohner aber zu deutlich über 90% Russen sind. Hier erreicht die Zentrumspartei sogar mehr als 60% der Stimmen und 20 Sitze im Stadtparlament. Zweitplaziert sind die Sozialdemokraten mit gut 35% und elf Sitzen. Alle anderen Parteien bleiben ausnahmslos unvertreten im Gemeindeparlament. Die Reformpartei des Regierungschefs hatte sich von vornherein so wenig Hoffnung auf Zustimmung im russisch bevölkerten Ida-Virumaa gemacht, daß sie hier gar nicht erst angetreten war. Nichtsdestotrotz ist der seit 2002 amtierende Bürgermeister Narvas von der Zentrumspartei Tarmo Tammiste nicht besonders beliebt in der Stadt. Er erhielt an direkten Stimmen gerade einmal 315. Dieser Umstand erklärt sich durch das Wahlsystem in Estland mit seiner Vorzugsstimme. Wähler entscheiden sich nicht für Parteien, sondern für Kandidaten. Durch ihre Stimmabgabe votieren sie indirekt auch für die Liste des ausgewählten Kandidaten. Der Amtsinhaber konnte hier in diesem Jahr noch weniger überzeugen als vor vier Jahren. Damit steht bereits fest, daß er als Bürgermeister nicht im Amt bleiben wird. Es ist nur offen, wer ihm nachfolgen soll.