Freitag, 31. Oktober 2008

Welcher Este will wirklich nach Brüssel umziehen?

Seit einiger Zeit wird in der estnischen Presse berichtet, wer wohl für welche Partei bei den kommenden Wahlen zum Europaparlament kandidieren wird.
Gegenwärtig sind unter den sechs Abgeordneten in der Heimat ziemlich bekannte Politiker wie der frühere Ministerpräsident Andres Tarand und die frühere Ministerin Katrin Saks von den Sozialdemokraten, die frühere Sozialministerin der Zentrumspartei Siiri Oviir, der vormalige Parlamentspräsident Toomas Savi und der Dissident Tunne Kelam, welcher zu den Mitgründern der estnischen Unabhängigkeitspartei gehörte. Von diesen haben jüngst Andres Tarand und Toomas Savi den Rückzug aus der Politik angekündigt.
Im kommenden Jahr werden auf dem Wahlzettel wohl wieder vergleichbar bekannte Namen stehen. Als erster erklärte der Chef der Zentrumspartei, Edgar Savisaar, er werde kandidieren. Savisaar war von 1990 bis 1992 Ministerpräsident der Volksfrontregierung und führte das Land in die Unabhängigkeit. Sein Politikstil machte ihn unter Politikerkollegen jedoch unbeliebt, weshalb er noch vor der ersten Parlamentswahl abgelöst wurde und es seither nur zwei Mal wieder auf die Regierungsbank geschafft hat. Dabei war der erste Erfolg nur von kurzer Dauer und ging unter dem Namen Lindiskandaal (Aufzeichnungsskandal) in die jüngere estnische Geschichte ein. Savisaar hatte heimlich seine Gespräche während der Koalitionsverhandlungen mitgeschnitten.
Savisaar ist seither in der Heimat gleichermaßen gehaßt wie geliebt, seine Partei erzielt regelmäßig gute Wahlergebnisse, nur will eben von den anderen Parteien – wenn es denn rechnerisch eben geht – keine mit ihm zusammenarbeiten. Aber Savisaars Partei wird insbesondere von der nicht estnischen Bevölkerung gewählt, weshalb er derzeit, und nicht zum ersten Mal, wenigstens in der Hauptstadt Tallinn auftrumpfen kann – er ist Bürgermeister.
Angesichts dieses Zugpferdes bei der Zentrumspartei lassen sich auch die Spitzenvertreter der Konkurrenz nicht lumpen. So planen die Sozialdemokraten bereits auch, ihren Vorsitzenden zu portieren. Ivari Padar ist derzeit Finanzminister in einer Koalitionsregierung mit der Vaterlandunion / Res Publica und der Reformpartei. Die Regierung führt deren Parteichef Andrus Ansip, der nach dem letzten Urnengang 2007 die Koalition mit Edgar Savisaar trotz rechnerischer Möglichkeit durch den Dreierbund ablöste. Auch wird angeblich von seiner Partei gedrängt anzutreten.
Aber warum dieser Aktionismus für eine Wahl zu einem Organ, das bekanntlich eher wenig politischen Einfluß hat?
Nun steht es außer Frage, daß Ansip in seiner politischen Karriere im Inland kein einflußreicheres Amt mehr erreichen kann. Angesichts der verbreiteten Kurzlebigkeit von Regierungen in Estland – Mart Laars zweite Regierung von 1999-2002 hält einstweilen den Rekord – ist es nicht unwahrscheinlich, das jedwede innenpolitische Krise oder irgendein Skandal auch vor den nächsten Wahlen seinen Sturz herbeiführen könnte.
Edgar Savisaar wiederum steht zwar als Bürgermeister im Rampenlicht der Medien, langweilt sich aber sicher auf diesem doch eher einflußlosen Posten, den er entgegen vorherigen Versprechungen von Jüri Ratas übernehmen konnte, weil 2005 seine Partei in der Kommunalwahl gut abgeschnitten hatte. Damals war ihm der Posten weniger wichtig, weil er gerade wenige hundert Meter vom Rathaus entfernt auf dem Domberg als Wirtschaftsminister einen offensichtlich interessanteren Job hatte – eben bis zur Aufkündigung der politischen Ehe mit Ansip 2007. Bürgermeister war Savisaar vorher schon einmal gewesen, hatte das Amt aber durch ein Koalitionsrevirement wieder verloren.
Ivari Padar wiederum hat eine Partei im Rücken, die zu klein ist, um ihm nach der Übernahme verschiedener Ministerien in verschiedenen Koalitionen weitere Perspektiven zu eröffnen.
Da in Brüssel und Straßburg dank der Schwierigkeiten rund um den Lissaboner Vertrag und den Diskussionen innerhalb der Union über die Reaktion auf die Krise im Kaukasus diesen Sommer einige gleichermaßen interessante wie schwierige Dossiers zu verhandeln sind, reizt die erwähnten Herren die Aufgabe vielleicht tasächlich.
Über Ansips Kandidatur gibt es allerdings einstweilen nur Spekulationen. Er selbst hat eine Absicht negiert und darauf verwiesen, daß ein amtierender Regierungschef nicht für das Europaparlament oder bei Kommunalwahlen kandidieren könne. Die öffentliche Spekulation freilich begründet sich durch das kategorische Nein des Gründers der Reformpartei, früheren Notenbankchefs und Ministerpräsidenten Siim Kallas, der zur Zeit EU-Kommissar in Brüssel ist.
Es ist jedoch zu bezweifeln, daß einer der genannten Politiker tatsächlich im Falle einer erfolgreichen Wahl nach Brüssel übersiedeln würde. Edgars Savisaar erklärte bereits öffentlich, eine solche Zusage könne einstweilen kein Politiker geben, weil bis zur Wahl noch viel Wasser ins Meer fließe. Er selbst sei außerdem verliebt in Tallinn, wo es noch viel zu tun gebe.
Kern dieser Fragen ist, daß die vergangenen Europawahlen in den baltischen Staaten von den Wählern als Protestwahl genutzt wurden und jene Parteien, die damals an der Regierung waren, abgestraft wurden und auch kleine Parteien Erfolge verbuchen konnten. So kommt es, daß gerade die Reformpartei keinen zugkräftigen Kandidaten hat, der bereits im Europäischen Parlament säße.
Die erst 2007 neu in das nationale Parlament eingezogenen Grünen wollen mit allen ihren Spitzenpolitikern kandidieren. Die Volksunion will sich erst nach ihrem nächsten Parteikongreß entscheiden. Sie hat die Korruptionaaffäre rund um ihren früheren Chef Villu Reiljan zu verkraften.
Da nur sechs Mandate zu vergeben sind, ist die Konkurrenz eng. Es geht für alle Parteien darum, wenigstens ein Mandat zu erringen, für die größeren wäre natürlich nur der Gewinn von zwei Vertretern ein Erfolg.

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