Sonntag, 14. September 2014

Estland in der Cloud

Daß die Esten Netzverliebt sind, hat sich ja inzwischen im Ausland herumgesprochen. Viele verwechseln allerdings den gesetzlich garantierten Internetzugang mit einer staatlich bezahlten Leitung in die eigenen vier Wände, wo es in Wahrheit nur um die Bereitstellung öffentlicher Internetpunkte etwa in Bibliotheken geht. Nichtsdestotrotz ist die Affinität der Esten zur Technik hoch. Das Politikmagazin „Politikum“ von WDR5 übertrieb dieser Tage jedoch trotzdem ein wenig. Steuern, Schulnoten und Krankenakten stünden in Estland im Netz jedem zu Verfügung. Das stimmt so nicht ganz. Die Steueröffentlichkeit bezieht sich nicht auf Privatpersonen, sondern nur auf Amtsträger. Der Autor dieser Zeilen hat sich bezüglich Schulnoten und Krankenakten nicht gesondert schlau gemacht, geht aber davon aus, daß es sich wie an anderen Bildungsinstitutionen auch um Netze handelt, die tatsächlich über das Internet einsehbar sind, aber ebenso wie ein Mailaccount nur mit Paßwort, will sagen, es kann nicht jeder einfach mal nachschauen, wie der Nachbarsjunge so in Mathe steht. Im weiteren Wortlaut des Beitrages ist dann auch von Öffentlichkeit nicht mehr die Rede, sondern von einer Speicherung der Daten auf Servern. Der Beitrag stellt die Offenheit der Esten in Zusammenhang mit den verschiedenen Skandalen um Datenlecks und Bespitzelung bis hin zur NSA-Affäre, die eine kritische Haltung in Deutschland zu Folge hätte. Der neue junge Ministerpräsident Estlands, Taavi Rõivas, wird dann zu Wort gebeten und vergleicht die Sicherheit der Daten in der Cloud – sicherlich nicht zu Unrecht – mit jener der Krankenakte eines Michael Schumacher, die ja auch einfach mal so auf Papier aus dem Krankenhaus entwendet worden sei. Jeder Zugriff werde registriert, so der Ministerpräsident weiter, und unberechtigte hart bestraft. Der IT-Beauftragte der Regierung, Taavi Kotka, geht im Bericht noch weiter. Er fragt, wer mehr wisse über die Krankheit eines einzelnen, der behandelnde Arzt oder Google? Da jeder im Internet nach verschiedensten Informationen suche, wisse Google darüber wie manch andere Datenkrake, so die Wortwahl des Autors des Beitrags, meistens mehr, weil jeder erst einmal seine Symptome googele. Und damit fragt er rhetorisch, warum man Google mehr vertraue als der Regierung, die sich doch viel leichter kontrollieren lasse. Im Internet gäbe es sowieso keine Privatsphäre. Der Autor des Beitrages beruhigt später und sagt, in Estland seien allein 1.000 Angestellte nur mit der Cybersicherheit beschäftigt, und das Land plane, die Daten künftig auf Servern außerhalb Estlands zu speichern. Natürlich seien die Daten letztendlich nicht sicher, so der estnische Spezialist weiter, doch genauso setze man sich Risiken aus, wenn man auf die Straße geht. Auch zieht der Journalist den Vergleich zu Deutschland erneut. Angela Merkel wird eingespielt mit dem Satz, das Internet sei Neuland. Eine solche Behauptung, und da ist der Beitrag zuzustimmen, würde es in Estland wohl nicht geben.

Frauen in Lettland vorn?

Das Politimagazin „Politikum“ von WDR5 berichtete kürzlich über Lettland. Autor war der häufiger mit deutschen Kollegen für deutsche Sender aktive lettische Journalist Toms Ancītis. Diesmal ging es um den hohen Frauenanteil in Führungspositionen im Land. In der Tat, wer in die Büros staatlicher Verwaltung oder privater Firmen schaut wie auch der Blick in den Hörsaal einer Hochschule, läßt die Vermutung aufkommen, daß es Frauen in Lettland bereits deutlich weiter gebracht haben, als in anderen Ländern. 41% Prozent aller Führungspositionen seien von Frauen besetzt, heißt es im Beitrag. Ursache für dieses auf den ersten Blick überraschende Phänomen seien die Ideen von Marx und Lenin, meinen die Autoren. Und richtig. In einer zwar arbeitsteiligen aber personalintensiven, weil technisch wenig entwickelten Industriegesellschaft war während der Sowjetzeit (aber auch in den anderen befreundeten sozialistischen Staaten wie der DDR) die Berufstätigkeit von Frauen nicht nur ein ideologischer Punkt, sondern auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Im Beitrag ist der Sozialantropologe der Stockholm School of Economics und zwischenzeitlicher Bildungsminister, Roberts Ķīlis, mit dem Hinweis zu hören, in Sachen Feminismus sei die Sowjetideologie ausgesprochen fortschrittlich gewesen. Die verordnete Gleichberechtigung habe es zu einer Selbstverständlichkeit werden lassen, wenn Frauen Traktoren fahren oder in Fabriken körperlich schwere Arbeit verrichten. Die Folge davon sei, so die Autoren, daß Frauen heute diese Gleichberechtigung in Lettland nach wie vor einforderten. Das soll aber nicht heißen, Rollenbilder wären dadurch grundlegend aufgehoben worden. Zwar gibt es unter den Fahrern im öffentlichen Nahverkehr der baltischen Städte in der Tat unglaublich viele Chauffeurinnen, doch interessanterweise fahren sie fast ausschließlich Straßenbahnen und Trolleybusse, selten hingegen dieselbetriebene Busse. Der Beitrag argumentiert weiter zutreffend, die meisten heute bestehenden Firmen – gerade die kleinen und mittleren – seien Gründungen nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991, während die meisten großen Industrieanlagen die Wende nicht überlebten. Gerade mit diesem Ende der Großbetriebe fielen für viele Männer die Arbeitsplätze weg. So waren eben auch oftmals Frauen diejenigen, welche die Initiative für einen Neustart ergriffen. Und woran sich gewiß in einer Gesellschaft, in der es eine Frauenbewegung nie gab, wenig geändert hat, ist, daß die Frauen trotz aller erreichten Positionen meistens in der Mehrfachverantwortung von Beruf, Familie und Haushalt stehen. Nur weil sie mehr Chefposten ergattern, als in anderen Staaten, bedeutet das noch lange nicht, die Männer übernähmen mehr Aufgaben in Haushalt und Familie, wie in anderen Staaten. Und dies vor dem Hintergrund, daß eine Kinderkrippenversorung, wie sie zur Sowjetzeit normal war, heute nicht mehr gegeben ist. Der Beitrag läßt auch einen anderen Umstand nicht außer Acht. Ab dem Alter von dreißig gibt es in Lettland einfach mehr Frauen als Männer, weil diese früher stürben angesichts einer riskanteren Lebensführung. Das ist zutreffend. Während diese Beobachtung noch auf alle postsozialistischen Staaten zutrifft, bemüht Ķīlis die Geschichte. Bereits im 19. Jahrhundert sei es in den baltischen Ländern normal gewesen, daß Frauen eine wichtige Rolle in der Gesellschaft übernehmen. Indiz dafür sei die geringe Geburtenrate dieser Zeit. Dennoch gibt es die gläserne Decke gibt es sicher auch in Lettland, wenn auch die seit Januar regierende Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma neben Parlamentssprecherin Solvita Aboltiņa und Ex-Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga auf den ersten Blick etwas anderes vermuten lassen könnten.

Sonntag, 7. September 2014

Maijdan in Riga?

Die Sprache ist in Lettland wieder einmal Stein des Anstoßes. Es kommt nicht selten vor, daß Letten davon berichten, wie Russen zur Sowjetzeit gesagt haben, sie würden diese „Hundesprache“ nicht lernen. Mehr als 20 Jahre nach der Unabhängigkeit darf man wiederum behaupten, daß junge Russen eher sehr gut Lettisch sprechen, als junge Letten Russisch. Das wenigstens ist die Erfahrung eines Dozenten unter seinen Studenten. Seit der 2004 in Kraft getretenen Bildungsreform wurden stufenweise auch an russischen Schulen die Fächer in der einzigen offiziellen Landessprache Lettisch unterrichtet – bis zu 60%. Im April dieses Jahres haben lettische Russen unter anderem vor dem Büro des Ombudmannes demonstriert, der die Rechte der Minderheiten nicht verteidige, denn im Gespräch ist nunmehr eine Fortsetzung der Reform, die letztlich auf einen vollständigen Unterricht in der Landessprache abzielt. Die Proteste kamen insofern verfrüht, als es sich nur um Pläne handelte. Entsprechende Gesetzentwürfe sollten erst im Oktober eingebracht werden, also nach der nächsten Parlamentswahl. Ergänzend sei hier erwähnt, daß unter den politischen Umständen der Sowjetzeit zwar ale Einwohner Lettlands Russisch konnten, was im Alltag oft unabdingbar war, viele zugewanderte Menschen aus anderen Sowjetrepubliken sich aber weigerten, die Sprache der örtlichen Republik zu erlernen. Insofern stand der junge lettische Staat 1991 vor der Frage, wie dieses Problem behoben werden kann. Die Tragik der Proteste lag freilich darin, daß sie gleichzeitig mit den Demonstrationen auf dem Majdan in Kiew stattfanden. Und so äußerte sich der Chef der Organisation zur Verteidigung der russischen Schulen, Jakow Pliner auch deutlich, man wolle in Riga kein Maidan organisieren, sondern es gehe allein um die Bildungspolitik. Diese Äußerung wird in einem Artikel des lettischen Nachrichtenmagazins „ir“ konterkariert, welches einen Demonstrationszug nahe dem Pulverturm in der Altstadt von Riga zeigt, der als Banner vor sich her vermummte Demonstranten zeigt, unter die ein Bild der Bildungsministerin Ina Druviete montiert wurde. Dazu die Losung: „Valoda līdz Kievai novedīs“. (Die Sprache führt uns bis nach Kiew). Die gleichen Organisatoren hatten zusammen mit dem Nichtbürgerkongreß, einer Vertretung der in Lettland lebenden Menschen, welche über die Staatsbürgerschaft nicht verfügen – zumeist natürlich Russen, vor dem Bildungsministerium demonstriert. An diesem Tag wurde auch das erwähnte Bild am gerade gegenüber des Ministeriums gelegenen Pulverturms aufgenommen. Die Demonstraten fordern, die Unterrichtssprache einer jeden Schule zu überlassen. Die Vorsitzende des Nichtbürgerkogresses, Elisabeth Kriwcowa, erläutert, daß man nicht unbedingt die gleichen Ziele habe. Einige gäben sich auch bereits damit zufrieden, wenn alles bei der derzeitigen Regelung bliebe. Beide Organisationen sind außerdem eng verbunden mit politischen Kräften. Während der Nichtbürgerkongreß mit dem Harmoniezentrum zusammenarbeit, der vorwiegend die russische Minderheit vertretenden größten Oppositionspartei im nationalen Parlament Saeima, ist Pliner eher Verbunden mit Tatjana Schdanok, die als Abgeordnete in Brüssel die Russische Vereinigung in Lettland vertritt, welche aus der einstmals auch im lettischen Parlament vertretenen Partei Für die Rechte des Menschen in einem integrierten Lettland hervorgegangen ist. Hinter ihr stehen auch kleine, aber radikalere Kräfte in Lettland, die etwa die Annexion der Krim durch Rußland befürwortet haben. Pliner wiederum distanziert sich von der Vermutung, die Aktionen hätten etwas mit dem Wahlkampf für die Parlamentswahlen 2014 im Oktober zu tun. Während Pliner zugibt, daß unter 200 Demonstraten gerade einmal knapp zehn Lehrer gewesen seien – man habe auch vorwiegend Schulrektoren angesprochen – betont Bildungsministerin Druviete, daß man im Grunde nur den im Bildungssystem seit 1992 beschrittenen Weg der Reformen fortsetze. Wegen des Bezugs auf die Krim und die Ereignisse in der Ukraine erklärt Druviete, die Reform sei ja nichts Neues, sie wolle da keinen Zusammenhang herstellen, doch man müsse vorgehen gegen Pläne anderer politischer Kräfte, Lettland zu einem bilingualen Staat zu machen.. Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma hält sich ihrerseits zurück. Egal um welche Reformen es gehe, alles müsse an einer integrierten Gesellschaft orientiert sein.

Samstag, 6. September 2014

Mysteriöse Entführung eines Grenzers

Dieser Tage ist nahe der estnischen Grenzstation Luhamaa ein Mitarbeiter der Estnischen Schutzpolizei KAPO nach Rußland entführt worden. Das Opfer wurde zunächst mit einer Waffe bedroht, um dann eine Rauchbombe zu zünden, die den Einsatz weiteren Gerätes von estnischer Seite unmöglich machte. Einen solchen Vorfall, berichtet die estnische Tageszeitung Postimees, habe es in der jüngeren Geschichte in Estland nicht gegeben, auch wenn es auf beiden Seiten der Grenze in der Vergangenheit immer wieder zu Konflikten gekommen war. Ein Vorfall wie dieser erinnere jedoch an die zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, als etwa 1938 auf dem Peipussee, der sich zu beiden Seiten der Grenze erstreckt, mehrere Zöllner ermordet wurden. Einweilen aber gebe es noch zu wenig konkrete Informationen, um endgültige Schlußfolgerungen ziehen zu können, sagte der Direktor der KAPO Arnold Sinisalu. Die Sicherheitsbehörde sehe in dem Vorfall einstweilen ein normales Verbrechen ohne politischen Hintergrund. Die Täter könnten einfach Kriminelle gewesen sein. Gleichzeitig verbreitete der russische Geheimdienst FSB nur wenige Stunden später, daß im Kreis Pihkva ein Beamter der estnischen Sicherheitspolizei namens Eston Kohver aufgegriffen worden sei. Sinisalu meint jedoch, daß die Behörde mit grenzüberschreitender Korruptionsbekämpfung beschäftigt sei und ein zwischenstaatliches gegenseitiges Ausspionieren daher unwahrscheinlich. Die Russen wiederum behaupten, sie hätten vom dem Aufgegriffenen eine Pistole mit Munition, 5.000 Euro und Papiere konfisziert, die auf eine Spionagetätigkeit hinwiesen. Estland nimmt den Fall trotzdem Ernst genug, den russischen Botschafter in Estland Juri Merzljakow einzubestellen, um Rußland bei der Aufklärung des Falles um Hilfe zu bitten. Gleichzeitig erklärten Präsident Toomas Hendrik Ilves und Ministerpräsident Taavi Rõivas die Heimkehr von Eston Kohver für das wichtigste Ziel. Die Zeitung betont noch einmal, daß die KAPO angesichts von Zeugenaussagen, die nur den Grenzübertritt von Personen nach Estland, die beschriebenen Ereignisse und die Rückkehr der Betroffenen nach Rußland, aber keinen Waffengebrauch beobachtet haben wollen, es für falsch hält, den Vorfall in irgendeinem Zusammenhang mit den kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine oder dem NATO-Summit jüngst in Wales sehen wollen. In der Presse wird über die Hintergründe der Entführung spekuliert. Das Nachrichtenportal Delfi.ee hält die Möglichkeit bereit, der Grenzschutz sei über eine illegale Grenzübertretungen, Schmuggel und Menschenhandel informiert worden. Aus Rußland kommt die Vermutung, es handele sich für einen solchen Fall um Bestechung. Darum habe Kohver auch das Geld bei sich gehabt. Aus dem an Rußland grenzenden Kreis Ida-Virumaa stammend, spreche er hervorragend russisch und kenne die Mentalität gut. Er arbeitet nach Agaben der KAPO bereits seit den 90er Jahren an der Grenze. Nach Meinung von Innenminister Hanno Pihvker könnte der russische Grenzschutz bei seinen Kontrollen auch nur durch Zufall auf den Beamten getroffen sein. Kohver sei von den Kollegen zu weit entfernt gewesen, als diese etwas hätten unternehmen können. So wurde die Rauchbombe verwendet, um kurzfristig die Sicht einzuschränken und den estnischen Grenzer nach Rußland über die Grenze zu bringen und dem FSB zu überführen. Die russische Seite wiederum behauptet, aus Estland habe es unter Geschäftsleuten in Rußland Versuche einer Anwerbung gegeben, um technisches Gerät illegal über die Grenze zu schaffen. Das Hauptquartier des FSB in Pskov hinter der Grenze sei von einem Maskierten mit einer Kamera ausspioniert worden. Den Spekulationen zu Folge könnte sich die estnische Regierung täuschen mit ihrer Hoffnung auf eine baldige Heimkehr Kohvers. Ebenso gut sei es möglich, daß die Russen einen Signalprozeß organisieren.

Aufarbeitung der KGB-Unterlagen

Čekisti kommt im Lettischen von der russischen Abkürzung für den Geheimdienst, der übrigens während der Sowjetzeit seinen Namen mehrfach änderte: ЧК, oder eben auch ČK in lateinischer Transkription. Selbstverständlich haben die Letten nicht weniger aufzuarbeiten als die Deutschen, was die Verbrechen des Geheimdienstes der kommunistischen Diktatur betrifft. Doch es gibt gleich mehrere wesentliche Unterschiede: Erstens war die DDR ein selbstständiges Land, während die Letten nur eine Sowjetrepublik hatten, und der Geheimdienst vor Ort daher nur eine Moskau untergeordnete Abteilung. Zweitens hatte Lettland keinen großen Bruder, mit dem es sich vereinigt hat, der sowohl großen Wert auf die Aufarbeitung gelegt hat, als auch die logistischen Mittel zur Verfügung stellen konnte. So entstand nach der deutschen Einheit eine Behörde, die in der Presse jeweils den saloppen Namen ihrer Leiters Trug, Gauck, Birthler, Jahn. Lettland tut sich aber nicht nur aus diesen Gründen ungleich schwerer. Im Gegenteil zu Estland, dessen tabula rasa Politik die politische Elite mit der ersten freien Wahl von 1992 quasi hinwegfegte, ergab sich in Lettland eine Zusammenarbeit zwischen den Moderaten ehemaligen Kommunisten und den moderaten Befürwortern der Unabhängigkeit, der Volksfront. Viele ehemalige Funktionäre konnten ihre politische Karriere damit in die neuen Zeiten retten. Einer der bekanntesten von ihnen ist der Bürgermeister von Ventspils, Aivars Lembergs, der dieses Amt bereits 1988 angetreten und noch immer innehat. Das bedeutet natürlich nicht, in Lettland gäbe es in der Gesellschaft und auch unter Vertretern der politischen Elite nicht Kräfte, welche die Information über das damalige Spitzelsystem zu den Akten legen wollten. Seit Jahren wird darüber gestritten. In Lettland spricht man von den „Sächen der Čekisten“, über deren weiteres Schicksal dieses Frühjahr das Parlament entgültig entschieden hat. Bis 2017 sollen die Materialen von Wissenschaftler wissenschaftlich untersucht werden und danach der Öffentlichkeit zugänglich sein. Im Gegenteil zu Deutschland allerdings nach strengen Vorschriften von Seiten des Staates. Und das ist wiederum abhängig von den Forschungsergebnissen, wer forscht in welchem Umfang und wie wird über den zu publizierenden Anteil entschieden. Damit besteht die Gefahr, daß sich in den nächsten drei Jahren am Status Quo der Unsicherheit, was mit den Akten geschieht, nichts ändert. Freilich ist diese Lösung auch wieder nur ein Kompromiß. Das oppositionelle Harmoniezentrum, das im wesentlichen als Russenpartei gilt, war mit der Idee gekommen, man sollte die Akten ganz einfach vernichten und damit den Aktendeckel schließen. In die Zukunft schauen sei wichtiger als in die Vergangenheit. Die an der Regierung beteiligten Nationalisten von Für Vaterland und Freiheit / Alles für Lettland! stehen für eine rücksichtslose komplette Veröffentlichung. Der Aufklärer, der Liberale und selbstverständlich der Geschichtsinteressierte mögen letzteren Vorschlag für vernünftig und logisch halten und den vermeintlichen Russen eine „Schwamm-drüber-Mentalität“ vorwerfen wollen. Das Problem liegt aber tiefer. Wie bereits erwähnt, der KGB in Lettland war ja nur ein Teil der Maschinerie aus Moskau. Die in Lettland vorliegenden Akten sind eigentlich nur eine Kartothek mit Namen, Decknamen – und das war’s. Was die einzelnen Agenten tatsächlich gemacht haben, ihre Berichte, befinden sich in Moskau. Und Rußland wird diese Informationen kaum herausgeben. Anhand der Kartothek läßt sich also nicht ermitteln, wer wem eventuell welchen Schaden zugefügt hat. Darüber hinaus enthält die in Lettland verbliebene Kartothek sowieso nur 4.000 von vermutlich 25.000 was man in Deutschland „IM“ nennen würde. Manche Namen und Nachnamen inklusive Geburtsdatum sind identisch mit jenen weiterer lebender Personen, was in Lettland angesichts von sehr häufig auftauchenden Namen nichts besonderes ist. Ein deutsches Presseerzeugnis glaube ja bei der Wahl Andris Bērziņš zum Prsäidenten 2011 auch, es handele sich um den ehemaligen Ministerpräsidenten. Aber weit gefehlt. Wer ins Land nach Ieva Bērziņa rufen würde, bekäme auch mehr als nur ein Ja zu hören. Der Leiter des Auslandsnachrichtendienstes (Büro zum Schutze der Verfassung / Satversmes Aizsardzības Birojas), Jānis Maizītis, gemaht deshalb zur Vorsicht und ist nicht der einzige hochrangige Vertreter, der eine generelle Veröffentlichung aus den genannten Gründen für falsch hält. Er erinnert an mindestens einen Fall, wo ein Mensch in der Kartothek ohne sein eigenes Wissen landete. Ex-President Valdis Zatlers, derzeit Vorsitzender des Ausschusses der Nationalen Sicherheit fügt hinzu, daß all jene, deren Namen sich in der Kartothek befänden, ganz freiwillig auf Kandidaturen für öffentliche Ämter oder die Arbeit im Staatsdienst verzichteten. Ein geltendes entsprechendes Verbot ist auch im neuen Gesetz nicht gestrichen worden.

Regierungsbildung in Estland - Nachtrag

Estland hat seit diesem Frühjahr eine neue Regierung, darüber wurde bereits berichtet. Taavi Rõivas heißt der neue Ministerpräsident, der mit nur 34 Jahren nun der jüngste in Europa ist. Hintergrund für den Wechsel im Amt war der Rücktritt des langjährigen Amtsinhabers Andrus Ansip, der amtsmüde und vom Volke inzwischen nicht mehr goutiert, seiner Partei bessere Startchancen bei den Wahlen im Frühjahr 2015 und sich einen Job in Brüssel sichern wollte. Vorgesehen war eine Rochade. Er wechselt nach Brüssel, und Ex-Ministerpräsident Siim Kallas kommt nach zehn Jahren als EU-Kommissar auf seinen alten Posten zurück. Doch dagegen rebellierte die Partei. Als ihm dann noch Unregelmäßigkeiten während seiner Zeit als Chef der Notenbank vorgehalten wurde, floh er vor dem Kreuzfeuer der Kritik und warf als potentieller Regierungschef das Handtuch. Plötzlich stand seine liberale Reformpartei ohne Nachfolger da. Der auch international bekannte Außenminister Urmas Paet winkte ab, und die Partei mußte Ausschau halten nach jemand anderem. In die engere Wahl gezogen wurden der 47jährige Hannu Pevkur und eben Rõivas, Justiz- und Sozialminister im amtierenden Kabinett. Rõivas’ Wahl war schließlich eine Überraschung, obwohl der Mann eine steile Karriere hinter sich hatte. Mit 19 bereits war er Berater des Justizministers als Student der Wirtschaft der Universität Tartu gerade einmal im zweiten Studienjahr. Kurze Zeit später wurde er bereits Berater bei Ministerpräsident Ansip, dem er, so erinnern sich Kollegen, als einer der wenigen zu widersprechen wagte. Ansip sei generell eher beratungsresistent gewesen. Nachdem er vorher noch kurz Bezirksbürgermeister von Haabersti in der Hauptstadt Tallinn gewesen war, wurde er 2012 Minister. Diese Personalie blieb jedoch nicht die einzige Überraschung. Bei den vorausgegangenen Kommunalwahlen hatte die regierungsführende Reformpartei hinter ihrem konservativen Koalitionspartner Vaterland zurückgelegen. Das gab genügend Unstimmigkeiten, daß Rõivas bei der Regierungsbildung auch mit den oppositionellen Sozialdemokraten verhandelte – mit Erfolg. So kam es zur ersten liberal-sozialen Koalition in Estland, der freilich nur noch elf Monate bis zur Parlamentswahl bleiben. Die neue Regierung hat sich viel vorgenommen oder versprochen. Das Kindergeld wie auch die Gehälter der Lehrer sollten deutlich angehoben werden bei gleichzeitiger Haushaltsdisziplin. Der im Amt verbliebene langjährige Finanzminister Jürgen Ligi hatte sich zuvor immer geben derartige Mehrausgaben gesperrt und gilt als Sparmeister der Nation. Freilich bleibt abzuwarten, welche Versprechen realisiert werden. Erst einmal korrigierte das Finanzministerium die Erwartungen in das Wachstum des BIP von 3,6% auf nurmehr zwei.

Donnerstag, 4. September 2014

Brücken bauen, oder hatten wir die schon?

Es gibt auch einmal etwas Triviales zu berichten. In Riga bekommen Brücken jetzt Namen. Nein, nein, es geht nicht um eine Umbenennung bereits benannter Verkehrswege. Seit vielen Jahren heißt die Brück an der Freiheitsstraße im Volksmund Luftbrücke. Das hat nichts mit Berlin zu tun, sondern 1906 wurde diese Überführung als erste ihrer Art gebaut, die kein Gewäasser überqzert, darum eben Gaisa Tilts. Das soll jetzt nun offiziell werden. Die Brücke an der Kalnciema über den Bahndamm ans Meer soll eben auch so heißen, wie auch die Brücke neben der Bahnstation Brasa und diejenige neben dem Bahnhof Zemitani

Donnerstag, 28. August 2014

Bauen bleibt gefährlich in Lettland

Jüngst sollte in Riga in der Bīķernieku Straße ein neuer Maxima-Supermarkt eröffnet werden. Das ist dieselbe litauische Kette, deren Markt im Rigaer Stadtteil Zolitūde vergangenen Herbst eingestürzt ist. Nachdem die Untersuchungen ergeben hatten, daß für den Bau nicht taugliche Schrauben und Verstrebungen verwendet wurden, sind Beobachter hellhöriger geworden. Nicht jedoch die Bauaufsicht, wie sich derzeit herausstellt. Erneut wurden Materialien und darunter Schrauben verwandt, für welche die ausführenden Bauunternehmen keine Klassifizierung vorweisen konnten. Und das war nur eines von mehreren Beispielen für Unklarheiten während des Baus. Es scheint, als habe die Branche aus dem Unglück von 2013 nichts gelernt. Und das ist nun der Grund, warum der Staat die Eröffnung des neuen Superamrktes untersagt hat.

Litauen führt 2015 den Euro ein

Die Europäische Zentralbank hat im Frühjahr grünes Licht gegeben für die Einführung de Euro in Litauen. Der Staat erfülle nun die erforderlichen Kriterien. Dabei gehört es zu den Randnotizen der Geschichte, daß Litauen nach dem Beitritt zu EU gemeinsam mit den baltischen Nachbarstaaten Estland und Lettland bereits 2007 versucht hatte, die Gemeinschaftswährung einzuführen. Damals scheiterte der Wunsch an 0,1% zu hoher Inflation. Eine Zahl, die nach der Griechenlandkriese und angesichts des Umstandes, daß es gerade Frankreich und Deutschland waren, die vor Jahren als erste die sogenannten Maastricht-Kriterien brachen, geradezu lächerlich wirkt. Nun ist Litauen als das dritte und letzte Land im Baltikum, welches den Euro einführt. Die Einführung wird nun unterstützt von der Deutschen Bundesband in Frankfurt, welche 114 Tonnen Bargeld in Scheinen nach Litauen schicken will, das sind 132 Millionen Euro. Die Bank von Litauen will das Geld bis 2016 zurück geben sagte Zentralbank-Chef Vitas Vasiliauskas. Die Banknoten werden bis Dezember geliefert. Weitere 370 Millionen Euro in Münzen will Litauen in seiner eigenen Münzprägeanstalt produzieren.

Estland beschreitet Lettlands Weg

Im Frühjahr dieses Jahres haben die Russen in Estland vor Gericht verloren. Die Stadtverwaltungen von Tallinn und Narva hatten gegen die Pläne der Regierung geklagt, es den Letten mit ihrer Bildungsreform von 2004 gleichzutun, nämlich an russischen Schulen stufenweise bis zu 60% des Unterrichts in der offiziellen Landessprache also Estnisch stattfinden zu lassen. Der südliche Nachbar hatte dies bereits vor zehn Jahren zwar gegen Protest, aber ohne nennenswerten Widerstand eingeführt. Nun folgen auch die Esten.

Freitag, 28. März 2014

Rochade in Estland?

Die Unzufriedenheit der Wähler mit ihrem seit bald zehn Jahren regierenden Ministerpräsidenten Andrus Ansip von der Reformpartei war spätestens seit den Demonstrationen vor dem Parlament im Herbst 2012 bekannt. Ansip hielt durch. Doch seine Amtsmüdigkeit zeigte sich dann im Vorfeld der anstehenden Europawahlen. Jetzt kündigte er seinen Rücktritt an und schlug gleichzeitig Europakommissar Siim Kallas als seinen Nachfolger vor. Der frühere Ministerpräsident und Gründer der Reformpartei war nun zehn Jahre lang für Estland in der EU-Kommission und kann sich eine Rückkehr in die Heimat vorstellen. Darum schickte er kürzlich einen Brief an seine Parteifreunde mit dem Vorschlag, er sei bereit das Amt des Regierungschefs erneut zu übernehmen, um die estnische Präsidentschaft der EU im Jahre 2018 vorzubereiten. Andrus Ansip wiederum könnte nach Brüssel wechseln. Diese Idee wiederum stammt möglicherweise von Kallas, weil es hinter den Kulissen heißt, Ansip wolle sich nicht selbst vorschlagen. Ansip aber hatte Kallas schon früher als seinen Nachfolger vorgeschlagen, da Estland bis zur EU-Präsidentschaft einen erfahrenen Regierungschef brauche, ohne damals gleich einen Termin für seinen eigenen Rücktritt zu nennen. Hindernisse auf dem Weg zu einer solchen Rochade bestanden dennoch Dank Widerstände in der eigenen Partei und potenten Alternativen wie der an Jahren jüngere Außenminister Urmas Paet. Darüber hinaus befindet sich die Reformpartei derzeit in einer Koalition mit der Konservativen Vaterlandsunion, die gerne selber den Europakommissar stellen würde und bei einer eventuellen neuen Regierungsbildung unter einem anderen Regierungschef das Nachsehen haben könnte, wenn sich die Reformpartei einen anderen Partner sucht, der im Parlament umgekehrt für die Konservativen nicht in Sicht ist. Nachdem diese Idee einer Rochade publik geworden war – Ansip geht nach Brüssel und Kallas kommt im Gegenzug zurück – regten sich Proteste und Kallas verzichtete schließlich auf eine Kandidatur. Gleichzeitig mit der Frage der Spitzenkandidatur ergab sich die Frage der Koalitionsbildung. In einem Parlament mit nur vier Fraktion sind theoretisch mehrere Kombination denkbar, die auch politisch nicht abwegig sind in einem Land, in dem bald jede Partei mit jeder schon einmal gemeinsam regiert hat. Die liberale Reformpartei fand schließlich programmatische Übereinstimmungen mit den oppositionellen Sozialdemokraten, die ihrerseits in den 90er Jahren mit dem bisherigen Koalitionspartner, der Konservativen IRL koaliert hatte. Gegen manche Widerstände wurden Verhandlungen aufgenommen, bevor die Reformpartei schließlich den erst 1979 geborenen Sozialminister Taavi Rõivas als neuen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten vorschlug. Estland bekommt so die erste liberalsoziale Koalition. Am 26. März wurde die neue Regierung vereidigt. Von der Reformpartei behalten ihre Ämter Finanzminister Jürgen Ligi und Außenminister Urmas Paet, während der Vorsitzende der Sozialdemokraten, Sven Mikser, als Verteidigungsminister dieses Amt nicht zum ersten Mal führt. Doch der Regierung bleibt nicht viel Zeit zur Einarbeitung. Bereits im März des kommenden Jahres sind Parlamentswahlen. Diese mit dem fast zehn Jahre amtierenden Andrus Ansip zu gewinnen, galt nicht als sicher – ein wesentlicher Grund für seinen Rücktritt. Mit Blick auf die Koalitionsgeschichte Estlands seit 1992 werden mit großer Wahrscheinlichkeit die Karten dann wieder neu verteilt.

Samstag, 15. Februar 2014

Unabhängiger Indrek Tarand kandidiert wieder

Vor fünf Jahren wurde der in Estland vor allem als Fernsehmoderator bekannte Tarand als Unabhängiger Kandidat ins Europaparlament gewählt. In die Politik ging er allerdings nicht völlig unbedarft. Tarand war in den 90er Jahren Berater des etrsten Ministerpräsidenten nach der Unabhängigkeit, Mart Laar, und später unter seiner jetzigen Parlamentarierkollegin, Kristiina Ojuland, als Außenministerin Staatssekretär. Tarand hatte in den vergangenen Monaten offen gelassen, ob er erneut anzutreten gedenke. Er hatte erklärt, er müsse erst seinen 50. Geburstag abwarten, um die entsprechende Reife für die Entscheidung zu erlangen. Anfang Februar wurde er nun 50 und tart mit der Ankündigung an die Öffentlichkeit, er werde seinen Hut in den Ring werfen. Als Begründung gab er die geplante Rochade zwischen Siim Kallas und Andrus Ansip an, die ihn abstoße.. Von solch einem vorher angekündigten Rollentausch habe man bei aller Unterstützung, die Parteifreunde bei einer Kandidatur leisten können, noch nie gehört. Die Kommentare im Internet zu der entsprechenden Meldung sind inteteressanterweise sehr gespalten. Die einen Wähler würden ihn jederzeit wieder wählen, andere geben an, von der Arbeit Tarands im EU-Parlament nichts gehört zu haben. Ein dritter Kommentator wiederum meint, das Volk habe die Nase voll von dem Entertainer. Diesem Kommentar wird nun wiederum vorgeworfen, woher ein einzelner wissen wolle, daß das ganze Volk von Tarand enttäuscht sei.

Dombrovskis will Präsident der EU-Kommission werden

Die größte Regierungspartei Vienotība (Einigkeit) hat am Samstag den im November wegen des Zusammebruchs eines Supermarktes zurückgetretenen ehemaligen Ministerpräsidenten Valdis Dombrovskis offiziell als ihren Kandidaten für das Präsidentenamt der EU-Kommission und somit als Nachfolger für José Manuel Barroso aufgestellt. Um einen Kandidaten zu benennen bedarf es der Unterstützung aus der eigenen Parteienfamilie und Fraktionsgemeinschaft im EU-Parlament aus wenigstens zwei weiteren Staaten. Diese haben die Parteifreunde aus Litauen und Estland zugesagt. Für das Europaparlament kandidieren neben Dombrovskis die bisherige Abgeordnete Sandra Kalniete, der ausgeschiedene Verteidigungsminister Artis Pabriks wie auch die derzeitigen Vertreter ihrer Partei in Brüssel Krišjānis Kariņš, Kārlis Šadurskis und Inese Vaidere. Da die Wähler bei den lose gebundenen Listen in Lettland Kandidaten ausstreichen können, gibt es mehr Kandidaten als Lettland mit 8 Sitzen im Europaparlament zustehen. Deshalb folgen noch der Vorsitzende des auswärtigen Ausschusses Ojārs Ēriks Kalniņš, der Saeima Abgeordnete Andrejs Judins, der im vergangenen Jahr die Kindertausch-Aktion ins Leben gerufen hatte, der bisherige parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Veiko Spolītis und andere. Reelle Aussichten dürften nur die ersten drei genannten Kandidaten haben, weil die Vienotība bei weitem nicht mehr so populär ist, wie vor fünf Jahren. Es ist nicht auszuschließen, daß sie sogar nur zwei Sitze erreicht.

Donnerstag, 13. Februar 2014

Politische Rochade in Estland?

Böse Zungen haben den Vergleich mit Medwedew und Putin in Rußland bereits gezogen! In der estnischen Politik könnte sich dieses Jahr ein fliegender Ämterwechsel vollziehen zwischen Ministerpräsident Andrus Ansip und Europakommissar Siim Kallas. Ansip würde im kommenden Jahr sein zehnjähriges Jubiläum im Amt feiern, müßte dafür aber auch die anstehenden Wahlen im März 2015 gewinnen. Das könnte ihm schwer fallen, weil in seiner langen Regierungszeit – ein einmaliger Rekord im gesamten postsozialistischen Raum – die Bevölkerung seiner langsam überdrüssig wird, und nicht nur das. Es gibt handfeste Proteste aus breiten Bevölkerungssschichten wie auch von intellektueller Seite. Im Herbst 2012 wurde intensiv vor dem Parlament in Tallinn demonstriert. Eine ehemalige Weggefährtin und Parteifreundin von Kallas und Ansip, die Europaabgeordnete Kristiina Ojuland, die unter Kallas als Außenministerin diente, warf ihrer alten Partei vor, vom Namen Reformpartei sei nur noch die Hülle übrig geblieben und schickt sich an, eine neue Partei ins Leben zu rufen. Der frühere Ministerpräsident und Gründer der Reformpartei, Siim Kallas, war nun zehn Jahre lang für Estland in der EU-Kommission und kann sich eine Rückkehr in die Heimat vorstellen. Darum schickte er kürzlich einen Brief an seine Parteifreunde mit dem Vorschlag, er sei bereit das Amt des Regierungschefs erneut zu übernehmen, um die estnische Präsidentschaft der EU im Jahre 2018 vorzubereiten. Andrus Ansip wiederum könnte nach Brüssel wechseln. Dieser Vorschlag könnte deshalb von Kallas kommen, weil es hinter den Kulissen heißt, Ansip wolle sich nicht selbst vorschlagen. Ansip aber hatte dafür Kallas schon vorher als seinen Nachfolger vorgeschlagen, da Estland bis zur EU-Präsidentschaft einen erfahrenen Regierungschef brauche, ohne gleichzeitig einen Termin für seinen eigenen Rücktritt zu nennen. Hindernisse auf dem Weg zu einer solchen Rochade bestehen dennoch. Erstens war Kallas bereits einmal Regierungschef, und zweitens wurde bislang der jüngere Außenminister Urmas Paet ebenfalls als möglicher Nachfolger von Ansip gehandelt. Darüber hinaus befindet sich die Reformpartei derzeit in einer Koalition mit der Konservativen Vaterlandsunion, die gerne selber den Europakommissar stellen würde und bei einer eventuellen neuen Regierungsbildung unter einem anderen Regierungschef eventuell generell das Nachsehen haben könnte, wenn sich die Reformpartei einen anderen Partner sucht, der im Parlament umgekehrt für die Konservativen nicht in Sicht ist. Beide Oppositionsparteien, die Sozialdemokraten und die Zerntrumspartei, äußerten sich zwar zurückhaltend über Kallas’ mögliche Rückkehr, charakterisierten ihn aber als umgänglicher und kompromomißorietierter im Vergleich zu Ansip und böten sich entsprechend als Koalitionspartner auch für eine neue Regierung an.

Lettland verliert erneut in Straßburg

Lettland hat vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte des Europarates nicht erst einen Prozeß verloren. Vor einigen Jahren ging ein Fall durch die Medien, als ein früherer Häftling, der in der JVA Daugavpils im Osten des Landes eigesessen hatte, wegen der unmenschlichen Haftbedingungen dort eine Entschädigung von mehr als 11.000 Lat zugesprochen bekam – das sind knapp 16.000 Euro. Viele mußten auch erst begreifen, daß es sich hier nicht um eine einmalige Strafe für Lettland handelte, sondern umm ein Schmerzensgeld, auf das nach diesem Urteil quasi jeder Gefangene aus Daugavpils hätte einfordern können. Nun hat das Gericht im Fall Cēsnieks gegen Lettland für erwiesen erachtet, daß im Jahre 2002 der Beschuldigte von der Polizei mit Gewalt zu Geständnissen gedrängt wurde. Der Gerichtshof betonte, es sei nicht seine Aufgabe die Glaubwürdigkeit der Beweise zu prüfen, auch würden juristische Fehler und Irrtümer bei den Fakten in den nationalen Gerichten nicht bewertet. Wichtig sei aber die Garantie der Gerechtigkeit, welche die Menschrechtskonvention vorsieht. Und in dieser ist die Anwendung von Gewalt ausdrücklich untersagt. Der Kläger verlangte 9.490 Euro als Kompensation für seine Ausgaben und 50.000 Euro Entschädigung. Das Gericht sprach ihm jeweils 5.037 und 6.000 Euro zu. Vorausgegangen war die Festnahme des Beschuldigten für die Beteiligung an einem Mord, nachdem er zunächst erst als Zeuge gehört worden war. Während des Verhörs wurde der Mann mißhandelt und legte ein Geständnis ab. Das Rigaer Regionalgericht gab später dem Beschuldigten Recht, während anschließend der Kriminalsenat des Obersten Gerichtshofes den Mann erneut wegen seines ursprünglichen Geständnisses veruteilte. Ähnlich verhält sich der zweite Fall Sapožkovs gegen Lettland. Der Beschuldigte wurde bei Sichtung seiner persönlich Gegenstände bei der Üerführung in das Gefängnis Daugavgrīva mit einem Gummistock geschlagen, was später auch bei einer ärztlichen Untersuchung dokumentiert wurde. Die Gewaltanwendung wurde von den Behörden damit begründet, der Häftling habe die Durchsuchung seines Eigentums gestört. In diesem Fall verlangte der Kläger sogar 90.000 Euro Entschädigung, zugebilligt wurden ihm aber nur 4.000. Die lettische Regierung hatte sich beim Gericht darüber bewschwert, daß der Kläger nicht sofort Beschwerde eingereicht habe. Der Gerichtshof wies seinerseit auf die Notwendigkeit der Garantie einer effektiven Untersuchung hin. Bei Besuchen in Lettland während der letzten zehn Jahre sei man aber zu dem Schluß gekommen, die zuständigen Amtspersonen in den Gefängnisses seien nicht unabhängig. Damit sei eine ordentliche Untersuchung derartiger Vorfälle beinahe unmöglich. So wurden Eingaben bei der Staatsanwaltschaft zurückgewiesen und ein entsprechendes Verfahren eingestellt, nachdem die Verwaltung des gefängnisses seine Version der Vorfälle vorgetragen hatte.

Sonntag, 9. Februar 2014

Korruptionsbekämperin zum dritten Mal entlassen

Die Anti-Korruptionsbehörde, KNAB, in Lettland ist seit ihrer Gründung 2003 regelmäßig in den Schlagzeilen. Und das nicht unbedingt wegen spektakulärer Erfolge oder Mißerfolge, sondern wegen der oft politisierten Personalpolitik. Über die Vergabe des Chefpostens wurde sich die Politik gleich am Anfang nicht einig und berief schließlich Andrej Loskutow, der später entlassen wurde. Ihm folgte Normunds Vilnītis, der ebenfalls aus dem Amt gejagt wurde.. Der derzeitige Chef Jaroslaw Streļčenoks, welcher als erster nicht von außen kam, sondern bereits vorher in der Behörde gearbeitet hatte, entließ dieser Tage zum dritten Mal innerhalb von knapp zwei Monaten seine Stellvertreterin Juta Strīķe, welche dieses Amt quasi von Beginn an bekleidet. Das erste Mal erfolgte dies am 20. Dezember kurz vor Weihnachten. Der damals noch geschäftsführend im Amt befindeliche Ministerpräsident Valdis Dombrovskis annulierte den Schritt von Streļčenoks umgehend. Eine weitere Entlassung erfolgte am 14. Januar 2014, die ebenfalls vom immer noch die Geschäfte führenden Dombrovskis an seinem letzten Tag im Amt aufgehoben wurde. Die neue Regierungschefin Laimdota Straujuma bemühte sich um ein Treffen mit dem Leiter der Anti-Korruptionsbehörde, was jedoch einstweilen nicht zustande kam. Ähnlich erging es dem Generalstaatsanwalt Ēriks Kalnmeiers. Streļčenoks wirft seiner Stellvertretering nach einem wiederholten Monitoring ihrer Tätigkeit vor, ihre Amtsgeschäfte nicht ausgeführt und mehrfach gegen verschiedene Vorschriften verstoßen zu haben. In der Tat hatte Strīķe nicht nur eine Entscheidung ihres Vorgesetzten während dessen Urlaub in der Vergangenheit aufgehoben. Daß es zum Konflikt kommen würde, war somit vorprogrammiert. In einem Interview mit dem Magazin „ir“ erklärte Strīķe, weiter für ihren Verbleib im Amt zu kämpfen. Auf die Frage, warum sie nach der Entlassung von Streļčenoks’ Vorgänger nicht selbst kandidert habe, antwortete sie, daß vermutlich nur wenige politisch Verantwortliche sie in diesem Amt sehen wollten. Bei vorherigen Auswahkverfahren war sie nicht gewählt worden. Die Anti-Korruptionsbehörde hat in Lettland angesichts verschiedener Skandale und Verwicklung von öffentlicher Hand und Politik darin, nicht wenig zu tun. Einer der bekanntesten darunter sind die Ungereimtheiten bei der staatlichen Luftfahrtgesellschaft air baltic unter deren langjährigen Chef Berthold Flick, Sproß der bekannten deutschen Unternehmerfamilie. Der jüngste Skandal rankt sich um die Absetzung des Vorsitzenden des Rigaer Regionalgerichts. Juta Strīķe betont im gleichen Interview sich auf die internationale Zusammenarbeit mit vergleichbaren Behörden im Ausland berufend, man wundere sich dort, warum mit den vorliegenden Beweisen ein Fall nicht zur Anklage komme. In ihrem Land würde das vorliegende Material völlig ausreichen. Der Think Tank Providus hat ebenfalls erst kürzlich in einem Bericht zur Lage der Korruption im Lande darauf hingewiesen, daß nie so wenig Fälle vor Gericht gekommen seien wie im Jahr 2013. Es besteht kein Zweifel an der Korrumpiertheit von lettischer Politik und Verwaltung, die gewiß italienische Ausmaße oder auch nur französische sicherlich nicht erreicht. In einem kleinen Land von gerade etwas mehr als zwei Millionen Einwohnern, wo jeder fast jeden kennt, ist die Gefahr von Einflußnahme groß, wobei es von außen schwer zu beurteilen bleibt, was hinter den Kulissen passiert und wer auf wen Druck ausübt. Juta Strīķe berichtet im Intgerview ruig, sie habe immer damit gerechnet, daß eines Tages der Tag kommt, an dem sie entlassen und auf Ersparnisse angewiesen sein wird. Diese habe sie.

Wollen die Letten das imperative Mandat?

Das lettische Parlament berat seit etwas mehr als einem Jahr eine Petition aus den Reihen der Bevölkerung. Etwa 13.000 Menschen hatten auf der politischen Mitmachseite www.manabalss.lv eine Motion unterschrieben, die eine Möglichkeit zu Abberufung von Parlamentsabgeordneten bietet. Selbstverstunlich mag es dem ein oder anderen oder gar vielen Wählern vernünftig erscheinen, Abgeordnete zu schassen, die ihre vollmundigen Wahlversprechen nicht einhalten oder gar in irgendwelche Skandale verwickelt sind. Doch Lettland ist wie Deutschland eine repräsentative Demokratie, in welcher Volksvertreter auf Zeit vom Volk gewählt werden, um dieses zu vertreten. Damit sie dabei möglichst nicht unter von jedweder Seite stehen, gibt es die Gewissensfreiheit, die im deutschen Grundgesetz in Artikel 38 festgelegt ist. Freilich spricht man in der Öffentlichkeit gerne von Fraktionszwang, und es versteht sich von selbst, daß Regierungen sich auf die sie stutzenden Fraktionen verlassen können sollten, um ein stabiles Regieren zu gewährleisten. Und in spektakulären Einzelentscheidungen wird dann gerne einmal erklärt, der Fraktionszwang sei bei dieser konkreten Abstimmung aufgehoben. Aber gesetzlich gibt es einen solchen natürlich nicht. Einen Abgeordneten abberufen zu können, stellt die Volksvertreter jedoch unter den konkreten Druck ihrer Wähler. Und das auch wieder nur bedingt, schließlich gibt es ein Wahlgeheimnis. Das bedeutet, über die Abberufung eines Abgeordneten wurden nicht nur jene Wähler entscheiden, die bei der vorherigen Wahl diesen konkreten Politiker gewählt haben – in Lettland wählt man mit lose gebunden Listen, auf welchen mißliebige Kandidaten auch ausgestrichen werden können – sondern alle. Da ist dann anläßlich einer Motion zur Abberufung ziemlich sicher, daß neben unzufriedenen Wählern, die noch bei der Wahl diesen Politiker bevorzugten, dessen Gegner freilich auch alle gegen ihn stimmen werden. In diesem Fall konnte man sich eine Abstimmung beinahe sparen. Einen Abgeordneten abberufbar zu machen, kommt außerdem nahe an das Imperative Mandat heran. Die Wähler wurden also ihre Volksvertreter mit einem konkreten Auftrag in das Parlament schicken. Das konnte natürlich dazu fuhren, daß Kandidaten sich mit ihren Versprechungen zurückhalten. Aber ob der Wähler bei einer Wahlkampagne realistischere Ankündigungen goutieren wurde, bleibt ebenfalls eine offene Frage. Und genau weil die Idee mit dem abberufbaren Abgeordneten demokratietheoretisch problematisch ist, wurde der entsprechende Gesetzentwurf in den Ausschössen des lettischen Parlaments bereits dahingehend korrigiert, daß ein Abgeordneter von seinem Mandat entbunden werden konnte, wenn er gegen seinen feierlichen Eid verstößt. Doch was soll man da als Verstoß werten dürfen? Der Eid ist ja eine sehr allgemein gefaßte Formulierung. «Es, uzņemoties Saeimas deputāta amata pienākumus, Latvijas tautas priekšā zvēru (svinīgi solu) būt uzticīgs Latvijai, stiprināt tās suverenitāti un latviešu valodu kā vienīgo valsts valodu, aizstāvēt Latviju kā neatkarīgu un demokrātisku valsti, savus pienākumus pildīt godprātīgi un pēc labākās apziņas. Es apņemos ievērot Latvijas Satversmi un likumus.» Übersetzung: Ich schwöre (verspreche feierlich) vor dem lettischen Volk, die Aufgaben eines Abgeordnetenmandates übernehmend, treu zu Lettland zu stehen, seine Souveränität und Lettisch als einzige Amtssprache stärken, Lettland als unabhängigen und demokratischen Staat verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft und nach bestem Wissen erfüllen werde. Ich verpflichte mich, die Verfassung Lettlands und seine Gesetze zu achten. Ein Verstoß gegen Recht und Gesetz durch einen Abgeordneten ist außerdem auch ohne die Abberufbarkeit schon heute ein Grund für die Aufhebung der Immunität, die Abgeordnete gerade zum Schutz ihrer Gewissensfreiheit genießen. Pikant ist dieser Aspekt vor dem Hintergrund, daß die Abgeordneten des lettischen Parlamentes 2011 Solidarität mit einem der lettischen Oligarchen, Ainārs Šlesers, gezeigt hatten. Als die Staatsanwaltschaft gegen ihn ermitteln wollte, votierten für die Aufhebung der Immunität nur 35 von 100 Kollegen. Damals war das Anlaß für den scheidenden Präsidenten Valdis Zatlers, die Parlamentsauflosung anzuregen. Also doch eine Abberufbarkeit einfuhren Aus demokratietheoretischer Sicht scheint als Scherbengericht die jeweils nächste Wahl doch die bessere Alternative zu sein. Das lettische Parlament kommt so auch zu dem Schluß, daß für eine solche Maßnahme eine Verfassungsänderung nötig sei, deren Realisierung aber eher schwierig sein könnte. Darüber hinaus geben die Abgeordneten zu bedenken, daß alle Amtspersonen einen Amtseid ablegen und man deshalb vielleicht besser generell über Amtsenthebungsverfahren nachdenken sollte.

Umstrittene Fahrkartenpreise in Riga

Wahrend in der estnischen Hauptstadt nun im zweiten Jahr der öffentliche Nahverkehr für die Einwohner der Stadt gratis ist, hat sich der Rigaer Burgermeister Nil Usakow mit seiner Stadtverwaltung im vergangenen Jahr ausgedacht, daß man sich ähnlich wie in Estland als Einwohner von Riga registrieren läßt und beim öffentlichen Nahverkehr damit andere Konditionen bekommt – billiger fährt als Auswärtige, die künftig den doppelten Preis bezahlen sollten. Vor den Kundenzentren von Rīgas Satiksme bildeten sich lange Schlangen – im Dezember ließ sich auch der Autor dieser Zeilen vorsichtshalber registrieren – um die nunmehr mit Photo ausgestatte neue Karte zu erhalten, die dann im Gegenteil zu alten Mehrfahrtenkarten mit bis zu 50 Fahrten natürlich nicht mehr Übertragbar ist. Schon 2013 regte sich Widerstand unter den zahlreichen Pendlern, die im Rigaer Landkreis in der Umgebung leben. Der Schritt der Stadtverwaltung war insofern auch überraschend, als zahlreiche Stadtbuslinien bis in diese Nachbargemeinden fahren – Babīte, Baloži und Mārupe, um nur einige Beispiele zu nennen. Auch technisch war die Idee fragwürdig. Neben personalisierten Zeitfahrkarten für bestimmte Linien oder das gesamte Netz gibt es gelbe Einweg-Mehrfahrtenkarten aus Karton, die bis zu 20 Fahrten laden können und feste, wiederaufladbare Karten aus Plastik in blau, auf denen bis zu 50 Fahrten gespeichert werden können. (Zur naheren Erklärung, das Fahrkartensystem funktioniert in Riga elektronisch. Die Karte wird an ein Lesegerät gehalten, welches eine Fahrt abbucht und die verbliebene Anzahl im Display anzeigt.) Die Frage wäre also gewesen, wie etwa ein als Rigenser registrierter Passagier und ein Auswärtiger künftig ihre Fahrkarten an den in der Stadt aufgestellten Automaten aufladen kann. Eine Information darüber, daß der Automat zwischen der Karte eines registrierten Einwohners und einer üblichen Mehrfahrtenkarte unterscheiden kann, wurde nicht verbreitet. Das Ministerium für Regionalentwicklung unter dem gerade erst ins Amt gekommen neuen Minister Einārs Cilinskis von der nationalkonservativen Partei „Alles für Lettland! – TB/LNNK“ hat nun im Januar aus juristischen Erwägungen die Notbremse gezogen. Die Verteuerung der Fahrkarten für Auswärtige ist bis Jahresende aufgehoben. Man argumentiert, daß es sich erstens um eine Diskriminierung handele und zweitens Riga als Hauptstadt besondere Aufgaben habe. Gegebenenfalls müßte eben der Rigaer Nahverkehr aus staatlichen Mitteln mehr unterstutzt werden, auch wenn das dem Finanzminister sicher nicht gefallen werde.

Supermarkt in Riga stürtzt ein - politische Folgen

Nach dem Einbruch des Daches eines Supermarktes im Rigar Vorort Zolitūde mit 54 Toten übernahm Ministerpräsident Valdis Dombrosvkis wenige Tage später die politische Verantwortung und trat für viele überraschend zurück. Dombrovskis hatte erst kürzlich das Datum erreich, zu dem er der am längsten amtierende Ministerpräsident seines Landes war, selbst wenn man die beiden Amtszeit von Ivars Godmanis nach 1990 und als direkter Vorgänger Dombrovskis’ zusammen nimmt. Dombrovskis kam als Abgeordneter des EU-Parlaments im Frühjahr 2009 ins Amt als der damalige Präsident Valdis Zatlers seine Rechte bis auf das letzte ausreizend erklärt hatte, er erwarte jetzt eine Regierung mit neuen Gesichtern. Der 1971 geborene Domborvskis ließ sich von seiner Partei – damals noch die neue Zeit – den Posten andienen, obwohl bei höherer Verantwortung und Medienpräsenz die Bezahlung geringer ist. Einem deutschen Journalisten gegenüber rechtfertigte er seinen Schritt mit dem Argument, daß es ja jemand machen müßte. Dombrovskis überlebt im Amt zwei Parlamentswahlen und stellt damit sämtliche Rekorde seiner Vorgänger ohne Zweifel in den Schatten. Sein e ruhige, eher technokratische Art wurde sicher von vielen Kollegen im politischen Raum weniger gemocht, doch in der Bevölkerung konnte er seine Reputation trotz aller harten Sparmaßnahmen, die Lettland zum 1. Januar dieses Jahres in den Euroraum führen, erhalten. Dombrovskis stehe trotzdem nicht zur Verfügung für eine neue Regierung, erklärte der Zurückgetretene. Dahinter stehen zahlreiche Spekulationen. Dombrovskis ist selbst von der FAZ in Deutschland als potentieller Nachfolger von José Manuel Barroso gehandelt worden, der nach den Europawahlen im Frühjahr nicht mehr weiter machen kann. Dombrovskis käme aus einem kleinen Land – große würden die kleinen eher nicht akzeptieren – und wäre mit der Einführung des Euro im eigenen Land sicher der Held der europäischen Positivisten. Gleichzeitig kehrt auch EU-Kommissar Andris Piebalgs nach Lettland zurück, womit eine ausschließlich von Lettland zu besetzende Position frei wird. Komplizierter sieht es beinahe daheim aus. Wer soll Dombrovskis nachfolgen. Und hier beginnen die Spekulationen über den wahrhaftigen Grund des Rücktrittes. Es kann kein Zweifel bestehen, daß mit der Bewältigung der Krise – Lettland hat derzeit das höchste Wirtschaftswachstum in der EU – und der Einführung des Euro Dombrovskis zwei wesentliche Aufgaben erledigt hat. Gleichzeitig begann ihm die Regierungskoalition zu zerfallen. Nachdem der von der Nationalen Allianz gestellte, inzwischen aber nach einem Parteiausschluß parteilose Justizminister Jānis Bordāns nach Ansicht der Nationalisten von Dombrovskis hätte entlassen werden müssen und der Regierungschef diesem Verlangen nicht entsprochen hatte, hatte diese Partei ihrerseits erklärt, der Koalitionsvertrag gelte nun für sich nicht mehr. Dombrovskis fand sich also nach allen Rekorden im Amt in den Niederungen der lettischen Parteipolitik wieder, die nicht wenige Regierungen der letzten 20 Jahre zu Fall gebracht haben. Der größere Koalitionspartner, die Reformpartei des ehemaligen Präsidenten Valdis Zatlers hatte sich nicht nur unmittelbar nach der Wahl von 2011 gespalten, sondern befindet sich weiter auf Spaltungskurs. Auch die größte Regierungspartei, die Einigkeit (Vienotība) selbst ist nicht in guter Verfassung. Während also offiziell verlautbart wurde, jemand müsse ja die politische Verantwortung für das Unglück im Supermarkt übernehmen, scheinen diese Überlegungen einen nachvollziehbareren Hintergrund darzustellen. Es kann trotzdem kein Zweifel bestehen, daß neben einigen Köpfen in verschiedenen Ämtern, die gerollt sind, auf politischer Ebene auch in der ja nun direkter verantwortlichen Rigaer Stadtverwaltung von niemandem ein solcher Schritt in Erwägung gezogen worden ist. Weder von Bürgermeister Nil Uschakow, noch von seinem Stellvertreter Andris Ameriks, der sich bei verschiedenen Eröffnungen auch gern photographieren ließ. Die spannende Frage ist nun, wer Dombrovskis nachfolgen könnte angesichts der prekären Mehrheitsverhältnisse und der Tatsache, daß die nächsten Wahlen bereits im Herbst vor der Tür stehen. Die meisten politischen Kräfte sind der Meinung, daß nach wie vor die siechende Einigkeit die Aufgabe der Regierungsbildung zu übernehmen habe. Laut Verfassung jedoch muß der Präsident einen Kandidaten offiziell ernennen, auch wenn diese zunächst von den Parteien vorgeschlagen werden. Die Einigkeit einigte sich auf drei Personen. Unter ihnen als ernsthaftester Anwärter Verteidigungsminister Artis Pabriks, der früher auch schon Außenminister gewesen ist. Außerdem der Europaabgeordnete Krišjānis Kariņš. Der aus den Reihen der Bauern und Grünen stammende Präsident Andris Bērziņš lehnte diese Kandidatur gleich zwei mal ab mit dem Hinweis, Pabriks habe als Verteidigungsminister keine gute Arbeit geleistet und ein Mann mit wirtschaftlichen Qualifikationen sei derzeit gefragt. Die Handlungsweise des Präsidenten führte schließlich dazu, daß auch in der Presse darüber gestritten wurde, ob sich Bērziņš überhaupt irgendwelcher realer Forderungen an den neuen Regierungschef bewußt sei. Seine eigene Idee, Parlamentspräsidentin Solvita Āboltiņa ins Spiel zu bringen, wurde schnell fallen gelassen. Spekuliert wurde auch darüber, ob der Präsident bei seinem wöchentlichen Treffen mit Dombrovskis diesen nicht zu einem Rücktritt genötigt habe. Als Indiz wurde in der Presse der unerwartete Auftritt Dombrovskis gewertet, nachdem er noch am Morgen in einem Fernsehinterview nichts dergleichen angerissen hatte, wie auch seine Emotionalität während der kurzfristig anberaumten Pressekonferenz. Das sind jedoch Spekulationen. Eine instabile Regierung und weitere schwere Aufgaben im Zusammenhang mit Liepājas Metalurgs, der kurz vor der Pleite steht als auch die anhaltenden Konflikte um die Luftfahrtgesellschaft airBaltic dürften eine Rolle gespielt haben. Probleme, die mit einer in der Schwebe liegenden politischen Zusammenarbeit nur bedingt zu bewältigen sind.

Aufenthaltsgenehmigung für Immobilienbesitz

Sogar das deutsche Fernsehen berichtete über die Idee Lettlands, Investitionen aus dem nicht EU-Ausland mit dem Versprechen von Aufenthaltsgenehmigungen für den Schengen-Raum zu ködern. Das ZDF-“auslandsjournal” zeigte am 3. Juli 2013 wie reiche Chinesen und Russen in Lettland Immobilen erwerben und sich anschließend von Riga aus in der EU frei bewegen können. Das lettische Parlament hat nun eine neue Gesetzesvorlage eingebracht und diese mit dem Status der Eiligkeit versehen, mit der Änderungen dieser Regelungen für den Erhalt der Aufenthaltsgenehmigung vorgenommen werden. Die Novelle sieht ab sofort Quoten für eine Aufenthaltsgenehmigung aufgrund von Immobilienerwerb vor, was den größten Teil der Investitionen ausmacht. Folglich können im kommenden Jahr noch 700 Personen auf eine solche hoffen, 525 Antragsteller im Jahre 2015 und anschließend nurmehr 350 jährlich. Erforderlich für den Erwerb des begehrten Papiers ist der Besitz von funktional miteinander verbundenen Immobilien im Wert von mindestens 150.000 Euro. Darüber hinaus müssen weitere 25.000 Euro in einen „Fond zur ökonomischen Entwicklung” eingezahlt werden, welcher noch gegründet werden soll. Die neuen Voraussetzung stellen eine qualitative Veränderung gegenüber den bisherigen Forderungen dar. Bislang wurden Investitionen von 100.000 Euro in Städten und 50.000 Euro außerhalb der Städte verlangt, das heißt, bislang genügte zur Erlangungen der Aufenthaltsgenehmigung auch der Besitz mehrerer separater Immobilien, deren Wert insgesamt die erforderliche Summe erreichte. Die lettische Politik reagiert mit dieser Novelle natürlich auf eine Diskussion über die bisherige Praxis im Inland, doch auch die Aufmerksamkeit des westeuropäischen Ausland dürfte den Letten wenig gefallen haben. Offiziell werden die Veränderungen mit einem negativen Einfluß auf den Immobilienmarkt begründet. Erst an zweiter Stelle werden die Probleme angeführt, daß Personen aus dem außereuropäischen Ausland auf diese Weise an eine Aufenthaltsgenehmigung für den Schengen-Raum gelangen. Der negative Einfluß auf den Immobilienmarkt ist ein zumindest überraschendes Argument. Zwar steht es außer Frage, daß zahlungskräftigere Kunden als potentielle einheimische Klienten tendenziell die Preise in die Höhe treiben. Auf der anderen Seite dürften viele Objekte auf dem lokalen Markt aber auch wegen ihrer Preislage unverkäuflich sein. Und die Regelung mit der Aufenthaltsgenehmigung wurde schließlich 2010 gerade deshalb eingeführt, um den Immobilienmarkt zu beleben, der nach der Finanzkrise und dem Platzen der Immobilienblase zeitweilig zum Erliegen gekommen war. 2010 sah die neu geschaffene Gesetzeslage im Detail vor, um ein Recht auf ein befristetes Aufenthaltsrecht in Lettland auf fünf Jahre zu bekommen, umgerechnet 142.288 Euro in eine oder mehrere Immobilien in Riga, im Kreis Riga oder in den größten Städten der Republik Daugavpils, Jelgava, Jēkabpils, Jūrmala, Liepāja, Rēzekne, Valmiera oder Ventspils investiert werden mußten. Außerdem der Städte betrug der Mindestpreis umgerechnet 71.144 Euro. Um die Aufenthaltserlaubnis beim Amt für Staatsbürgerschaft und Migration der Republik Lettland zu erhalten, mußte der Ausländer den Kaufvertrag und ein die Zahlung belegendes Dokument vorweisen. Dabei wurde der Katasterwert nicht berücksichtig, sondern ausschließlich der vertraglich vereinbarten Kaufbetrag, was Manipulationen Tür und Tor öffnete, denn Verkäufer und Käufer konnten sich vor dem Hintergrund der gesetzlichen Regelung auf einen über dem Marktwert des Objektes liegenden und im Vertrag ausgewiesenen Betrag einigen. Inbegriffen in die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis waren außerdem Familienmitglieder, Ehegatten und minderjährige Kinder. Das Interesse, in Lettland zu investieren und im Austausch eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen, war besonders bei Personen aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) groß, da auch schon ohne den gesetzlichen Anreiz das Interesse an Immobilien in Rīga und dem Rigaer Badeort Jūrmala nicht neu ist. Wenn das deutsche Fernsehen erst in diesem Jahr darüber berichtete, so gab es bei der BBC bereits im Januar 2011 einen Beitrag, der ebenfalls auf den Wunsch Lettlands hinweist, mehr Kapital ins Land zu locken. Damals protestierten die Nationalisten der Partei „Alles für Lettland!“ vor dem Parlament dagegen. Im Herbst des gleichen Jahres wurden sie bei der vorgezogenen Parlamentswahl in die Abgeordnetenkammer gewählt und auch gleich an der Regierung beteiligt, in welcher sie mit Jānis Bordāns auch den Justizminister stellt. Jetzt konnten sie ihre politischen Forderungen durchsetzen.

Kommunalwahl in Estland

Das Ergebnis der Kommunalwahl in Estland vom 20. Oktober überrascht wenig. Die linksgerichtete Zentrumspartei erreichte landesweit 31,5%, die liberale Reformpartei 16,7%, die konservative Vaterlandsunion 13,9% und die Sozialdemokraten 7,5%. Alle weiteren Parteien blieben weit unter der 5%-Hürde. Das Parteiensystem Estlands hat sich damit weiter konsolidiert, es gibt keine neuen Parteien, keine Partei ist von der politischen Bildfläche verschwunden und es handelt sich bei allen politischen Kräften um solche, die auch auf der nationaler Ebene aktiv sind. Verschwunden ist damit nach den Umbrüchen der letzten Jahre etwa die Volksunion, die früher noch vor allem auf dem Land gewählt wurde. Diese Klientel legt offenbar keinen Wert auf eine eigene politische Stimme. Die Zentrumspartei konnte ihr Ergebnis von 2009 noch einmal verbessern, in der Hauptstadt Tallinn erhielt sie sogar nunmehr das zweite Mal eine absolute Mehrheit. Die Zentrumspartei kam hier auf 52,6%, die Vaterlandsunion auf 19,1%, die Reformpartei auf 10,6% und die Sozialdemokraten 9,9%. Hauptstadtbürgermeister Edgar Savisaar erhielt ebenfalls ein persönlich noch besseres Ergebnis als vor vier Jahren. Das inzwischen gesundheitlich angeschlagene Stadtoberhaupt ist seit zwei Jahrzehnten das enfant terrible der estnischen Politik. Savisaar war Regierungschef der Volksfront in der Umbruchzeit 1990 bis 1992. Seither entzweit er die Esten in jene, die ihn hassen und jene, die ihn trotz zahlreicher Skandale immer wieder wählen. Auch wenn der Bürgermeister im hervorragenden Abschneiden ein historisches Ergebnis sieht, darf nicht vergessen werden, daß der starken Zentrumspartei auf nationaler Ebene ein Koalitionspartner fehlt und sie auf kommunaler Ebene vor allem auch von ethnischen Russen bevorzugt wird. In Estland gibt es nach wie vor Nachfahren von aus der Sowjetzeit zugewanderten Russen, die keine Staatsbürgerschaft haben und teilweise auch nicht haben wollen, die aber bei Kommunalwahlen wahlberechtigt sind. Savisaar ist seit vielen Jahren bei dieser Bevölkerungsgruppe beliebt, während die Esten ihm seine Kontakte nach Rußland verübeln und sich beispielsweise über die fragwürdige Finanzierung einer russisch-orthodoxen Kirche im vorwiegend von Russen bewohnten Vorort Lasnamäe aufregen. Die Vaterlandsunion mauserte sich von beinahe verlorenem Posten in Tallinn auf ein ansehnlichen zweiten Platz unter ihrem Spitzenkandidaten Eerik-Niiles Kross, dem Sohn des vor einigen Jahren verstorbenen Schriftstellers Jaan Kross. In der zweitgrößten Stadt des Landes Tartu ist das Bild ebenfalls eindeutig aber ein ganz anderes als in der Hauptstadt. Die Reformpartei erhielt hier 28,1%, die Vaterlandsunion 21,0%, die Zentrumspartei 18,4% und die Sozialdemokraten 15,8%. Bislang regierte die Stadt eine Koalition aus der Reformpartei und der Vaterlandsunion, in der es zwischenzeitlich zu Konflikten kam, weshalb sich die Reformpartei zu einer breiten Koalition mit der bisherigen Opposition unter Ausschluß der Vaterlandsunion kam. Im Stadtrat hat die Reformpartei jetzt 18 Sitze, die Vaterlandsunion 13, die Zentrumspartei 9 und die Sozialdemokraten 8. Wie sehr die in Estland bei Kommunalwahlen wahlberechtigte russische Minderheit die Zentrumspartei bevorzugt, zeigt sich auch im nordostestnischen Landkreis Ida Virumaa. Hier erreicht die Zentrumspartei ebenfalls mit 53,0% die absolute Mehrheit, gefolgt von den Sozialdemokraten mit 21,3%. Die eher nationalistische Vaterlandsunion erreicht gerade einmal 3,9% und die auf der Landesebene führende Reformpartei von Ministerpräsident Andrus Ansip, der einst Bürgermeister von Tartu war, bekam gerade einmal 1,6%. Interessant ist in diesem Landkreis auch die Stadt Narva, die nach Einwohnerzahl immerhin drittgrößte Stadt des Landes, deren Einwohner aber zu deutlich über 90% Russen sind. Hier erreicht die Zentrumspartei sogar mehr als 60% der Stimmen und 20 Sitze im Stadtparlament. Zweitplaziert sind die Sozialdemokraten mit gut 35% und elf Sitzen. Alle anderen Parteien bleiben ausnahmslos unvertreten im Gemeindeparlament. Die Reformpartei des Regierungschefs hatte sich von vornherein so wenig Hoffnung auf Zustimmung im russisch bevölkerten Ida-Virumaa gemacht, daß sie hier gar nicht erst angetreten war. Nichtsdestotrotz ist der seit 2002 amtierende Bürgermeister Narvas von der Zentrumspartei Tarmo Tammiste nicht besonders beliebt in der Stadt. Er erhielt an direkten Stimmen gerade einmal 315. Dieser Umstand erklärt sich durch das Wahlsystem in Estland mit seiner Vorzugsstimme. Wähler entscheiden sich nicht für Parteien, sondern für Kandidaten. Durch ihre Stimmabgabe votieren sie indirekt auch für die Liste des ausgewählten Kandidaten. Der Amtsinhaber konnte hier in diesem Jahr noch weniger überzeugen als vor vier Jahren. Damit steht bereits fest, daß er als Bürgermeister nicht im Amt bleiben wird. Es ist nur offen, wer ihm nachfolgen soll.

Mittwoch, 29. Januar 2014

Lettland mit erster Regierungschefin

Lettland hat seine erste weibliche Regierungschefin. Laimdota Straujuma. Kaum war die bisherige Landwirtschaftsministerin nominiert, kamen erste Vergleich mit Angela Merkel auf nicht zuletzt wegen der neuen Frisur. Straujuma ist als neue Regierungschefin genauso eine Überraschung wie es der plötzliche Rücktritt ihres Vorgängers Valdis Dombrovskis im Herbst vergangenen Jahres war, und Regierungsbildung nur neun Monate vor der nächsten Parlamentswahl im September ist es ebenfalls. Nach dem Rücktritt von Dombrovskis waren die Parteien im lettischen Parlament, der Saeima, der Ansicht, die Partei des scheidenden Ministerpräsidenten Vienotība (Einigkeit) habe als größte Partei den Auftrag zur Regierungsbildung. Deren Kandidat war eigentlich der auch in der Bevölkerung beliebte Verteidigungsminister Artis Pabriks. Doch die Benennung eines Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten obliegt dem Präsidenten. Andris Bērziņš lehnte Pabriks gleich zwei Mal aufgrund von Kriterien ab, die er nicht öffentlich machte. Ex-Premier Valdis Dombrovskis sprach daraufhin seine bisherige Landwirtschaftsministerin an. Die bis dahin parteilose Mathematikerin Laimdota Straujuma gilt als ausgeglichen und kompromißorientiert. Vermutlich erwartete er sich von ihr eine ähnlich ruhige Regierungsführung, wie er sie selbst über vier Jahre praktiziert hatte. Straujumas Biographie gibt Anlaß für eine solche Vermutung. Obwohl Straujuma Mathematik studiert hat, wurde sie nach der Unabhängigkeit 1991 aktiv in verschiedenen Organisationen in der Landwirtschaft und sorgte für Bewegung in diesem Sektor. Aus dieser Position heraus wurde sie von Mitgliedern der inzwischen nicht mehr existierenden Volkspartei angesprochen, in die Partei einzutreten, in der auch Verteidigungsminister Artis Pabriks war. Politisch aktiv wurde sie jedoch zunächst nicht. Erst später holte sie der spätere Ministerpräsident Aigars Kalvītis als Staatssekretärin ins Landwirtschaftsministerium. Nachdem der frühere Präsident Valdis Zatlers 2011 das Parlament aufgelöst hatte, bildete Valdis Dombrovskis erneut eine Regierung, und überredete Laimdota Straujuma, am Kabinettstisch Platz zu nehmen. Diese Regierung war für Lettland bedeutend, weil sie als erste galt, in der keine der lettischen Oligarchen vertreten waren. Die Bauernunion, deren graue Eminenz der Bürgermeister von Ventspils, Aivars Lembergs, ist, fand sich in der Opposition wieder, auch weil die neue Reformpartei des inzwischen aus dem Amt geschiedenen Valdis Zatler s hier eine rote Linie gezogen hatte. Doch im Laufe der vergangenen zwei Jahre bröckelte die Mehrheit der Regierung an verschiedenen Fronten und mancher Minister übernahm sich mit seinen Reformvorstellungen. Der Minister für Regionalentwicklung von der Reformpartei versuchte mehrfach vergeblich, den verschiedenener Korruptionsfälle verdächtigten Lembergs abzusetzen. Die neue Regierung unter Laimdota Straujuma räumt mit diesen Konflikten auf. Die Reformpartei hat ihre rote Linie aufgegeben und die Bauernunion wird zur Bildung einer möglich breiten Koalition wieder mit an der Macht sein. Beobachter reagierten schockiert, Aivars Lembergs, der im Parlament nicht einmal über ein Mandat verfügt, am Verhandlungstisch bei den Koalitionsgesprächen zu sehen. Straujuma betonte in einem Interview, sie sei als Landwirtschaftsministerin schon von Interessengruppen angesprochen worden, die jedoch schnell begriffen hätten, daß die Verteilmentalität aus Zeiten, als die Bauernunion das Ministerium führte, vorüber sind. Die Zusammensetzung des neuen Kabinetts zeigt dennoch, wie viele Kompromisse zwischen den Parteien erforderlich waren. Öffentlichkeit und Präsident waren der Ansicht, daß Außenminister Edgars Rinkevičs und Innenminister Rihards Kozlovskis gute Arbeit geleistet haben und im Amt bleiben sollten, obwohl sie beide der inzwischen geschrumpften Reformpartei angehören. Finanzminister Vilks wollte die Einigkeit unbedingt halten. Aber damit die Bauernunion Ministerien erhalten kann, wurde Verteidigungsminister Artis Pabriks geopfert. Er verlor sein Amt ebenso wie Sozialministerin Ilze Viņķele, beide von der Einigkeit. Straujuma hat erklärt und Parteichefin und Parlamentspräsidentin Solvita Āboltiņa erwartet das öffentlich auch von ihr, es werde keine radikalen Wendungen geben, sondern die Arbeit der bisherigen Regierung werde fortgesetzt. Es ist damit offen, ob die Partei Einigkeit, in welche die neue Regierungschefin kurz vor ihrer Nominierung schnell noch eintrat, und auch Straujuma selbst ihre Amtszeit als Übergang betrachten. Wer tritt im Herbst als Spitzenkandidat an? Parteichefin Solvita Āboltiņa würde gerne nach Brüssel gehen und war schon während dieser Regierungsbildung aufgefordert worden, ihren Hut als mögliche Ministerpräsidentin in den Ring zu werfen, was sie jedoch ablehnte. Gleichzeitig ist nach Umfragen mehr als offen, ob die Einigkeit im Herbst noch einmal so stark abschneiden wird, um die Regierungsführung für sich zu beanspruchen. Straujuma lächelt über den Vergleich mit Angela Merkel und bemerkt, daß sie nicht nur im Amt der Regierungschefin die erste Frau sei, sondern auch als Landwirtschaftsministerin die erste weibliche gewesen sei.