Mittwoch, 27. Januar 2010

Lettland GmbH

Dieser Beitrag ist in Zusammenarbeit mit Veiko Spolītis entstanden und auf Lettisch in citadiena im November 2009 erschienen.

Die zu Beginn der 90er Jahre weitgehend ohne Widerspruch und Diskussion in Lettland durchgeführten neoliberalen Reformen haben Eigentumsrechte etabliert, welche den Vertretern der Nomenklatur des untergegangenen Regimes zügig und größtenteils legal ermöglichten, Eigentümer der bisher von ihnen verwalteten Strukturen zu werden. Die Passivität der Durchschnittsbürger und ihre fehlende Bereitschaft, sich in irgendeiner Form politisch zu engagieren, setzten diesem Prozeß trotz Voucherprivatisierung nichts entgegen.

Statt die handelbaren Voucher zu „investieren”, verkaufte ein großer Teil der Bevölkerung seine Privatisierungszertifikate aus Unwissen über deren Wert oder auch aus Not angesichts der schwierigen sozialen Umstände nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.
Gleichzeitig vertrauten die Menschen naiv darauf, daß nunmehr lettische (!) Politiker sich um die Entwicklung des Landes und den Wohlstand seiner Einwohner kümmern – wenig überraschend vor dem Hintergrund der eigenen Lebenserfahrung, denn etwas anderes als das Modell eines Staat im „Governantentyp” war vielen selbst vom Hörensagen nicht bekannt. Dabei wurde noch der Vergangenheit der gewählten Volksvertretern weitere Aufmerksamkeit geschenkt noch eine Kontrolle der rechtmäßigen Verwendung von Steuergelder eingefordert.

Die Abgeordneten des 1990 noch zur Sojwetzeit gewählten Obersten Sowjets verfaßten ein Wahlgesetz, welches ursprünglich nur für den Urnengang zur 5. Saeima im Jahre 1993 vorgesehen war, aber noch heute in Kraft ist. Der Streit der Bürgerkommitees, eine von nationalkonservativen Kreisen organisierte Art Gegenparlament, mit dem Obersten Sowjet löste in der Bevölkerung keinen Wunsch nach der Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung aus, wie dies in den Nachbarländern Estland und Litauen geschah.

Nicht erst, aber spätestens beginnend mit der Krise im Jahre 2008 wurde deutlich, daß die Entwicklung Lettlands seit 1990 auf Abwege geraten ist. Der mißverstandene Liberalismus eines Ivars Godmanis – von 1990 bis 1993 Ministerpräsident der Volksfrontregierung – in Kombination mit der fortgesetzten Bereicherung der Nomenklatur waren Auslöser für die Stagnation im demokratischen System, die Lettland stufenweise zum „Unternehmen des Auserwählten” machte, wie dies leidenschaftlich Ministerpträsident Andris Šķēle in seiner Neujahrsrede 1996 darlegte.

Ein demokratischer Staat kann per Definition nicht wie ein Unternehmen funktionieren, dessen Grundlage Umsatz und Verdienst sind, dessen Verteilung wie in früheren absoluten Monarchien dem Eigentümer obliegt. Ein demokratischer Staat hingegen ist die – historisch gewachsene – Gemeinschaft seiner Bevölkerung, der eine ausgeglichene Verdienstmöglichkeit für alle unter rechtsstaatichen Bedingungen sicherstellen muß. Sind die Volksvertreter eines demokratischen Staates nicht fähig oder Willens, eine gesetzmäßige Verteilung und gleichberechtigten Zugang zu gewährleisten, hat die Bevölkerung das Recht und die Möglichkeit, andere Repräsentanten zu wählen. Funktioniert aber der Staat wie ein Unternehmen, tragen die Volksvertreter keine politische Verantwortung, dem Interesse der Allgemeinheit zu dienen; sie können statt dessen nach Belieben eigenen Nutzen aus der „GmbH Staat schlagen”. Wo es gelingt, zeitweilig einen guten Manager für die „GmbH Staat” zu finden, gibt es meist Probleme mit der Nachfolge.

Zehntausend Einwohner Lettlands, die nach Irland „verdrängt” wurden, haben die GmbH Lettland freiwillig verlassen. Im Unterschied zu einem Unternehmen, wo nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses keine Verbindungen mehr zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bestehen, werden die Letten im Ausland alleine durch ihren Paß and die Existenz der GmbH Lettland erinnert wie auch eventuell durch die erste Rentenstufe des heimischen Systems, Verwandte und natürlich ihre Sprache.

Mit der Wiederinkraftsetzung der Verfassung von 1922 kehrten die heutigen politischen Parteien Lettlands bildlich gesprochen auch zurück zu den damaligen Sitten. Die Parteien in Lettland erinnern folglich eher an die Honoratiorenparteien des ausgehenden aristokratischen Zeitalters, deren Vertreter aus verschiedenen Gründen außer Stande sind, Kontakt zum Wähler aufzubauen.

Das totalitäre Erbe und die Isolation von der Informations- und Diskussionsphäre des Westens hat zur Folge, daß die Mehrzahl der heutigen Politiker kein Verständnis für die Bedeutung demokratischer Partizipation aufbringen. Darum bleibt ihnen nichts anderes übrig, als die Trägheit des totalitären Verwaltungsmodells der sowjetischen Gesellschaft fortzusetzen. So wird die Verwendung einer ökonomischen Terminologie nunmehr seit 15 Jahren in der GmbH Lettland gepflegt anstatt Angebote für eine Verbesserung das Regieren zu unterbreiten.

Die Parteien werden allerdings regelmäßig von den 30 bis 40% der Wähler, die vor den Wahlen gewöhnlich unschlüssig sind, für wen sie stimmen wollen, sollen und werden, nicht inhaltlich gefordert. Die passiven Wähler sind entfremdet von der Realität der demokratischen Herrschaft in ihrem Land und die Ungereimtheiten der Manager der Lettland GmbH haben ihre Werte entstellt. Die von Gabriel Almond und Sidney Verba definierte allgemeine Zustimmung zum System wird vorwiegend sichergestellt durch zum konkreten Zeitpunkt populären Personen in den vordersten Reihen wie einst Siegerist oder Šķēle. Deren Aktiviitäten zu verfolgen wurde mit Hilfe der Medien im Unterbewußtsein verankert, was letzlich eher einer “Gehirnwäsche” glich. Folge ist die Gleichgültigkeit der Bevölkerung gegenüber Korruption, wo Politiker unter anderem Verwandte und Freunde in den von ihnen geführten Häusern mit Jobs versorgen, als auch undemokratischem Regieren (innerhalb der Parteien und im Staat generell).

Konkret wäre die Aufgabe der gegenwärtigen Regierung ein Bruch mit den Prinzipien der GmbH Lettland. Leider schränkt Artikel 59 der Verfassung die Handlungsfähigkeit des Regierungschefs und damit auch ein beherztes Handeln gegen die Ursachen der Krise ein. Statt dessen muß er beständig auf die Stabilität der Koalition achten. Der im Parlament stärker vertretene Koalitionspartner Volkspartei steht offiziell zur Regierung, hat aber verstanden, alternative Partnerschaften zu entwerfen. Die Union von Bauern und Grünen würden die Regierung selbst unter Verrat ihrer Ideale unterstützen, Hauptsache sie garantiert den Schutz ihres Patronen, des vor zwei Jahren vorübergehend verhafteten Bürgermeisters von Ventspils, vor einem rechtsstaatlichen Gerichtsprozeß.

Unzählige Untersuchungen und Umfragen haben in den letzten Jahren bestätigt, daß Parlament, Regierung und Parteien keinen Anspruch erheben können, sich als anerkannte Vertrter der Bevölkerung zu fühlen. Der Staatspräsident hat bereits zwei Mal außerordentliche Sitzungen der Regierung einberufen, was im Grunde eine Verletzung des Geistes der Verfassung ist, doch diese Sitzungen hätten nicht einberufen werden müssen, wenn Parlament und Regierungen ihre Hausaufgaben gemacht hätten. Unter Berücksichtung der zu erwartenden Arbeitslosigkeit und der damit steigenden Zahl von Menschen, die im weitmaschig ausgebauten Sozialsystem Lettlands bald jegliche staatliche Unterstützung verlieren, könnte Valdis Zatlers auch Artikel 48 der Verfassung anwenden und die Auflösung des Parlamentes anregen. Dann müßte sich der Ministerpräsident keine weiteren Sorgen um Sabotageakte seiner Koalitionspartner machen, denn Artikel 49 verlangt, daß nach einem solchen Schritt ausschließlich der Präsident Kabinettssitzungen einberuft. Nur auf diese Weise läßt sich das Vertrauen in die demokratische Regierung erneuern, welches Volkspartei und Lettlands Erste Partei durch die Verletzung der Ausgabenbeschränkung im Wahlkampf 2006 nachhaltig gestört haben, wie im November desselben Jahres auch der Verwaltungssenat des Obersten Gerichtes bestätigt hat.

Unabhängig davon, ob die Wahlen zur Saeima turunusgemäß im Herbst 2010 oder auch vorher stattfinden, stellt sich die Frage, ob die Bevölkerung bereit ist, Verantwortung zu übernehmen und nicht nur zur Wahl zu gehen, sondern auch durch Weiterbildung die Kompetenz zu erwerben, ihre gewählten Volksvertreter zu Verantwortung zu ziehen. Bleibt alles wie bisher, müssen die Letten die Frage nach dem Sinn der Staatlichkeit ihres Landes stellen. Wandelt sich das Interesse an der GmbH Lettland nicht, nutzt das nur deren Eigentümern. Gegenwärtig ist mehr denn je ein Spruch aktuell: Besser ein schreckliches Ende der GmbH Lettland als endlose Schrecken mit unrechtmäßig gewählten Volksvertretern.

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