Donnerstag, 13. November 2008

Parteien, Politiker und Wähler sind in derselben Krise

Die hessischen Verhältnisse wurden während der Monate seit der Landtagswahl im Januar umfangreich kommentiert, fast ausschließlich tendenziös, denn schnell ist eine Sympathie des Urhebers zur Union oder Sozialdemokratie erkennbar. Nachdem Andrea Ypsilanti nun ihren Plan, sich mit Unterstützung der Linken zur Ministerpräsidenten wählen zu lassen, aufgegeben hat, schaffte es die Gemengelage zum Thema bei Anne Will am 9. November.

Deutschlands politische Kultur: Moralisieren statt Politisieren
Und wieder packten die Diskutanten 60 Minuten lang eine moralische Keule nach der anderen aus. Erneut führte das zu nichts anderem, als wie regelmäßig schon zuvor die Vergangenheit der Linken als PDS und SED zu geißeln, welche eine Zusammenarbeit mit dieser Partei verbiete. Dagegen gehalten wird der ausländerfeindliche Wahlkampf von Roland Koch, die Integration der Blockflöten durch die CDU nach der deutschen Einheit, Kochs Ausfälle gegen die Grünen während des Wahlkampfes und seine spätere Umarmungstaktik sowie der Hamburger Erste Bürgermeister Ole von Beust, der sich ursprünglich durch einen Rechtspopulisten namens Schill hatte ins Amt katapultieren lassen.
Allein schon diese Aufzählung zeigt, daß, wer im Glashaus sitzt, nicht mit Steinen werfen sollte. Diese Diskussionen führten früher zu nichts und heute ist es nicht anders. Das zeigte auch Anne Wills Talkshow. Gerade wegen dieser „Schlagabtäusche“ gehen die Gäste beinahe unkommentiert über den demokratietheoretisch wichtigsten Aspekt hinweg, der auch bei Anne Will nur vom SPD-Landesvoritzenden in Schleswig Holstein, Ralf Stegner, angesprochen wurde, daß das Wahlergebnis nämlich ein Wählervotum ist. Bei allem Verständnis für die Ablehnung gegenüber der Linken in Reihen jener Menschen, die unter der SED-Herrschaft gelitten haben, darf nicht vergessen werden, daß nicht nur ein Spitzenpolitiker dieser Partei ein früherer Bundesvorsitzender der SPD ist, sondern diese Partei ihre jüngste Erfolge der Enttäuschung von Parteimitgliedern wie auch Wählern der SPD über die in ihren Augen unsoziale Politik der Regierung Schröder verdankt. Und diese Menschen sind beileibe nicht einfach alle Extremisten.

Wortbruch, Gewissen und Verantwortung
Die moralische Keule hilft auch wenig in der Diskussion um Wortbrüche. Hoffentlich hat nicht nur Ypsilanti, sondern die Politik generell verstanden, daß Versprechungen, mit wem zu koalieren beabsichtigt oder abgelehnt wird, den Wählerwillen bereits vor dem Urnengang ignorieren. Allerdings wurde Andrea Ypsilanti natürlich auch von der moralischen Keule der Presse und der politischen Widersacher in der eigenen wie in anderen Parteien förmlich zur Zurückweisung der Linken gezwungen. Wähler, Politiker und Journalisten werden sich damit abfinden müssen, daß Deutschland – wenigstens zeitweilig – ein Fünfparteiensystem hat, in dem eine Koalition aus nur zwei Parteien nicht immer möglich ist. Die Linke wird vielleicht im Januar in Hessen an der 5%-Hürde scheitern, wie Klaus von Dohnanyi bei Anne Will überzeugt war. Es ist aber unwahrscheinlich, daß nach den Erfolgen in Hessen und Niedersachsen keine weiteren in den alten Bundesländern folgen werden gerade auch im Blick auf die bevorstehende schwierige wirtschaftliche Entwicklung.
Vorwürfe gegen die Abweichler in Hessen müssen ebenfalls vielschichtiger betrachtet werden, als nur die moralische Keule zu schwingen. Zunächst einmal ist einem demokratischen Staat der Abgeordnete – glücklicherweise – nur seinem Gewissen unterworfen. Die vier Abgeordneten der SPD, die Ypsilanti ihre Unterstützung zu verschiedenen Zeitpunkten verweigerten, hatten also ein Recht dazu. Freilich darf das Handeln jener drei Abweichler, die sich erst in letzter Minute äußerten, diskutiert werden. Das Argument, im Fall von Carmen Everts sei seit ihrer Dissertation die Ablehnung der Linken klar, greift zu kurz. Die Vorsitzende einer Landtagsfraktion sollte sich auf persönliche Zusagen ihrer Abgeordneten verlassen können, zumal davon auszugehen sein sollte, daß die Ablösung von Roland Koch als moralische Verpflichtung dem Wähler gegenüber für das Gewissen der Abgeordneten ebenfalls etwas bedeutet.
Und für das Gewissen der Abgeordneten gibt es noch eine weitere Dimension. In Deutschland wird nach starren Listen gewählt. Die Gewählten verdanken ihr Mandat also nicht nur dem Wähler, sondern selbstverständlich auch der sie aufstellenden Partei. Selbst Direktkandidaten müssen sich überlegen, zu welchem Anteil sie als Vertreter einer Partei gewählt wurden oder aber sich auch als Unabhängige durchgesetzt hätten. Entscheidungen von Parteitagen sind dem Buchstaben der Verfassung nach nicht bindend für das Stimmverhalten der Abgeordneten, doch eine Gewissensentscheidung hätte ebenfalls darin bestehen können, sich auf dem Parteitag mit seiner abweichenden Meinung zu äußern und das eigene Mandat zur Verfügung zu stellen. Die Dissonanz in der Partei über die Kooperation mit der Linken wäre so offenkundig geworden. Ob Andrea Ypsilanti und der Rest der SPD diesen Schritt freudig und kaltblütig begrüßt und angenommen hätten, ist eine offene Frage. Ebenso gut hätte Parteitagsbeschluß den Beschluß fassen können, die Minderheitsregierung nicht zu bilden.

Politisches Fingerspitzengefühl und Machtspiele
Aus diesem Gründen spricht viel dafür, daß die späte Entscheidung der drei zusätzlichen Abweichler in direktem Zusammenhang mit der Kabinettsbildung von Andrea Ypsilanti steht, in der sich Jürgen Walter, der ja gegen seine Parteichefin schon in der Spitzenposition unterlegen war, übergangen fühlte. Immerhin hatte er selbst vorher den Koalitionsvertrag mit ausgehandelt.
Hier geht es also weniger um moralische Keulen als politisches Fingerspitzengefühl. Und an dem scheint es Andrea Ypsilanti zu fehlen. Ohne Dagmar Metzger aber mit der Linken hätte sie im Landtag eine Mehrheit von nur einer Stimme gehabt. Das ist sowieso sehr knapp, aber besonders bei Experimenten mit neuen politischen Mehrheiten. In so einem Fall muß eine Parteichefin ihre gesamte Partei und alle Fraktionsmitglieder mitnehmen anstatt ihre innerparteiliche politische Linie durchzusetzen. Führungsstärke äußert sich hier weniger im Durchsetzungsvermögen als in Kompromißfähigkeit. Überdies wäre für eine mittelfristige Stabilisierung Ypsilantis Regierung, Ansehen und den Erwerb eines Amtsbonuses für den Sieg bei der nachfolgenden Landtagswahl, eine Politik erforderlich gewesen, zu deren Unterstützung sich von Fall zu Fall eventuell eben doch auch die FPD hätte entschließen können.

SPD: Partei oder politischer Chaos Klub?
Die Summe ist eine Harakiri-Politik der SPD. Nach Politikwissenschaftler Klaus von Beyme sind die Funktionen von Parteien folgende: Zieldefinierung, Artikulation, Aggregation, Sozialisation und Elitenrekrutierung. Im Klartext,
was die SPD will, hat Andrea Ypsilanti im Wahlkampf deutlich erklärt. Damals sorgte die Kritik des Parteifreundes Wolfgang Clement für Aufsehen. Hat die SPD also klare gemeinsame Ziele?
Auch wenn Clements Meinung fraglos innerparteilich eher eine Minderheitsposition war, Aggregation bedeutet, auch innerhalb der Partei kontroverse Meinung einem Kompromiß zuzuführen. Das scheint der SPD beinahe kaum noch zu gelingen, wie der Verschleiß von Parteivorsitzenden seit dem Rücktritt Willy Brandts zeigt.
Artikulation meint, dem Wähler die eigenen Ziele zu erklären. Auch damit tut sich die SPD seit den innerparteilichen Konflikten um HARTZ-Reformen zumindest sehr schwer.
Das wirkt sich negativ aus auf die Sozialisation, die Bindungsfähigkeit. Hier mag man den Mitgliederverlust der SPD vor dem Hintergrund ähnlicher Tendenzen bei der großen Volkspartei CDU entschuldigen. Ein Problem ist es allemal.
Tragisch aber ist die Elitenrekrutierung. Das Fehlen von Führungs- und Integrationsfiguren, von charismatischen Personen, wird von Beobachtern in allen Parteien konstatiert. Aber Beymes Begriff umfaßt auch,
was der amerikanisch-italienische Politikwissenschaftler Giovanni Sartori als „capable of placing through elections candidates for public office” bezeichnet. Eine Partei muß demnach willens sein, politische Verantwortung zu übernehmen, und über Kandidaten verfügen, die öffentlichen Ämtern übernehmen können. Nach diesen politikwissenschaftlichen Definitionen kann Fundamentalopposition niemals eine Partei sein.
Um Mißverständnissen vorzubeugen, die SPD war immer eine diskussionsfreudige Partei, in der leidenschaftlich um den „richtigen” Weg gerungen wurde. Die Regierung Schmidt stürzte 1982 auch wegen des Streites über die Nachrüstung – sieben Jahre vor dem Fall der Mauer! Die CDU dagegen ließ sich dagegen willig im Interesse der Macht vom Wolfgangsee aus im Sommertheater belehren.
Seit den 80er Jahren hat sich viel verändert. Wähler wählen anders, wechselhafter als früher. Politiker müssen sich zunehmend in einer Mediendemokratie beweisen. Eine Krise der Parteiendemokratie gibt es auch in anderen Staaten. Die SPD trifft sie einstweilen aus strukturellen Gründen besonders hart.

Keine Kommentare: