Kaum haben die Esten zum Jahreswechsel den Euro eingeführt, tauchten in der Hauptstadt Tallinn die ersten „falschen Fuffziger" auf, im konkreten Falle allerdings mache auch nur mit dem Nennwert von 20 Euro. Ministerpräsident Andrus Ansip, für den der Beitritt zur Eurozone lange Zeit ganz oberste Priorität gehabt hatte, erklärte dies mit Hoffnung der Betrüger auf mehr Erfolg in einer Gesellschaft, die sich noch nicht an die Gemeinschaftswährung gewöhnt hat. Ein neues Alltagsproblem für die Einwohner Estlands, denn Euro-Scheine zu fälschen ist natürlich lukrativer als die Banknoten einer so kleinen Währung wie der estnischen Krone.
Aber damit nicht genug löste die Einführung auch noch ein politisches Problem aus. Die Esten hatten sich bereits vor einigen Jahren per Umfrage dafür ausgesprochen, daß die Rückseite aller estnischen Münzen eine Karte der Republik Estland zieren solle. Aus Rußland kam der Vorwurf, die geprägten Umrisse entsprächen nicht den heutigen Grenzen Estland.
Der historische Hintergrund ist zu suchen in den Erfolgen der jungen estnischen Armee unter Johan Laidoner während des Befreiungskrieges nach dem ersten Weltkrieg gegen die ebenso junge Rote Armee. Die Esten brachte dies in eine günstige Position bei den Verhandlungen über die erstmals in der Geschichte erforderliche Grenzziehung. Nach der Inkorporation in die Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges korrigierten die Sowjets den Verlauf und schlugen einige estnische Gebiete nördlich und südlich des Peipussees der Russischen Republik zu, obwohl auch dort finno-ugrische Bevölkerungsgruppen lebten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bedeutete diese Grenze einen fortlaufenden Verstoß gegen den Friedensvertrag von Tartu von 1920, in dem das damalige Sowjetrußland für alle Zeiten auf Gebietsansprüche verzichtet hatte. Nichtsdestotrotz war die estnische Politik mit Ausnahme von Nationalisten pragmatisch genug, diese Gebiete nicht zurückzuverlangen. Der paraphierte Grenzvertrag ist jedoch aus Gründen diplomatischer Differenzen nach wie vor nicht in Kraft.
Die Reaktion der estnischen Seite auf den Vorwurf, es handele sich um ein „künstlerisches" Verständnis der Grenzen des Landes, war gewiß unglücklich, zumal es über den Entwurf des Künstlers tatsächlich Diskussionen gegeben hatte. Der estnische Botschafter in Rußland leugnete schließlich jedoch, die Umrisse enthielten russisches Territorium, und ein konzentrierter Blick auf die Münzen scheint den Vorwurf eher weniger zu bestätigen, und so beruhigten sich in dieser Frage die Gemüter schnell.
Die Erweiterung der Eurozone ist für viele Kritiker allerdings auch Anlaß, ihre bisherigen Thesen erneut vorzutragen und anhand des estnisches Beispiels zu belegen. Dabei werden regelmäßig „Mantras" wiederholt, die nicht nur „technisch" mit den Vor- und Nachteilen der Gemeinschaftswährung in Verbindung stehen, sondern oftmals auf Weltanschauung beruhen. Bei einigen Experten überrascht die Selbstsicherheit, mit denen diese hinlänglich bekannten Positionen von Apologeten der angebots- und nachfrageorientierten Ansätze vorgebracht werden, als hätten sich die Wirtschaftswissenschaften nicht auch schon früher geirrt. Weder die Stagflation in den 70er Jahren noch der „Zusammenbruch des Neoliberalismus" wurden in der breite prognostiziert. Ganz im Gegenteil wurden hier Axiome der Ökonomie erschüttert. Wie die Politikwissenschaft, welche den Zusammenbruch des Sozialismus nicht vorhergesagt hatte, könnte eine sich mehr als Sozialwissenschaft begreifende Ökonomie weigern, sich „den Schuh anzuziehen". Als man John Maynard Keynes vorwarf, seine Theorie werde langfristig nicht funktionieren, erwiderte er: „In the long run we are all dead". Die Vermutung liegt nahe, daß er damit nicht meinte, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein.
Doch in den Wirtschaftswissenschaften wird viel mit Methoden der sogenannten exakten Wissenschaften gearbeitet, Prognosen über Wirtschaftswachstum, Inflation, Zinsentwicklung oder Arbeitslosigkeit „ausgerechnet". Doch dabei gilt regelmäßig die ceteris paribus Klausel, die das reale Leben aber nicht kennt. Wirtschaft ist das Ergebnis des wirtschaftlichen Handelns aller Individuen. Das aber ist schwer zu prognostizieren, denn es ist nicht notwendigerweise rational, findet nicht unter Kenntnis aller Umstände statt und läßt sich folglich nur sehr mittelbar steuern. Geld ist in diesem System ebenso unwägbar, denn eine Banknote ist zunächst einmal nur ein Stück bedrucktes Papier, dem das wirtschaftliche Subjekt Vertrauen schenkt. Was geschieht, wenn dieses fehlt, hat die Zigarettenwährung nach dem Zweiten Weltkrieg gezeigt. Vertrauen ist aber nicht nur eine ökonomische, sondern zuvorderst auch eine psychologische Frage.
Das Vertrauen in den Euro wurde durch die Preiserhöhungen im Rahmen der Währungsumstellung zwar erschüttert, und der Konsument konnte dies durch eine Änderungen seines Kaufverhaltens nur bedingt bestrafen. Aber auch in Deutschland, wo viele gerne an ihrer liebgewonnen Mark festgehalten hätten, lehnt heute eine Mehrheit selbst vor dem Hintergrund der Krisendebatten den Euro nicht ab.
Die Kritiker haben Recht mit dem Hinweis auf die Schwierigkeiten mit einer Gemeinschaftswährung in einem Raum ohne gemeinsame Wirtschafts-, Sozial- und Steuerpolitik. Hier müßten die Politiker gefragt werden, die seinerzeit die Einführung des Euro beschlossen, ob sie damit eventuell die Absicht verbanden, das Pferd von hinten aufzuzäumen, also mit einer gemeinsamen Währung die weitere Integration der EU über kurz oder lang zu erzwingen.
Es ist aber auch richtig, daß EINE Währung in einem nicht homogenen Territorium nichts Ungewöhnliches ist und zu Konflikten führt. In Deutschland wollen drei Bundesländer gegen den Finanzausgleich klagen. Doch, provokativ gefragt, auf eine wie kleine Mikroebene sollte man mit einer Währung gehen, um Unterschiede zwischen armen und reichen Stadtvierteln NICHT zum Problem des Geldes werden zu lassen? Griechenland ist eine kleine Ökonomie im Euroraum im Vergleich zum bankrotten Kalifornien in den USA. Gewiß, während die Europäer Rettungsschirme spannen, kommen die Staaten der USA nicht für die Schulden der anderen auf, so wie es die „No bail out"-Klausel eigentlich auch für den Euroraum vorgesehen hatte. Es wäre jedoch sicher vermessen zu behaupten, daß 49 Staaten der USA mit einem Bankrott Kaliforniens schließlich keine Lasten zu tragen hätten – etwa durch Migration?
Niemand behauptet nun, daß die vier Professoren-Kläger in Deutschland Wilhelm Hankel, Wilhelm Nölling, Karl Albrecht Schachtschneider und Joachim Starbatty und andere Kritiker ausschließlich im Unrecht seien. Doch auch die Argumente der Befürworter sind nicht falsch. Traurig ist einzig, daß die meisten Experten in Publikationen und Talkshows dazu neigen, einzelnen Aspekten, die ihrer Kritik oder Befürwortung zupaß kommen, breiten Raum geben, andere Argumente aber aussparen. Auch mehr oder weniger anonymisierte Kommentatoren von Blog-Beiträgen berufen sich gerne auf genehme Texte, unter anderem trotz allgemein staatskritischer Meinung plötzlich auf gewesene Amtsträger und Vertreter der Mainstream-Medien wie der Staatsekretär von rot-grün im Wirtschaftsministerium Heiner Flassbeck, der heute bei der UNCTAD ist, und den Financial Times Deutschland-Journalisten Thomas Fricke. Beide Beiträge beruhen ausschließlich auf statistischen Daten, die Thesen untermauern. Es gibt aber noch mehr Datenmaterial und es ließen sich bezüglich des Euro außer vielleicht über Luxemburg über andere Staaten ähnlich kritische Beiträge verfassen. Von den USA und dem Dollar als Weltleitwährung nicht zu sprechen. Solche Artikel bestätigen nichts weiter als: ja, es gibt Probleme, die man im Auge behalten muß.
Aber zurück zu Estland: Die estnische Krone ist auf der Basis eines currency boards (1 DM: 8 EEK) eingeführt worden, die Nationalbank und die Regierung haben damit also von Beginn an auf die volle Autorität über ihre Währung verzichtet.
Und zurück zur Systemfrage: Mit einem Sammelsurium an zutreffenden Fakten langfristige Prognosen zu wagen, ist tatsächlich gewagt. Oswald Spengler prognostizierte 1918, mit den Napoleonischen Kriegen habe der Untergangs des Abendlandes begonnen.
Zurück zu Estland und der Eurozone: Einstweilen ist der Euro trotz aller Krisendiskussion stabil auch gegenüber dem Dollar, dessen Basis in den USA sich noch viel weniger sehen lassen kann als die europäische. Seine Leitwährungsfunktion wird weltweit zunehmend in Frage gestellt. Mit der Aufnahme eines Landes in die Eurozone, welches als eines der wenigen in der EU und der Eurozone die Maastricht-Kriterien erfüllt, ist auch ein Zeichen der Stärke, die EU zweifelt nicht an der Gemeinschaftswährung. Schwarzmalerei könnte psychologisch das Vertrauen aus dem Lot bringen.
Postimees meldete heute, daß 60% der Menschen in Estland, also nicht nur Esten, die Einführung des Euro befürworten.
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