Dienstag, 27. Mai 2008

Lettland, ein scheiternder Staat?

Dieser Beitrag erschien unter dem Titel "Das zweite Leben von Ruslan Vladimir. Im Jubiläumsjahr Zweifel an Funktion des Staates in Lettland" in: Baltische Briefe Nr. 5 (715) - Mai 2008, S.4-5.
Lettland horcht auf, ist erstaunt, erschüttert. Vor 16 Jahren war einer jungen Frau in Daugavpils, der zweitgrößten Stadt des Landes nahe der weißrussischen Grenze während des Einkaufs der vor dem Geschäft abgestellte Kinderwagen samt Säugling entführt worden. Die Polizei konnte den Fall nicht aufklären, doch die Mutter hatte all die Jahre erklärt, sie sei überzeugt davon, daß ihr Kind lebe, und zwar gar nicht weit entfernt.
Nun stellte sich heraus, daß die Frau Recht hatte. Der verlorene Sohn wurde gefunden. Allerdings nur durch einen Zufall. Die den Jungen während dieser Jahre erziehende Dame mußte sich wegen eines anderen Vergehens vor Gericht verantworten und konnte für ihren Sohn weder einen (in Lettland existierenden) Personenkode angeben, noch seine Existenz durch eine Geburtsurkunde nachweisen.
Diese Umstände werfen ein fahles Licht auf den lettischen Staat. Daß die Polizei das Kind nicht hatte finden können – der verlassene Kinderwagen wiederum war damals kurz nach der Entführung in einem Treppenhaus nahe des Geschäftes wieder aufgetaucht – mag vielleicht noch weniger überraschen, denn Säuglinge sehen sich ähnlich und sind schwierig zu suchen. Was aber verblüffender ist, der Junge lebte tatsächlich all die Jahre in seiner Heimatstadt, und weder Arztbesuche noch Schulanmeldung stellten auch ohne Geburtsurkunde ein Problem für die Ziehmutter dar.
Vor diesem Hintergrund mögen ihre eigenen Rechtfertigungen, der inzwischen verstorbene Mann habe das Kind eines Tages mitgebracht und behauptet, er habe es aus Dagestan geholt, schon gar nicht weiter verwundern. Es kann ja sein, daß diese Frau so naiv ist, daß sie ihrem Mann keine weiteren Fragen stellte, etwa, wer die Mutter des Kindes ist und er eventuell sogar der uneheliche Vater. Auch mag man glauben, daß die Frau intellektuell nicht in der Lage war zu begreifen, daß 1992, bereits ein Jahr nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die Übersiedlung eines Kindes aus dem zu Rußland gehörenden Dagestan in das nunmehr unabhängige Lettland ohne Papiere wenig glaubwürdig klingt. Der Säugling kann schließlich schlecht im Koffer eingeführt werden. Angesichts dieser Umstände liegt natürlich die Vermutung nahe, daß die Frau das Kind doch selbst entführt hat.
In der Politikwissenschaft wird seit den 90er Jahren mit neuen Begriffen operiert. Defekte Demokratien, schwache oder gescheiterte Staaten wurden als Bezeichnungen eingeführt, um zu kategorisieren, in welchen Staaten die offizielle demokratische Ordnung keine wirkliche Mitbestimmung für die Einwohner garantieren oder wo die Regierung ihre Staatsgewalt nicht zu Gunsten aller Bürger ausübt respektive überhaupt dazu nicht in der Lage ist. Einstweilen gilt Lettland für keine dieser Phänomene als Beispiel. Innerhalb der EU entwickelt es sich jedoch den Standards entsprechend mehr und mehr zum Sorgenkind.
Die lettische Regierung muß sich nach den Geschehnissen in Daugavpils die Frage gefallen lassen, ob sie einen funktionierenden Staat lenkt, ob die Behörden ihre Aufgaben erfüllen, schließlich handelt es sich hier nicht um einen einfachen Korruptionsfall. Und dies geschieht ausgerechnet im Jahre eines runden Geburtstages. Lettland feiert im November den 90. Jahrestag der Proklamation der Unabhängigkeit. Die international nie anerkannte Inkorporation in die Sowjetunion hat die Staatlichkeit juristisch nicht unterbrochen, weshalb die Letten sich auch nicht in einer zweiten Republik sehen.
Der Geburtstag fällt generell in eine Zeit, in der die Bevölkerung ihrer politischen Führung nach den Skandalen in Jūrmala, dem Fall Gulbis, der geplanten Änderungen im Gesetz über die nationale Sicherheit und schließlich der versuchten Absetzung des Chefs der Anti-Korruptionsbehörde zutiefst mißtraut, was das Faß im Herbst vergangenen Jahres zum Überlaufen brauchte. Es folgte die sogenannte „Regenschirmrevolution”, das erste Mal seit der Zeit des „Nationalen Erwachens“ unter Gorbatschow gingen die Menschen wieder auf die Straße; viele Letten sahen darin ein déjà vu, obwohl es doch einen wesentlichen Unterschied gab: damals demonstrierte man für die eigene Regierung, dieses Mal gegen sie. Erst mit diesem Ereignis erkannten die benachbarten Esten, daß Lettland innenpolitisch ganz anders funktioniert als ihr eigenes Land, wovon die öffentliche Meinung bis dahin nicht ausgegangen war.
Was zunächst wie der Ausdruck einer funktionierenden Zivilgesellschaft aussieht, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß infolge von fast 60 Jahren Diktatur – bereits vor der sowjetischen Okkupation auch während der autoritären Herrschaft unter Kārlis Ulmanis – in der Gesellschaft Spuren hinterlassen haben. Die Bevölkerung sehnt sich weniger nach mehr Mitbestimmung als nach dem starken Mann.
Daß nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1991 die Letten so wie die baltischen Nachbarn zunächst auf ihr Schicksal hingewiesen haben, ist verständlich, denn jahrzehntelang durfte darüber nicht gesprochen werden. Nunmehr wird die neue Unabhängigkeit bald volljährig, und Lettland muß den Vergleich mit Estland zu scheuen beginnen. Während die Regierung dort umfassende Reformen durchführte, blieben solche In Lettland in vielen Bereichen aus. Die Bewertung Lettlands in internationalen Publikationen bezüglich der Korruption ist schon lange die positivste nicht. Nun aber schlittert das Land außerdem auch noch in eine handfeste ökonomische Krise. Die Politik hat ihre Hausaufgaben nicht nur nicht gemacht, sondern sie geflissentlich ignoriert und sich statt dessen so intensiv mit sich selbst und der Monopolisierung der Macht beschäftigt, daß nicht einmal der Moment, als sogar den politisch den passiven Letten der Kragen platzte, sichtbare Folgen zeitigt. Es ist weitgehend alles beim Alten geblieben und wieder ruhig geworden.
Nunmehr wird anhand dieser Kindesentführung greifbar, daß im wahrsten Sinne des Wortes kein Staat zu machen ist, wenn sich dieser vorwiegend vergangenheitsbezogen als Heulsuse profiliert. In Lettland gibt es zwar keine Inflationsbekämpfung aber klare Vorschriften, an welchen Trauertagen, und das sind zahlreiche geflaggt werden muß – üblicherweise zur nationalen Trauer auch mit Trauerflor. Nun möchte man meinen, daß Flaggen an öffentlichen Gebäuden zu verschiedenen Daten kein Problem darstellen, aber anstelle mit Familien-, Bildungs- oder Gesundheitspolitik beschäftigen sich die Behörden mit der Verfolgung des Verstoßes dagegen, daß nämlich auch an Privatgebäuden geflaggt werden muß. Dafür zuständig ist die Munizipalpolizei, die als eine Art aufgerüstetes Ordnungsamt statt um Gewalt in der Familie oder Schlägereien vor Diskotheken zu kümmern weitere völlig unsinnige Vorschriften wie das Verbot des Alkoholkonsums auf der Straße und den Verkauf während der Nacht überwacht. Statt den Alkoholismus einzudämmen, versammelt diese Maßnahme das einschlägige Publikum in der Nähe von Geschäften mit Ausnahmegenehmigungen – und die muß es natürlich geben, denn sonst wäre der Korruption die Grundlage vollkommen entzogen. Die Staatsgewalt setzt diesen grundlegenden Problemen, Aggressionen als Demonstration der Transformationsgewinner wie auch Protest der Transformationsverlierer kaum etwas entgegen. Darum haben die in Lettland allgegenwärtigen Verkehrsrowdies auf Landstraßen, wo die Straßenverkehrsordnung weniger gilt als das Recht des größeren Wagens – gerne auch einmal ein Hummer – meistens freie Fahrt.
Zurück zu dem Fall des entführten Jungen, dessen Entdeckung auch durch die internationale Presse ging. Die Bevölkerung in Lettland reibt sich besonders deshalb verwundert die Augen, weil Paragraph 126 des Strafgesetzbuches die Verjährung der vorliegenden Tat nach zehn Jahren vorsieht, die in Haft sitzende Ziehmutter also für diese Tat nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden kann.
Der Junge, welcher 16 Jahre lang von seiner Ziehmutter Ruslan gerufen wurde, hegt keinen Haß gegen sie, hat nunmehr seine leibliche Mutter mehrfach getroffen und erfahren, daß er eigentlich Vladimir heißt. Zukünftig, so sagte er, wolle er beide Namen tragen. Wo er leben wird, ist einstweilen noch offen und abhängig von seiner Entscheidung. Sei leiblicher Vater, der inzwischen mit einer anderen Frau zusammen lebt, würde ihn auch zu sich nehmen wollen. Ruslan Vladimir, der sich langsam an die neue Situation gewöhnt, klagt darüber, daß die Psychologen ihn eher störten als Unterstützung bedeuteten, derweil der schwerste Schlag für ihn darin besteht, daß sich viele Freunde von ihm abgewandt haben.

4 Kommentare:

kloty hat gesagt…

Nun, aus einem entführten Kind gleich vom scheiternden Staat zu konstruieren, scheint mir etwas weit hergeholt, was kann man dann über Österreich und Italien sagen, wo die Menschen jahrzehntelang in Kellern gefangengehalten werden und keine Behörde was merkt?

Sehr schön war der Satz von dem Staat als vergangenheitsbezogener Heulsuse. Wenn ich mich recht erinnere war die mindestens die Hälfte unserer Diskussion genau zu diesem Thema, freut mich, dass es Sie jetzt genauso stört wie mich.

Mit freundlichen Gruessen,

kloty

Axel Reetz hat gesagt…

Erstens lautet die Überschrift: "Lettland, ein scheiternder Staat?" und nicht "ein gescheiterter Staat". Ich sehe auch nicht, wo ein fehlendes Funktionieren des lettischen Staates mit Problemen in anderen Staaten gerechtfertigt werden kann oder aufgewogen werden sollte.
Was die Weinerlichkeit betrifft, so geht es um zwei verschiedene Aspekte der einen Historie: Mit Wehklagen kann man kein geld verdienen, sondern bestenfalls betteln gehen. Aber warum hindert das die Russen an einer Entschuldigung? Kanada und Australien haben es jüngst vorgemacht.
Erneut frage ich Kloty, was will er eigentlich mit was begründen. Ich kann der Argumentation nicht folgen.

kloty hat gesagt…

Wo steht irgendwas vom gescheitertem Staat?

Wie Sie sagen, die Bettelgefahr steigt, wenn Russland sich entschuldigt. Ich weiss nicht wem gegenueber Australien und Kanada sich entschuldigt haben, gab es deswegen auch finanzielle Ansprueche von der Seite der Geschedigten?

Danke fuer die Aufklaerung.

Axel Reetz hat gesagt…

Kloty scheint Probleme mit dem eigenen Gedächtnis zu haben. Der Begriff des scheiternden Staates taucht im Post auf, wird dort erläutert und von Kloty im Kommentar aufgenommen. Warum also diese Frage?
Wenn Kloty nicht weiß, wofür sich Stephen Harper in Kanada und Kevin Rudd in Australien, beide als Regierungschefs noch nicht lange im Amt, entschuldigt haben, so sei eine Internetrecherche anempfohlen. Und noch ein Tip, Kloty, Harper hat als Konservativer und Rudd als Labourkandidat die lange regierenden Liberalen (in Kanada mehr oder weniger die Linke, in Australien aber mehr oder weniger die Rechte) abgelöst. An ihnen könnte sich, warum eigentlich nicht, Медведев, der ebenfalls noch nicht lange im Amt ist, ein Beispiel nehmen – und das jenseits jeder finanziellen Forderungen und Verpflichtungen...
... doch, uff, der ist ja gar nicht Regierungschef. Deshalb als Empfehlung, pikanter, Путин!