Hier die deutsche Version einer von mir auf lettisch publizierten Rezension:
Dieter Segert:
Postsozialismus. Hinterlassenschaften des Staatssozialismus und neue Kapitalismen in Europa
Braumüller 2007
Ein Buch über den Postsozialismus ist für den Leser in Lettland interessant, weil auch Lettland selbst zum postsozialistischen Raum zählt.
Der Autor
Obwohl in Österreich erschienen ist der Herausgeber des Bandes, Dieter Segert, ein Deutscher, der selbst im sozialistischen Teil des Landes, in der DDR, aufgewachsen ist und seine Karriere dort begonnen hat. Diese Herausgeberschaft macht den vorliegenden Band besonders interessant, denn Deutschland ist in Europa das einzige Land, dessen Bevölkerung auf beide in der Zeit des kalten Krieges einander feindselig gegenüberstehenden Blöcke verteilt gelebt hat, eine Geschichte, die zahlreiche Familien für vier Jahrzehnte voneinander weitgehend getrennt hat. Nunmehr ist Deutschland das einzige Land, in dem ein Teil der Bevölkerung den Sozialismus selbst miterlebt hat, der andere aber nicht, dem dafür das nunmehr „siegreiche“ Gesellschaftssystem immer vertraut war, welches im Ostteil des Landes vielfach auf Unverständnis stößt und sicher teilweise auch abgelehnt wird.
Herausgeber Dieter Segert mußte als Sozialwissenschaftler selbst den Umgang des Westens, dem der Osten nach Artikel 23 des Grundgesetzes „beitrat“, erfahren, was Ergebnis des Umganges der westlichen Elite mit allem aus dem Osten war, was den Schein des politisch Belasteten in sich trug – und dazu gehörten naturgemäß die Sozialwissenschaften – die es im modernen Sinne gar nicht gab. Und dazu zählt natürlich auch die Politikwissenschaft. Sozialwissenschaften wurden nach Segert im Sozialismus als Instrument der Herrschenden (214) betrachtet, während im Westen zumeist Kremlastrologie vorherrschte.
Für Dieter Segert galt wie für viele Kollegen aus den in Deutschland als „neuen Bundesländern“ (oder auch Neufünfland) bezeichneten Gebietes das gleiche, sie wurden so wie viele Erbschaften aus der DDR wie man in Deutschland selbst sagt „abgewickelt“. Konkret bedeutet dies, Dieter Segert konnte über Jahre hinweg als Politologe nicht in der Lehre, um Wissenschaftsbetrieb arbeiten, bis die Universität Wien in 2005 als Professor rief.
Postsozialismus
Lange war Gegenstand der Forschung und Publikation der Politikwissenschaft über den Postsozialismus von der Vermutung geprägt, der Osten werde zum Westen. Konkret die Transformationstheorie versuchte, die Wende im Osten Europas als Teil der von Samuel Huntington als dritten Welle der Demokratisierung bezeichneten Prozesse zu sehen, beinahe als gäbe es eine Kulturhegemonie der liberalen Demokratie in Europa, unter den Industriestaaten, auf der nördlichen Erdhalbkugel oder wie man es auch betrachten möge. Nur Przeworski wagte der allgemeinen Sichtweise bereits 1991 zu widersprechen. Nach seiner Idee drohte eher, daß der Osten (in Anlehnung an den Nord-Süd-Konflikt zwischen der Ersten und der Dritten Welt) zum Süden werde. Und einstweilen stellt sich sicher die Frage, ob der Osten in Deutschland und Europa nur einstweilen das Armenhaus ist oder aber mittelfristig der Mezzogiorno seiner Region bleibt. Über die grundlegenden Unterschiede der historischen Entwicklung im Osten Europas hat der Autor bereits vor fünf Jahren einen sehr interessanten Band vorgelegt[1].
Segert bringt damit seit Jahren einen neuen Ansatzpunkt in die Forschung zum Thema ein. Bereits 1995 erschien sein Sammelband zum Spätsozialismus,[2] zu verstehen als die Endphase vor dem Zusammenbruch des Systems. Kern dieses Ansatzes ist, daß nicht wie im Westen regelmäßig angenommen, den osteuropäischen Ländern der Sozialismus aufgedrängt worden war und sie jetzt eine bereits vorher begonnene und nur unterbrochene Entwicklung fortsetzen, sondern daß erstens der Weg in den Sozialismus ebenso zu untersuchen ist, also warum sich der Staatsozialismus nach 1945 von der Sowjetunion nach Westen ausdehnen konnte, wie eben auch die Modernisierung während des Sozialismus, denn wenigstens anfänglich verringerte sich der Abstand in der Entwicklung des Ostens zum Westen. Segert betont, daß die ein halbes Jahrhundert andauernde undemokratische Herrschaft bessere Ausgangschancen für Demokratie geschaffen habe, als jemals zuvor in Osteuropa gegeben waren und sieht die Ursache eben im Spätzosialismus. Dieser stellt sich nach Segert sehr verschieden dar, was der Grund für die Unterschiede in den betreffenden Staaten heute ist Der Übergang, so sagt er, habe nur eine Fassade hinweggefegt, hinter der informelle Strukturen bestanden, welche schnell zu formellen wurden (15). Segert widerspricht Przeworski und meint, der Osten weise gerade wegen seiner staatssozialistischen Vergangenheit deutliche Unterschiede zu den eigentlichen Entwicklungsländern auf (4).
Damit kommt er zu dem sicher zutreffenden Schluß, Transformation könne niemals einfach die Geburt etwas neuen und die Vernichtung des Alten sein (208), die „Tabula Rasa“-These, welche die Transformationstheorie großteils vertritt, sei falsch ist, weil eine Gesellschaftsordnung nicht ohne Spuren verschwinden könne, auch wenn anscheinend alles vollständig ausgewechselt wurde. Als Beispiel mag hier Estland gelten, daß unter der Parole „plats puhtaks“ tatsächlich 1992 einen Wahlsieg der zu den Kommunisten in Opposition stehenden Kräfte erlebte – damit aber natürlich in der Tat eine aus dem System entstandene Opposition an die Macht gelangte. Betrachtet man die Parteiensysteme der postsozialistischen Staaten, so haben Regime und Opposition aus dem Spätsozialismus als Gegenspieler mehr Spuren im den gegenwärtigen Strukturen hinterlassen als irgendwelche älteren Wurzeln, dabei wurden solche häufig nur geborgt, um die Verwicklung in die sozialistische Zeit zu verschleiern. In Lettland ist ein gutes Beispiel hierfür „Latvijas Zemnieku Savienība“, die an den politischen Erfolg der „Latviešu Zemnieku Savienība“ von Kārlis Ulmanis anzuknüpfen versucht. Die lettische Grammatik erlaubt hier im Gegenteil zum Deutschen die feine Unterscheidung zwischen der „Bauernunion Lettlands“ – die heutige Partei – und der „Union lettischer Bauern“, die whrend der Zwischenkriegszeit einflußreich war.
Die nachfolgenden Beiträge sind keine nach Ländern geordneten Prüfungen, ob die Thesen Segerts in den einzelnen Gesellschaften zutreffen, es handelt sich vielmehr um Erörterungen der für konkrete postsozialistische Gesellschaften charakteristischen Aspekte, die Teil der von Segert entwickelten Erklärungen sind – eben je nach Land verschieden, also eine Darstellung der informellen Strukturen, wie sie nach dem Wegfall der spätsozialistischen Fassaden übrig blieben, wie etwa im Falle Rumäniens die Korruption.
Baltikum
Die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sind eine Schnittmenge unter den postsozialistischen Staaten. Auf der einen Seite gehörten sie vor der Wende der Sowjetunion an und waren nicht einmal unabhängig, aber auf der anderen Seite gehören sie heute als einzige ehemalige Republiken dieses damals größten Staates der Erde der Europäischen Union und der NATO an. Der vorliegende Band behandelt die baltischen Republiken wie so viele andere Publikationen auch leider nur am Rande in den vergleichenden Beiträgen. Aber dafür gibt es einen ganz einfachen Grund: Es fehlt im Ausland an Experten, die der Sprachen der Länder mächtig wären und sich dort auskennten. Das ist ein Grund, warum auch in internationalen Publikationen häufig einheimische Autoren mitarbeiten, jedoch einstweilen viel zu selten, vor allem was das lettische Beispiel betrifft, weshalb in deutscher und englischer Sprache entschieden weniger Literatur über das Baltikum vorliegt, als über die anderen Staaten der Region.
Der Beitrag von Bohle und Greskovits über Neoliberalismus, Neo-Korporatismus und sozialistischen Hinterlassenschaften ist als einziger vergleichender Beitrag für den Leser in Lettland interessant, weil hier auch die baltischen Länder etwas ausführlicher betrachtet werden. Dabei werden zunächst zutreffende Feststellungen getroffen wie die grundlegende Deindustriealisierung. Politische Beschreibungen geraten schwieriger, wenn Litauen neben Slowenien als eines der wenigen Länder gesehen wird, in dem sozialistische Parteien mit korporatistischen Ideen auch an der Macht waren, wohingegen Lettland und Estland nur von Liberalen regiert worden seien. Hier erweist sich die fehlende Kenntnis im Detail einer zugegeben sehr unübersichtlichen Parteienlandschaft als große Hürde.
In Estland ist Siim Kallas als Funktionär aus sowjetischen Zeiten Gründer der wirtschaftsliberalen Reformpartei, die aber erst nach der radikalen Politik der Wirtschaftsreformen durch die früheren Gegner des Regimes gegründet worden war. Auch in Lettland läßt sich schon beginnend mit der Volksfront schwer behaupten, die politischen Kräfte teilten sich klar in frühere Regimegegner und Mitläufer. Die Autoren schließen des weiteren aus den Wahlergebnissen, die neoliberale Politik sei im Baltikum so beliebt wie der Korporatismus in Slowenien. Tatsächlich ist der Durchschnitt der Bevölkerung insbesondere in Lettland eher sozialdemokratisch eingestellt, doch der Begriff erstens nach der Unabhängigkeit verpönt gewesen und ein sozioökonomischer Konflikt durch den nationalen überdeckt worden.
Dieser Umstand gepaart mit der international sehr wohl bekannten hohen Zahl insbesondere russischer Einwohner in Estland und Lettland, denen teilweise überdies die Bürgerrechte verwehrt werden, macht beide Staaten zu regelmäßigen Angriffobjekten ausländischer Publikationen. Dabei fehlt es den Autoren auch hier an Detailwissen, weshalb die Staatsbürgerfrage in einem Satz abgehandelt wird, wo es lapidar heißt, es sei schwierig, in Estland und Lettland die Staatsbürgerschaft zu erhalten, womit die tatsächliche Problematik, wie sie anläßlich der Ausschreitungen in Tallinn im April manifest wurde, natürlich nicht erfaßt werden kann.
Darum wundert es auch nicht, wenn die Autoren wie auch Segert im Abschlußkapitel in den zu Sowjetzeiten immigrierten Bevölkerungsanteilen die Verlierer der Transformation sehen (193, 212). Ebenfalls problematisch ist die Einschätzung des wirtschaftlichen Potentials als Plattform für Rußland, dessen fehlende Nutzung Segert abschließend vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Voraussetzungen und unterschiedlichen Lösungsansätzen in den postsozialistischen Staaten zu dem Schluß kommen läßt, den baltischen Republiken verpaßte Chancen vorzuwerfen (208).
Segert stellt jedoch auch Behauptungen auf, denen es m.E. zu widersprechen gilt, etwa daß die Idee der Demokratie in Osteuropa nicht habe popularisiert werden müssen (211), denn ganz im Gegenteil mangelt es an demokratischem Bewußtsein bis heute wie etwa die Proteste gegen Homosexuellenparaden belegen, und Ostrovska („If the price for sovereignty (understood as a nation state), is democracy – let it be democracy.“[3]) hatte bereits in den 90er Jahren darauf hingewiesen, daß die Menschen bereit waren, alles zu akzeptieren, um nur die Unabhängigkeit zu erwirken. Öffentliche Diskussionen, wie in offenen demokratischen Gesellschaften üblich, finden vorwiegend in Internet-Chats und Kommentaren statt, wo sich die Autoren hinter Nicknamen verstecken. Das verwudnert wenig, denn die Texte sind inhaltlich oft unterhalb der Gürtellinie formuliert. Fragen, die eine viel größere Zahl an Einwohnern betreffen, wie etwa die Einführung der Berufsarmee und des Rauchverbots in Gaststätten, werden nicht diskutiert, Regierungsentscheide ohne Murren akzeptiert. Wo hingegen die Staatsmacht nicht allgegenwärtig ist, kann eine zunehmende Aggessivität beobachtet werden wie etwa im Straßenverkehr. Es scheint, als sei die Alltagseinstellung des einzelnen, daß ihm jeder irgendetwas schuldig ist und man sich darum eben auch einmal etwas herausnimmt.
Fazit
Aber Unzfriedenheit macht sich gerade in jüngster Zeit auch im sogenannten Westen breit, was sich in Vorwürfen gegen und Ablehnung der Politik ausdrückt. Damit gilt es in nächster Zukunft zu diskutieren, inwieweit der Osten ein Trendsetter ist, Entwicklungen vorweggereift, die der Westen anschließend nachholen werden. Als Hinweis darauf gilt das Auftreten von Phänomenen im Osten, die von der Transformationsforschung als defekte gesehen werden auch in westlichen Demokratien. Das Problem mit der Regierungsbildung in Belgien und der Erfolg der Schweizerischen Volkspartei 2007 dürfen als Beispiele gelten. Mit Sicherheit aber gibt es einen Unterschied zwischen Ost und West, den Segert selbst benennt: Daß Korruption eine Folge der alten informellen Netzwerke ist (209).
Manche Fragezeichen bleiben jedoch bestehen. Die Hinterlassenschaften des Spätsozialismus sind nicht einheitlich und zweitens so wie die älteren Hinterlassenschaften kein unabänderliches „Schicksal“, dabei bleibt gleichzeitig drittens die Einförmigkeit des Postsozialismus ein einstweilen noch ungeklärtes Phänomen, wie Unterschiedlichkeiten viertens auch im Kontext internationaler Einflüsse gesehen werden müßten. Aber Segert erklärt damit nicht, warum sich die baltischen Republiken trotz ähnlicher Ausgangsposition 1991 und einer seit 1795 weitgehend einheitlichen Geschichte in nur 16 Jahren Unabhängigkeit so unterschiedlich entwickelt haben, was Mattusch bereits 1996 just in einer der erwähnten Publikationen Segerts erwähnte.[4] Segert ist aber darin zuzustimmen, daß es ein Fehler des Zeitgeistes war zu vermuten, daß sich Demokratie automatisch aus einer Marktwirtschaft entwickele(216f.). Eigentlich hätte der Politikwissenschaft dieser Fehler nicht unterlaufen dürfen, gibt es doch genügend Länder auf der Welt, die kapitalistisch sind, aber eben nicht demokratisch. Hier bemüht nun Segert Tocqueville, der neben der politischen Gleichheit auch die Bedeutung einer gewissen sozialen Gleichheit betont hatte.
Trotzdem, Segerts Ansätze sind neu und werden in künftigen Publikationen sicher weiter thematisiert. 2008 wird ein Band über die Parteienentwicklung im Postsozialismus erscheinen, in dem der Autor dieser Rezension die baltischen Staaten behandelt.
[1] Segert, Dieter: Die Grenzen Osteuropas 1918, 1945, 1989-. Drei Versuche im Westen anzukommen, Frankfurt 2002
[2] Segert, Dieter (Hrsg.): Spätsozialismus und Parteienbildung in Osteuropa nach 1989, Berlin 1996
[3] Ostrovska, Ilze: Nationalism and democracy: The choice without choice; in: Latvijas Universitātes Filozofijas un Socioloģijas institūts, Riga 2000, S.156
[4] Mattusch, Katrin: Vielfalt trotz ähnlicher Geschichte Die drei baltischen Staaten und ihre unterschiedlichen Parteiensysteme; in: Segert, Dieter (Hrsg.): Spätsozialismus und Parteienbildung in Osteuropa nach 1989, S.93-118, Berlin 1996
Postsozialismus. Hinterlassenschaften des Staatssozialismus und neue Kapitalismen in Europa
Braumüller 2007
Ein Buch über den Postsozialismus ist für den Leser in Lettland interessant, weil auch Lettland selbst zum postsozialistischen Raum zählt.
Der Autor
Obwohl in Österreich erschienen ist der Herausgeber des Bandes, Dieter Segert, ein Deutscher, der selbst im sozialistischen Teil des Landes, in der DDR, aufgewachsen ist und seine Karriere dort begonnen hat. Diese Herausgeberschaft macht den vorliegenden Band besonders interessant, denn Deutschland ist in Europa das einzige Land, dessen Bevölkerung auf beide in der Zeit des kalten Krieges einander feindselig gegenüberstehenden Blöcke verteilt gelebt hat, eine Geschichte, die zahlreiche Familien für vier Jahrzehnte voneinander weitgehend getrennt hat. Nunmehr ist Deutschland das einzige Land, in dem ein Teil der Bevölkerung den Sozialismus selbst miterlebt hat, der andere aber nicht, dem dafür das nunmehr „siegreiche“ Gesellschaftssystem immer vertraut war, welches im Ostteil des Landes vielfach auf Unverständnis stößt und sicher teilweise auch abgelehnt wird.
Herausgeber Dieter Segert mußte als Sozialwissenschaftler selbst den Umgang des Westens, dem der Osten nach Artikel 23 des Grundgesetzes „beitrat“, erfahren, was Ergebnis des Umganges der westlichen Elite mit allem aus dem Osten war, was den Schein des politisch Belasteten in sich trug – und dazu gehörten naturgemäß die Sozialwissenschaften – die es im modernen Sinne gar nicht gab. Und dazu zählt natürlich auch die Politikwissenschaft. Sozialwissenschaften wurden nach Segert im Sozialismus als Instrument der Herrschenden (214) betrachtet, während im Westen zumeist Kremlastrologie vorherrschte.
Für Dieter Segert galt wie für viele Kollegen aus den in Deutschland als „neuen Bundesländern“ (oder auch Neufünfland) bezeichneten Gebietes das gleiche, sie wurden so wie viele Erbschaften aus der DDR wie man in Deutschland selbst sagt „abgewickelt“. Konkret bedeutet dies, Dieter Segert konnte über Jahre hinweg als Politologe nicht in der Lehre, um Wissenschaftsbetrieb arbeiten, bis die Universität Wien in 2005 als Professor rief.
Postsozialismus
Lange war Gegenstand der Forschung und Publikation der Politikwissenschaft über den Postsozialismus von der Vermutung geprägt, der Osten werde zum Westen. Konkret die Transformationstheorie versuchte, die Wende im Osten Europas als Teil der von Samuel Huntington als dritten Welle der Demokratisierung bezeichneten Prozesse zu sehen, beinahe als gäbe es eine Kulturhegemonie der liberalen Demokratie in Europa, unter den Industriestaaten, auf der nördlichen Erdhalbkugel oder wie man es auch betrachten möge. Nur Przeworski wagte der allgemeinen Sichtweise bereits 1991 zu widersprechen. Nach seiner Idee drohte eher, daß der Osten (in Anlehnung an den Nord-Süd-Konflikt zwischen der Ersten und der Dritten Welt) zum Süden werde. Und einstweilen stellt sich sicher die Frage, ob der Osten in Deutschland und Europa nur einstweilen das Armenhaus ist oder aber mittelfristig der Mezzogiorno seiner Region bleibt. Über die grundlegenden Unterschiede der historischen Entwicklung im Osten Europas hat der Autor bereits vor fünf Jahren einen sehr interessanten Band vorgelegt[1].
Segert bringt damit seit Jahren einen neuen Ansatzpunkt in die Forschung zum Thema ein. Bereits 1995 erschien sein Sammelband zum Spätsozialismus,[2] zu verstehen als die Endphase vor dem Zusammenbruch des Systems. Kern dieses Ansatzes ist, daß nicht wie im Westen regelmäßig angenommen, den osteuropäischen Ländern der Sozialismus aufgedrängt worden war und sie jetzt eine bereits vorher begonnene und nur unterbrochene Entwicklung fortsetzen, sondern daß erstens der Weg in den Sozialismus ebenso zu untersuchen ist, also warum sich der Staatsozialismus nach 1945 von der Sowjetunion nach Westen ausdehnen konnte, wie eben auch die Modernisierung während des Sozialismus, denn wenigstens anfänglich verringerte sich der Abstand in der Entwicklung des Ostens zum Westen. Segert betont, daß die ein halbes Jahrhundert andauernde undemokratische Herrschaft bessere Ausgangschancen für Demokratie geschaffen habe, als jemals zuvor in Osteuropa gegeben waren und sieht die Ursache eben im Spätzosialismus. Dieser stellt sich nach Segert sehr verschieden dar, was der Grund für die Unterschiede in den betreffenden Staaten heute ist Der Übergang, so sagt er, habe nur eine Fassade hinweggefegt, hinter der informelle Strukturen bestanden, welche schnell zu formellen wurden (15). Segert widerspricht Przeworski und meint, der Osten weise gerade wegen seiner staatssozialistischen Vergangenheit deutliche Unterschiede zu den eigentlichen Entwicklungsländern auf (4).
Damit kommt er zu dem sicher zutreffenden Schluß, Transformation könne niemals einfach die Geburt etwas neuen und die Vernichtung des Alten sein (208), die „Tabula Rasa“-These, welche die Transformationstheorie großteils vertritt, sei falsch ist, weil eine Gesellschaftsordnung nicht ohne Spuren verschwinden könne, auch wenn anscheinend alles vollständig ausgewechselt wurde. Als Beispiel mag hier Estland gelten, daß unter der Parole „plats puhtaks“ tatsächlich 1992 einen Wahlsieg der zu den Kommunisten in Opposition stehenden Kräfte erlebte – damit aber natürlich in der Tat eine aus dem System entstandene Opposition an die Macht gelangte. Betrachtet man die Parteiensysteme der postsozialistischen Staaten, so haben Regime und Opposition aus dem Spätsozialismus als Gegenspieler mehr Spuren im den gegenwärtigen Strukturen hinterlassen als irgendwelche älteren Wurzeln, dabei wurden solche häufig nur geborgt, um die Verwicklung in die sozialistische Zeit zu verschleiern. In Lettland ist ein gutes Beispiel hierfür „Latvijas Zemnieku Savienība“, die an den politischen Erfolg der „Latviešu Zemnieku Savienība“ von Kārlis Ulmanis anzuknüpfen versucht. Die lettische Grammatik erlaubt hier im Gegenteil zum Deutschen die feine Unterscheidung zwischen der „Bauernunion Lettlands“ – die heutige Partei – und der „Union lettischer Bauern“, die whrend der Zwischenkriegszeit einflußreich war.
Die nachfolgenden Beiträge sind keine nach Ländern geordneten Prüfungen, ob die Thesen Segerts in den einzelnen Gesellschaften zutreffen, es handelt sich vielmehr um Erörterungen der für konkrete postsozialistische Gesellschaften charakteristischen Aspekte, die Teil der von Segert entwickelten Erklärungen sind – eben je nach Land verschieden, also eine Darstellung der informellen Strukturen, wie sie nach dem Wegfall der spätsozialistischen Fassaden übrig blieben, wie etwa im Falle Rumäniens die Korruption.
Baltikum
Die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sind eine Schnittmenge unter den postsozialistischen Staaten. Auf der einen Seite gehörten sie vor der Wende der Sowjetunion an und waren nicht einmal unabhängig, aber auf der anderen Seite gehören sie heute als einzige ehemalige Republiken dieses damals größten Staates der Erde der Europäischen Union und der NATO an. Der vorliegende Band behandelt die baltischen Republiken wie so viele andere Publikationen auch leider nur am Rande in den vergleichenden Beiträgen. Aber dafür gibt es einen ganz einfachen Grund: Es fehlt im Ausland an Experten, die der Sprachen der Länder mächtig wären und sich dort auskennten. Das ist ein Grund, warum auch in internationalen Publikationen häufig einheimische Autoren mitarbeiten, jedoch einstweilen viel zu selten, vor allem was das lettische Beispiel betrifft, weshalb in deutscher und englischer Sprache entschieden weniger Literatur über das Baltikum vorliegt, als über die anderen Staaten der Region.
Der Beitrag von Bohle und Greskovits über Neoliberalismus, Neo-Korporatismus und sozialistischen Hinterlassenschaften ist als einziger vergleichender Beitrag für den Leser in Lettland interessant, weil hier auch die baltischen Länder etwas ausführlicher betrachtet werden. Dabei werden zunächst zutreffende Feststellungen getroffen wie die grundlegende Deindustriealisierung. Politische Beschreibungen geraten schwieriger, wenn Litauen neben Slowenien als eines der wenigen Länder gesehen wird, in dem sozialistische Parteien mit korporatistischen Ideen auch an der Macht waren, wohingegen Lettland und Estland nur von Liberalen regiert worden seien. Hier erweist sich die fehlende Kenntnis im Detail einer zugegeben sehr unübersichtlichen Parteienlandschaft als große Hürde.
In Estland ist Siim Kallas als Funktionär aus sowjetischen Zeiten Gründer der wirtschaftsliberalen Reformpartei, die aber erst nach der radikalen Politik der Wirtschaftsreformen durch die früheren Gegner des Regimes gegründet worden war. Auch in Lettland läßt sich schon beginnend mit der Volksfront schwer behaupten, die politischen Kräfte teilten sich klar in frühere Regimegegner und Mitläufer. Die Autoren schließen des weiteren aus den Wahlergebnissen, die neoliberale Politik sei im Baltikum so beliebt wie der Korporatismus in Slowenien. Tatsächlich ist der Durchschnitt der Bevölkerung insbesondere in Lettland eher sozialdemokratisch eingestellt, doch der Begriff erstens nach der Unabhängigkeit verpönt gewesen und ein sozioökonomischer Konflikt durch den nationalen überdeckt worden.
Dieser Umstand gepaart mit der international sehr wohl bekannten hohen Zahl insbesondere russischer Einwohner in Estland und Lettland, denen teilweise überdies die Bürgerrechte verwehrt werden, macht beide Staaten zu regelmäßigen Angriffobjekten ausländischer Publikationen. Dabei fehlt es den Autoren auch hier an Detailwissen, weshalb die Staatsbürgerfrage in einem Satz abgehandelt wird, wo es lapidar heißt, es sei schwierig, in Estland und Lettland die Staatsbürgerschaft zu erhalten, womit die tatsächliche Problematik, wie sie anläßlich der Ausschreitungen in Tallinn im April manifest wurde, natürlich nicht erfaßt werden kann.
Darum wundert es auch nicht, wenn die Autoren wie auch Segert im Abschlußkapitel in den zu Sowjetzeiten immigrierten Bevölkerungsanteilen die Verlierer der Transformation sehen (193, 212). Ebenfalls problematisch ist die Einschätzung des wirtschaftlichen Potentials als Plattform für Rußland, dessen fehlende Nutzung Segert abschließend vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Voraussetzungen und unterschiedlichen Lösungsansätzen in den postsozialistischen Staaten zu dem Schluß kommen läßt, den baltischen Republiken verpaßte Chancen vorzuwerfen (208).
Segert stellt jedoch auch Behauptungen auf, denen es m.E. zu widersprechen gilt, etwa daß die Idee der Demokratie in Osteuropa nicht habe popularisiert werden müssen (211), denn ganz im Gegenteil mangelt es an demokratischem Bewußtsein bis heute wie etwa die Proteste gegen Homosexuellenparaden belegen, und Ostrovska („If the price for sovereignty (understood as a nation state), is democracy – let it be democracy.“[3]) hatte bereits in den 90er Jahren darauf hingewiesen, daß die Menschen bereit waren, alles zu akzeptieren, um nur die Unabhängigkeit zu erwirken. Öffentliche Diskussionen, wie in offenen demokratischen Gesellschaften üblich, finden vorwiegend in Internet-Chats und Kommentaren statt, wo sich die Autoren hinter Nicknamen verstecken. Das verwudnert wenig, denn die Texte sind inhaltlich oft unterhalb der Gürtellinie formuliert. Fragen, die eine viel größere Zahl an Einwohnern betreffen, wie etwa die Einführung der Berufsarmee und des Rauchverbots in Gaststätten, werden nicht diskutiert, Regierungsentscheide ohne Murren akzeptiert. Wo hingegen die Staatsmacht nicht allgegenwärtig ist, kann eine zunehmende Aggessivität beobachtet werden wie etwa im Straßenverkehr. Es scheint, als sei die Alltagseinstellung des einzelnen, daß ihm jeder irgendetwas schuldig ist und man sich darum eben auch einmal etwas herausnimmt.
Fazit
Aber Unzfriedenheit macht sich gerade in jüngster Zeit auch im sogenannten Westen breit, was sich in Vorwürfen gegen und Ablehnung der Politik ausdrückt. Damit gilt es in nächster Zukunft zu diskutieren, inwieweit der Osten ein Trendsetter ist, Entwicklungen vorweggereift, die der Westen anschließend nachholen werden. Als Hinweis darauf gilt das Auftreten von Phänomenen im Osten, die von der Transformationsforschung als defekte gesehen werden auch in westlichen Demokratien. Das Problem mit der Regierungsbildung in Belgien und der Erfolg der Schweizerischen Volkspartei 2007 dürfen als Beispiele gelten. Mit Sicherheit aber gibt es einen Unterschied zwischen Ost und West, den Segert selbst benennt: Daß Korruption eine Folge der alten informellen Netzwerke ist (209).
Manche Fragezeichen bleiben jedoch bestehen. Die Hinterlassenschaften des Spätsozialismus sind nicht einheitlich und zweitens so wie die älteren Hinterlassenschaften kein unabänderliches „Schicksal“, dabei bleibt gleichzeitig drittens die Einförmigkeit des Postsozialismus ein einstweilen noch ungeklärtes Phänomen, wie Unterschiedlichkeiten viertens auch im Kontext internationaler Einflüsse gesehen werden müßten. Aber Segert erklärt damit nicht, warum sich die baltischen Republiken trotz ähnlicher Ausgangsposition 1991 und einer seit 1795 weitgehend einheitlichen Geschichte in nur 16 Jahren Unabhängigkeit so unterschiedlich entwickelt haben, was Mattusch bereits 1996 just in einer der erwähnten Publikationen Segerts erwähnte.[4] Segert ist aber darin zuzustimmen, daß es ein Fehler des Zeitgeistes war zu vermuten, daß sich Demokratie automatisch aus einer Marktwirtschaft entwickele(216f.). Eigentlich hätte der Politikwissenschaft dieser Fehler nicht unterlaufen dürfen, gibt es doch genügend Länder auf der Welt, die kapitalistisch sind, aber eben nicht demokratisch. Hier bemüht nun Segert Tocqueville, der neben der politischen Gleichheit auch die Bedeutung einer gewissen sozialen Gleichheit betont hatte.
Trotzdem, Segerts Ansätze sind neu und werden in künftigen Publikationen sicher weiter thematisiert. 2008 wird ein Band über die Parteienentwicklung im Postsozialismus erscheinen, in dem der Autor dieser Rezension die baltischen Staaten behandelt.
[1] Segert, Dieter: Die Grenzen Osteuropas 1918, 1945, 1989-. Drei Versuche im Westen anzukommen, Frankfurt 2002
[2] Segert, Dieter (Hrsg.): Spätsozialismus und Parteienbildung in Osteuropa nach 1989, Berlin 1996
[3] Ostrovska, Ilze: Nationalism and democracy: The choice without choice; in: Latvijas Universitātes Filozofijas un Socioloģijas institūts, Riga 2000, S.156
[4] Mattusch, Katrin: Vielfalt trotz ähnlicher Geschichte Die drei baltischen Staaten und ihre unterschiedlichen Parteiensysteme; in: Segert, Dieter (Hrsg.): Spätsozialismus und Parteienbildung in Osteuropa nach 1989, S.93-118, Berlin 1996
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