Montag, 21. März 2011

Nun doch Wahlrechtsdiskussion in Estland

Der amerikanisch-estnische Politologe Rein Taagepera hat schon früher das estnische Wahlsystem als Maschine zur Enttäuschung der Wähler bezeichnet. Auf seien Vorschlag ging bei den letzten Wahlen zum Obersten Sowjet 1990 die Anwendung des irischen Single Transferable Vote zurück.

Diskussionen über Wahlsysteme gab es seit dem Zweiten Weltkrieg viele. Und unter Wahlrechtexperten gilt das irische System als eines der gerechtesten der Welt. Es handelt sich eigentlich um eine Mehrheitswahl in vergleichsweise kleinen Wahlkreisen mit etwa fünf Mandaten, doch in Folge der komplizierten Verrechnung ist das Ergebnis ziemlich proportional. Das estnische Wahlsystem ist ein proportionales in größeren Wahlkreisen von knapp über zehn Mandaten. Doch die Schwierigkeit beruht darin, daß nur etwa ein Zehntel bis ein Fünftel der Mandate von Kandidaten direkt erworben werden, während die restlichen Sitze durch Kompensationsmandate besetzt werden. Ein sehr kompliziert klingendes, aber in Wahrheit doch nicht so kompliziertes Verfahren der sogenannten Vorzugsstimme, das die Esten von Finnland übernommen haben. Ohne mathematisch in die Tiefe gehen zu wollen, könnte man es so formulieren: Jene Stimmen, die ein Kandidat für seinen Sitz zu viel bekommen hat, werden in Irland nach Wunsch des Wählers auf dem Wahlzettel weiterverteilt. In Estland aber gehen diese Stimmen als Kompensation an von den Parteien der erfolgreichen Kandidaten festgelegte Listen.

War in den vergangenen 20 Jahren dies keine große Diskussion wert in Estland, so gehen jetzt gleich mehrere Sozialwissenschaftler an die Öffentlichkeit: darunter natürlich Rein Taagepera, aber auch Juhan Kivirähk, Martin Mölder und der in England arbeitende Kollege Allan Sikk.

Alle sagen gleichermaßen, daß diese Kompensationsmandate abgeschafft werden sollten. Kivirähk ist der Ansicht, daß die Verteilung der überschüssigen Stimmen nicht auf nationaler Ebene, sondern gleich im Wahlkreis erfolgen sollte. Das aber würde nichts daran ändern, daß Politiker plötzlich ins Parlament gewählt würden, für die der Bürger nicht gestimmt hat, daß populäre Politiker wie eine Lokomotive für ihre Parteifreunde wirken.

Mölder geht bei der Diskussion noch etwas weiter und bezieht das Parteiensystem ein. Er weist auf die Fragezeichen eines Parlamentes hin, welches auf den ersten Blick den Eindruck einer konsolidierten Parteienlandschaft hinterläßt, in dem es Konservative, Liberale, Sozialdemokraten und ein Zentrum gibt. Deren Parteichef Edgar Savisaar gilt als Paria der estnischen Politik, wie auch in diesem Blog mehrfach berichtet wurde. Auf diese Weise, so Mölder, bleibt nur eine Koalitionsmöglichkeit übrig – das neo-liberale Bündnis aus der Reformpartei und der Vaterlandsunion.

Mölder läßt allerdings offen, wo er die direkte Verbindung zwischen Wahl- und Parteiensystem sieht. Sicher ist nur eins, Savisaar war immer der König der Direktstimmen, will sagen, das bestehende Wahlrecht begünstigt durch seine Popularität in der einen Hälfte der Bevölkerung die Zentrumspartei seit jeher. Mölder vergißt, daß rein biologisch eines Tages die Tage des Edgar Savisaar gezählt sein werden. Und was dann aus der Zentrumspartei wird, ist einstweilen völlig offen. Bereits 1995 hat sein Rücktritt nach dem Aufzeichnungsskandal zwar Andra Veidemann zur Abspaltung getrieben, aber wer erinnert sich heute noch an sie? Savisaar kehrte bald fulminant wieder und wurde nach dem Zusammenbruch von Res Publica von Andrus Ansip als Koalitionspartner benötigt.

Mölder prognostiziert zu den nächsten Wahlen das Erscheinen neuer Parteien. Er glaube nicht an eine Rückkehr der Volksunion oder der Grünen, die im März den Wiedereinzug ins Parlament nicht geschafft hatten. Nachdem die Reformpartei selbst 1994 die letzte der genuin neuen Parteien (Allan Sikk) war, stellt sich die Frage, welches politische Spektrum in den Augen der Wähler in Estland nicht abgedeckt ist oder wo es eine glaubwürdigere politische Alternative geben könnte. Und wer sollte diese führen?

Sicher ist, daß das estnische Wahlsystem ähnlich dem deutschen dem Wähler wenig Möglichkeit gibt, die personelle Zusammensetzung der Fraktionen zu bestimmen, ganz im Gegensatz zu den lose gebundenen Listen im benachbarten Lettland. In Estland wiederum können wenigstens theoretisch Einzelkandidaten Erfolg haben, was Mölder seinerseits im Interesse einer nicht zu großen Zersplitterung des Parlaments eher als Ausnahme denn als Regel bezeichnet.

Keine Kommentare: