Donnerstag, 25. September 2008

Lembergs Tautologien

Aivars Lembergs, der langjährige Bürgermeister von Ventspils, wurde vergangenes Frühjahr verhaftet. Seit Jahren werden publizistisch Korruptionsvorwürfe gegen ihn erhoben, und schließlich eröffnete die Staatsanwaltschaft ein Verfahren gegen ihn und ließ ihn wegen anderer Anschuldigungen schließlich in Untersuchungshaft nehmen.
Lembergs wird von vielen Einwohnern Lettlands verehrt, weil seine Stadt die ordentlichste im ganzen Lande ist. Ein einfaches Werk für den Bürgermeister einer Stadt mit hohen Steuereinnahmen.
Aber die Vorwürfe gegen das politische Schlitzohr gehen weiter. Kurz vor Ende ihrer Amtszeit behauptete die frühere Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga, sie habe Kenntnis von sogenannten “Lembergs-Stipendiaten”, also einer Liste mit Empfängern von Schmiergeldern.
In jüngster Zeit ist es um Lembergs wieder ruhiger geworden. Die Untersuchungen gehen aber weiter. Ex-Präsidentin Vīķe-Freiberga äußerte nun aber mehrfach die Sorge, ob die Lemberg-Angelegenheit auch gerecht und objektiv zu Ende geführt werde. Aivars Lembergs antwortete darauf am 13. September in der Zeitung Latvijas Avīze (Lettlands Zeitung) unter der Überschrift: Ciktāl esmu vienisprātis ar Vīķi-Freibergu (Wie weit bin ich mit Vaira Vīķe-Freiberga einer Meinung).
Lembergs erklärt, daß er in diesem Punkt mit Vaira Vīķe-Freiberga völlig einer Meinung sei und hoffe, daß tatsächlich sein Fall gerecht und objektiv behandelt werde, festgestellt werde, was ein Verbrechen sei, wo wann welches Gesetz übertreten worden sei und er sich nicht vor verurteilt finde, wie durch einen Artikel im Apollo-Internet-Portal, wo es geheißen habe, daß Lembergs ja wohl schon in einem der ihm vorgeworfenen Punkte schuldig sei, denn in einer Marktwirtschaft könne niemand in so kurzer Zeit an so viel Kapital kommen, ohne dabei Gesetze zu verletzen. Eine übrigens in Lettland sehr verbreitete Meinung im einfachen Volk, daß man auf ehrliche Weise nicht so wohlhabend werden könne. Was viele einzelnen Bonzen übel nehmen, aber nicht allen. Auch Lembergs Popularität leidet nicht. Kritischere Geister kommentieren die Arbeit des Kommunalpolitiker manchmal auch so, daß er wenigstens nicht so wie andere alles in die eigene Tasche gewirtschaftet habe, sondern auch etwas für das Volk tue. Lembergs widerspricht im Artikel grundlegend, er könne ganz im Gegenteil weitere Beispiele benennen, daß man gerade in der Marktwirtschaft in kurzer Zeit reich werden kann.
Lembergs stimmt Vaira Vīķe-Freiberga auch darin zu, daß die Gefahr bestünde, daß mafiöse Strukturen die Prozesse beeinflussen. Tatsächlich habe er zahlreiche Gegner, die Klagen fabrizierten und anstrengten, Fakten erfinden, veränderten und verfälschten und außerdem für entsprechende Zeugen sorgen respektive diese beeinflussen könnten. Nur Vertreter solcher Strukturen seien in der Lage, die Staatsanwälte in teure Restaurants und Hotels einzuladen.
So weit also, stimme er Vaira Vīķe-Freiberga zu. Doch sehr er nicht überzeigt, ob sich dahinter auch das gleiche Verständnis vom Rechtsstaat verberge, denn er könne der ehemaligen Präsidentin auf keinen Fall darin zustimmen, daß wie in Kanada ein Gericht sein Urteil innerhalb von 15 Minuten fälle. Das habe es mit Todesurteilen auch unter Stalin gegeben, beruhend auf Beweisen aus Denunziation und Folter
Bis hierhin mag man Lembergs nur geschickte Rhetorik vorwerfen oder auch salopp formuliert, daß er der Ex-Präsidentin das Wort im Munde herumdreht. Dabei macht es ihm die verbreitete Einstellung der Bevölkerung ebenso einfach wie naive Kommentare in Internetpublikationen.
Aber bei genauerer Betrachtung ist es dramatisch, wie Lembergs quasi selbstverständlich impliziert, daß er von der Staatsanwaltschaft als Unschuldiger verhaftet wird, während die schwarzen Kräfte frei gegen ihn agieren können. Staatliche Organe arbeiten also seiner Ansicht nach für die Mafia oder werden wenigstens von ihr beeinflußt? Das klingt nach einer verschleierten Verschwörungstheorie, die ab dem nächsten Absatz expressive verbis benannt wird.
Lembergs spricht jetzt von der Politischen Soros Vereinigung, die auch solche Veranstaltungen anrege, wie die “Regenschirmrevolution” vom Herbst 2007, mit der nur die eigenen politischen Interesse verschleiert würden. Damals waren erstmalig seit der Wendezeit die Menschen die Menschen auf die Straße gegangen, um gegen die geplante Entlassung des Chefs der Anti-Korruptionsbehörde zu protestieren. Nach anfänglichem Zögern war bei der zweiten Kundgebung auch Präsident Zatlers erschienen. Welche Verbindung so Lembergs, bestünde zwischen Rechtsstaatlichkeit unter der politisch motivierten Entlassung oder Nichtentlassung eines ineffizient arbeiteten Behördenchefs.
Um welche politischen Interessen es sich handelt, benennt Lembergs nicht. Muß er auch nicht, denn mit der Erwähnung der Soros-Stiftung hat er wieder die schweigende Mehrheit Lettlands wieder auf seiner Seite, die hinter der Werbung für eine Zivilgesellschaft die weltweite Machtergreifung von irgendwelchen nicht näher genannten Illuminierten oder auch der “Schwulen- und Lesbenbewegung” vermutet. Letzteres wird von Lembergs selbstverständlich im erwähnten Artikel nicht behauptet, steht aber in Lettland immer im Raum.
Das Überraschende an diesem Unsinn ist, daß viele Menschen ganz zutiefst und ehrlich daran glauben. Ob Lembergs dies ebenso tut, bleibt dahingestellt, aber vermutlich ist er intelligent genug, auf dieser Klaviatur nur zu spielen. 2006 ließ er sich sogar als Ministerpräsidentschaftskandidat der Parteienunion aus Grünen und Bauern plakatieren, kandidierte aber selbst nicht einmal um ein Parlamentsmandat – in Lettland kann der Präsident auch eine Person als Regierungschef nominieren, die nicht ins Parlament gewählt wurde. In den Augen der einfachen Bevölkerung war dies nicht etwa ein Zeichen der Klugheit Lembergs, zwar Einfluß geltend zu machen, ohne aber Verantwortung und Risiko übernehmen zu müssen, sondern seine Anhänger waren überzeugt, daß die Politikerclique in Riga ihn nicht an die Macht lassen wolle.
Lembergs fährt mit seinem Mißfallen der ehemaligen Präsidenten fort, die in den mächtigen Staaten der Welt herumreise und einen gefälligen Diener mache. Im Rahmen der innenpolitischen Erschütterungen Lettlands im Jahre 2007 hatte die Botschafterin der USA zu ihrem Abschied eine flammende Rede gehalten und die fehlende Rechtsstaatlichkeit Lettlands kritisiert. Daß Vaira Vīķe-Freiberga dieser Meinungsäußerung sofort zugestimmt hat, empfindet Lembergs als Verrat. Auch in diesem Punkt trifft Lembergs den Nerv des einfachen Volkes.
Abschließend äußert Lembergs sein absolutes Unverständnis über die Meinung der früheren Präsidentin, die auf das gescheiterte Referendum zur Verfassungsänderung im August reagiert hatte mit der Bemerkung, es könne sich in Lettland nur durch ein Referendum etwas ändern un nun möchte sich niemand beschweren, Veränderungen seinen nicht möglich, wenn das Volk nicht zahlreich genug an die Urnen geht, um das Ergebnis der Abstimmung rechtskräftig werden zu lassen. Lembergs wirft Vaira Vīķe-Freiberga vor, daß sie nun also nach acht Jahren in der Rigaer Burg anerkenne, sie habe in ihrer Amtszeit nichts bewegt.
Zweifelsohne ist es fragwürdig zu behaupten, nur eine Volksabstimmung könne etwas bewegen in Lettland. Aber auch Lembergs kennt die Verfassung sicher gut genug, um zu wissen, daß der Präsident in Lettland nicht das ausführende Organ ist. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten hat Vaira Vīķe-Freiberga in ihrer Amtszeit zahlreiche Gesetze beeinflußt.

Mittwoch, 24. September 2008

Zynismus des Zynismus-Vorwurfes

Duch zwei Beiträge über Estland bin ich 2007 auf das Eurasische Magazin aufmerksam geworden. Beide Artikel hielt ich für oberflächlich und einseitig, was ich damals auch an dieser Stelle bereits kommentiert habe. Das waren der Text von Ulrich Heyden über den Bronzesoldaten in Tallinn und die Reiseeindrücke aus Estland von Tobias Mindner, die m.E. herzlich wenig mit Estland zu tun hatten. Im Zusammenhang mit dem Kaukasuskonflikt gab es wieder Beiträge im Eurasischen Magazin, darunter erneut von Ulrich Heyden, die, von Ausnahmen abgesehen, eine starke Rußlandfreundlichkeit zum Ausdruck bringen. Dies betrifft ganz besonders den Artikel von Kai Ehlers.
Ich habe daraufhin an die Redaktion geschrieben:

Von: Dr. Axel Reetz [mailto:reetz@lanet.lv]
Gesendet: Freitag, 5. September 2008 10:36
An: info@eurasischesmagazin.de
Betreff: Ihre Berichterstattung rund um Russland
Sehr geehrte Kollegen,
durch einen Beitrag von Herrn Heyden zum Bronzesoldaten vergangenes Jahr wurde ich auf Ihre Publikation aufmerksam, habe Ihren Newsletter abonniert und verfolge nun die Texte.
Als Im Baltikum lebender Politologe habe ich selbstverständlich großes Interesse an der Berichterstattung in Deutschland und bin einstweilen verblüfft, daß außer General a.D. Klaus Naumann eigentlich ausschließlich Georgien verantwortlich gemacht wird. Auch Ihre Berichte sind sehr russophil.
Schon vergangenes Jahr hatte Herr Heyden den Bronzesoldaten nicht in Verbindung gebracht mit Putins Junktim, über die Grenzverträge anläßlich der Feierlichkeiten zum 60. Jahretag des Kriegsendes zu verhandeln, was estnische Nationalisten zu Aktionen veranlaßte, welche die Regierung dort für die Zukunft vereiteln wollte. Will sagen, die Berichterstattung war sehr verkürzt – mein Kommentar.
Jetzt werden den USA geostrategische Interessen vorgeworfen, die sie selbstverständlich haben. Aber Rußland doch auch! Und wollen wir lieber eine Demokratie den Kaukasus kontrollieren lassen oder einen oligarchisch-kapitalistischen Autoritarismus? Sind schon die Diskussionen über Parlaments- und Präsidentschaftswahl in Rußland vor weniger als Jahresfrist vergessen?
Russland war in der Zarenzeit rückstandig (Aufhebung der Leibeigenschaft 1861), die Sowjetunuion brach zusammen, weil die Regierung keine nachhaltige Entwicklung durchführte. Und jetzt passiert genau das gleiche. Die öffentliche Meinung in diesem Land geht auf unfreie Medien zuruck. Aber alles das ist bekannt. Ich frage mich also, warum sich die Berichterstattung auf einen zugegebenermaßen dummen Streich Saakaschwilis beschränkt. Der Konflikt liegt doch viel tiefer.
MfG
Axel Reetz

Die Antwort:
Datums: Fri, 5 Sep 2008 10:58:34 +0200
Sūtītājs: Eurasisches Magazin
To: "Dr. Axel Reetz'"
Temats: AW: Ihre Berichterstattung rund um Russland
PS: Hätte ich sofort realisiert, dass Sie Saakaschwilis blutigen Überfall mit Tausenden von Toten als "dummen Streich" bezeichnen, hätte ich Ihnen wohl nicht geantwortet. Soviel Zynismus. Nein Danke.
HW
Eurasisches Magazin
Die Netzzeitschrift, die Europa und Asien zusammenbringt.
Hans Wagner
Ringstraße 10
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Tel.: 08254-8570
Fax: 08254-1646

Zynismus ist mir weder publizistisch noch privat vorgeworfen worden. Darum habe ich mir die Mühe einer umfangreicheren Antwort gemacht, die Teile des Posts zum Kaukasus wiederholen:

Sehr geehrter Kollege!
Sie warfen mir Zynismus vor. Um sich ein Bild von meiner Sicht der Dinge zu machen, lade ich Sie ein, folgenden Link anzuschauen.
Was Zynismus betrifft, bin ich seit längerem beispielsweise von den Beiträgen des Kollegen Heyden überrascht, der sich sehr kritisch über das Baltikum äußert. So bin ich auch ursprünglich auf das Eurasische Magazin gestoßen. Zunächst, wie bereits erwähnt, war Zynismus Ihre Interpretation meiner Formulierung “dummer Streich” über den Angriff Saakaschwilis auf Südossetien. In einer Mail schreibt man schon einmal salopp. Außerdem besteht wohl kein Zweifel, daß der Schritt sowohl dumm war als auch ein Streich, den er der Diplomatie des Westens gespielt hat.
Aber ich verstehe unter Zynismus doch etwas anderes, nämlich den im Eurasischen Magazin häufig anzutreffenden Umstand, daß einige Autoren sehr einseitig argumentieren.
Da schreibt etwa Kai Ehlers in “Ende der Ohnmacht?”, es ginge in der Berichterstattung nicht um die Nacht vom 7. auf den 8. August, sondern nur um die Frage, wie Rußland reagierte. Das sehe ich anders. Von Journalisten und Politikern wurde der Jahrhunderte alte Hintergrund des Konfliktes überhaupt nicht diskutiert. Das taucht nur in einem Interview mit einem georgischen Oppositionellen bei Ihnen auf. Dazu mein Glückwunsch. Statt dessen geht es immer nur aufgeregt darum, alle Kampfhandlungen müssen eingestellt werden. Das geht sogar so weit, daß selbst der ehemalieg WDR-Intendant Fritz Pleitgen bei Anne Will von den Ängsten der einfachen Bevölkerung in Rußland spricht, ohne gleichzeitig daran zu erinnern, wie sehr erst noch unlängst die Unfreiheit der Medien in Rußland kritisiert wurde.
Ehlers erklärt dann weiter, Gorbatschow und Schewardnadse hätten “gutgläubig” auf die Versprechungen des Westens vertraut, die NATO werde nicht bis an die russicchen Grenzen erweitert. Gutgläubig soll ein Argument sein für was? “The end of history”? Es ist doch naiv anzunehmen, daß sich die Welt nicht mehr verändert. Wie die NZZ schreibt, ist es eben das Komische an Rußland, daß es sich in der Rolle des gefürchteten so richtig wohl fühlt. Ebenfalls bei Anne Will gab deshalb auch der ehemalige US-Botschafter in Deutschland zu bedenken, daß Rußland sich schon selbst die Frage stellen müsse, warum seine Nachbarn alle in die NATO drängten. Zynismus ist es m.E., wenn man den beängstigten Balten die Tür zur Sicherheit zuhält mit dem Argument, man dürfe Rußland nicht ärgern. Und die Steigerung dieses Zynismus ist Ehlers Zitat unter der Zwischenüberschrift “Putins Ziel: Russland als Integrationsknoten Eurasiens”: “Leider gehörte auch die Niederschlagung des tschetschenischen Aufstandes dazu, bei dem Russland sich ausländisches Eingreifen als ‘Einmischung in seine inneren Angelegenheiten” verbat.” Sie sind also der Ansicht, die Formulierung “dummer Streich” ist Zynismus, aber die Bezeichnung zweier jahrelanger Kriege als “Niederschlagung” eines “Aufstandes” ist eine korrekte Beschreibung? Ich erinnere ncoh einmal daran, mein Text war eine kurze Mail, Ehlers Beitrag hingegen ein nach wie vor online stehender Artikel, für den er vermutlich auch ein Honorar von Ihnen erhalten hat!
Die von Ehlers erwähnte Stabilisierung Rußlands durch Putin habe in meinem Blog ebenfalls kommentiert – übrigens durchaus positiv. Bei Kollege Ehlers hingegen fehlt im Hinblick auf die neue Weltordnung und seiner offensichtlichen Gegnerschaft zu George Bush - mit welcher er in jeglicher Hinsicht nicht alleine ist – eine ganz simple Feststellung. Im Falle der USA besteht gewiß eine hochgradige Fragwürdigkeit der Mittel der Politik während der Bush-Administration. Doch während George Bush entsprechend demokratischer Gepflogenheiten abtreten muß und dies auch tut, dient die ebenso geopolitische Interessen vertretende Politik Rußlands einer Oligarchie, die sich keiner inländischen Kontrolle zu unterziehen bereit ist.
Ich finde zynisch, daß die Presse wie auch die öffentliche Meinung in Deutschland sich in Antiamerikanismus suhlen, gleichzeitig aber russisches Handeln ohne Unterbruch verstehen, ja oft sogar entschuldigen.
MfGAxel Reetz

Herrn Wagners Antwort fällt ebenso kurz, wie lakonisch wie auch m.E. eben zynisch aus:
Datums: Sat, 20 Sep 2008 18:26:45 +0200
Sūtītājs: Eurasisches Magazin
To: "'Dr. Axel Reetz'"
Temats: AW: AW: Ihre Berichterstattung rund um Russland
Sehr geehrter Herr Dr. Reetz,
meinen Glückwunsch zu Ihrer offenbar unbegrenzten Zeitfülle. Ich verfüge darüber nicht. Deshalb ziehe ich es vor, mich wieder einem neuen Magazin zuzuwenden. Ich habe in Ihrer Polemik und in den diversen Behauptungen etc. nicht erkennen können, woran sich eine Antwort, die der Klärung von Meinungsverschiedenheiten verpflichtet wäre, substanziell festmachen ließe.
Gruß
Hans Wagner

Freitag, 19. September 2008

Eesti muutub Saksamaaks[1]

Das war Ende der 90er ein im privaten Kreis regelmäßiger geäußerter, scherzhafter Kommentar über Estland. Damals stand dahinter eine Mischung aus Genugtuung über die rasante Entwicklung Estland und der Trauer über das Verschwinden verschiedener sowjetischer oder postsojwetischer Exotica im Alltag.
Nunmehr haben alle osteuropäischen Staaten das stürmische erste Jahrzehnt der Transformation durchgestanden, wirtschaftlich und politisch wurde von der Transformationstheorie schon früher eine Stabilisierung erfahren. Diese ist aber in den moisten Staaten wenigstens politisch nur teilweise eingetreten. Nach wie vor ist es eine Seltenheit, wenn wie Dzurinda in der Slowakei 2002oder Gyurcsány in Ungarn 2006 als amtierende Regierungen wiedergewählt werden. Estland gelang dies ebenfalls 2007, jedoch wählte Ministerpräsident Ansip andere Koalitionspartner.
Zwar hat in Estland, so wie in den baltischen Nachbarstaaten noch nie eine Regierung wenigstens eine ganze Legislaturperiode durchgehalten, auch gibt es nach wie vor so viel Instabilität im Parteiensystem, daß infolge des Popularitätsverlustes der liberal-konservativen Regierungen bei gleichzeitigem Wunsch der Wähler nach Parteien ähnlicher Coleur neue Parteien wie Res Publica 2003 und die wiedergegründeten Grünen 2007 den Sprung in Parlament geschafft. Doch die Umfragen zeigen einstweilen erstens eine große Stabilität an, wie die Zeitung Postimees am 15. September berichtete, und damit efreut sich Ministerpräsident Andrus Ansip nach wie vor großer Beliebtheit.
Die liberale Reformpartei des Regierungschef hat sich von 21% auf 19 verschlechtert, damit sind sich aber immer noch ein Fünftel der Wählerschaft sicher, diese Partei zu bevorzugen. Die Koalitionspartner der Vereinigten Vaterlandsunion und Res Publica kommen mit 10% auf zwei Punkte mehr. Die Sozialdemokraten (Sotsiaaldemokratlik Erakond), aus deren Reihen auch Präsident Toomas-Hendrik Ilves stammt, bleiben bei 8%.
Das würde den reinen Zahlen nach derzeit für eine Mehrheit nicht reichen, doch 16% der befragten gaben an, unentschlossen zu sein. Diese Zahl belegt ebenfalls die Stabilität, ist sie doch überraschend niedrig für ein baltisches Land. Von ihnen würden sich im Falle eines anstehenden Urnenganges sicher viele für die regierungskoalition entscheiden.
Stabilitätsfaktor wären jedoch ebenfalls die Grünen, die bereits 2007 mit Ansip Koalitionsverhandlungen geführt hatten. Daß die Beteiligung schließlich nicht stattfand ist auf die Verweigerung des gewünschten Umweltresorts zurückzuführen. Doch damals waren die Grünen für eine Mahrheit eben auch nicht erforderlich.
Ein dritter Stabilitätshinweis ist die starke Opposition der Zentrumspartei unter Edgar Savisaar, welche sich, immer wenn in der Opposition, seozialdemokratisch geriert. Sie war allerdings bis 2007 der Partner Ansips in einer nur aus den beiden stärksten Fraktionen bestehenden Koalition. Und dies war auch nicht das erste Mal, daß im Laufe einer Legislaturperiode ein Partnertausch stattfand.
In den Jahren seit 1992 hat auf diese Weise zwar keine Regierung sich vier jahre an der Macht halten können, die Politik hat sich jedoch jeweils nur in Nuancen verändert, das Ergebnis stabiler Verhältnisse.
Wenig verwundert, daß die Volksunion (Rahvaliit) den Sprung ins Parlament nicht schaffen würde. Seit der frühere kommunistische Funktionär und spätere Präsident Arnold Rüütel nicht mehr in der Politik ist, fehlt dieser Kraft die populäre und bekannte Figur. Hinzu kommt, daß der wichtigste Politiker dieser Partei, Villu reiljan, kämpft seit langem mit Korruptionsvorwürfen. Vor wenigen Monaten entzog das Parlament ihm die Immunität.
Gewiß ist Estland nicht Deutschland. Aber in den 90ern sollte der entsprechende Satz einen Prozeß andeuten. Doch in einem Punkt gibt es eine vielleicht sogar deutlichere Ähnlichkeit: Das Vertrauen in staatliche Institutionen und die Politik sinkt, wie Postimees am gleichn Tag in einem anderen Artikel berichtet. Hintergrund sind nach Meinung der Demoskopen die Krise im Kaukasus wie auch innenpolitische Debatten um den Haushalt. Interessant ist besonders die anhaltende Beliebheit des Ministerpräsidenten Andrus Ansip. Sein Vertrauenswert übersteigt mit 59% alle anderen politischen Institutionen.
[1] Estland wird zu Deutschland

Dienstag, 16. September 2008

Emanzipation eines Präsidenten?

Die Wahl von Valdis Zatlers zum Präsidenten Lettlands war vergangenes Jahr begleitet von viel Mißmut in der Bevölkerung, die sich einen anderen Mann an der Spitze des Staates gewünscht hatte. Die Wahl war aber auch einer der Höhepunkte, mit welcher sich die damalige Regierung Kalvītis gänzlich unbeliebt machte. Die nihilistische Einstellung dazu demonstrierte der Abgeordnete Jānis Lagzdiņš nach der erfolgreichen Inthronisation am Fenster des Fraktionsgebäudes mit ausgestrecktem Arm und geballter Faust gegen die unten wartende Menge gerichtet.
Zatlers galt als Kandidat dieser Regierung. Ein Arzt, der von Politik nichts versteht und sich im Alltagsgeschäft zurückhalten würde – ganz im Gegenteil zu seiner Vorgängerin Vaira Vīķe-Freiberga. Gewitzelt wurde, weil Spitzenpolitiker sich angeblich bei einem Treffen im Zoo auf Zatlers geeinigt hatte. Aber der Amtsinhaber sorgte auch selber für Realsatire, als er anläßlich einer Veranstaltung rhetorisch ungeschickt formulierte: Wer bin ich?
Nun aber funktioniert Zatlers plötzlich nicht? Freilich, die Regierung hat inzwischen gewechselt, nicht aber die Koalitionäre. Außenminister Māris Riekstiņš von der gleichen Partei, welcher auch Expremier Aigars Kalvītis angehört, wollte die gemeinsame Parteifreundin Vaira Paegle, einstweilen Vorsitzende des Ausschusses für Europaangelegenheiten, zur neuen Botschafterin Lettlands bei der UNO machen. Die Exillettin war auch früher schon einmal als Präsidentschaftskandidatin aufgestellt worden.
Zatlers ernannte sie nicht. Dieser Entschluß kam allerdings wenig überraschend. Die Pressesprecherin des Präsidenten, Inta Lase, verwies auf zwei Aspekte, die Zatlers bereits mehrfach geäußert habe. Zum einen kritisiere der Präsident die öffentliche Diskussion der Kandidatur, bevor er, der Staatschef, die Politikerin bestätigt habe. Wichtiger aber sei, daß Lettland Karrierediplomaten ausbilden solle und die Auswahl nicht politisch motiviert vorzunehmen sei.
Riestiņš gab sich pikiert und verwies auf die Praxis in den USA, die bewußt politische Diplomaten auswählten. Paegle selbst fühlt sich nicht nur übergangen, sondern auch ohne sachliche Argumentation zurückgewiesen. Sie werde sich an den Ombudsmann wegen Diskriminierung aufgrund ihrer politischen Zugehörigkeit wenden. Zwar sei es post facto nun ziemlich lächerlich, eine Erklärung aus dem Präsidialamt zu erhalten, doch habe sie bislang schriftlich keine Einwände erhalten, wieso sie professionell für das Amt nicht geeignet sei.
Die lettische Verfassung sieht die Berufung von Diplomaten durch den Präsidenten nur zeremoniell vor. Doch inoffiziell kommentieren auch außenpolitische Beobachter, daß Paegle Opfer des Kampfes um Einfluß zwischen Präsidenten und Außenministerium geworden sei, nachdem Minister Riekstiņš erst unlängst über Zatlers gesagt hatte, dieser lebe in einem Informationsvakuum.

Gespaltene Gesellschaft in Lettland

Der Anteil der nicht lettischen Bevölkerung in Lettland ist hoch. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg, also auch vor der erstmaligen Ausrufung der Unabhängigkeit waren die von Letten bewohnten Gebiete gemischt bevölkert. Neben der alten deutschbaltischen Oberschicht gab es Russen, Weißrussen und gerade im Osten des Landes, der einmal zur Rzeczpospolita[1] gehört hatte, auch Polen und Juden. Nachdem noch während der Zwischenkriegszeit die Mehrheit der Einwohner des neuen lettischen Staates Letten waren, so wurde in der Zeiten der Inkorporation in die Sowjetunion so viele Menschen aus anderen Republiken angesiedelt, daß die Letten beinahe zur Minderheit im eigenen Lande wurden. Nach dem Abzug der russischen Armee 1994 änderte sich das Bevölkerungsverhältnis so weit, daß ungefähr heute knapp zwei Drittel der Bevölkerung Letten sind.
Der große Anteil nicht lettischer Einwohner war der Grund dafür, daß die Letten sich wie die Esten nach der wiedererlangten Unabhängigkeit 1991 entschieden, nur jenen Menschen die Staatsbürgerschaft zu geben, die zum Zeitpunkt der Besetzung durch die Rote Armee 1940 Staatsbürger waren und deren Nachfahren. Zwar hatten bei dem noch vorher stattgefundenen Referendum über die Unabhängigkeit auch zahlreiche Russen für die Selbstständigkeit gestimmt, die Letten sahen es jedoch als problematisch an, Menschen über die Zukunft des Staates mitbestimmen zu lassen, die diesen Staat eigentlich nie wirklich wollten. Das sind zum einen jene, die den Zusammenbruch der Sowjetunion ablehnten, aber eben auch jene, die sich zwar wirtschaftliche Vorteile von einem unabhängigen Lettland versprachen, jedoch nicht darüber nachgedacht hatten, daß sie sich in einem Staat fremder Nation wiederfinden würden, der nach Jahrezehnten einer bloßen Duldung des Lettischen dieses nun zur Leitkultur erheben zu wollen.
Hierin ruht der Konflikt. Zur Sowjetzeit waren zwar beide Sprachen, Lettisch und Russisch, Amtssprachen. Im Alltagsleben war es jedoch zwar möglich, ohne Lettisch auszukommen hingegen keineswegs ohne Russisch, eine sehr zweischneidige Zweisprachigkeit also, die eben nun plötzlich ins Gegenteil verkehrt wurde.
Daß viele Russen diese Entwicklung als ungerecht empfanden rührte zum einen daher, die große russische Kultur als wichtiger zu empfinden inklusive des Statuses der Sprache als Lingua Franca. Aber es rührte eben auch daher, daß bis zu diesem Zeitpunkt nur weniger Russen darüber nachgedacht hatten, daß die Situation weniger Folge der lettischen als der sowjetischen Politik war. Natürlich waren sie aufgewachsen mit einer ganz anders lautenden Propaganda.
Über Jahre wurde eine vorwurfsvolle Haltung gegenüber Lettland aber auch Estland auch von westlichen, insbesondere deutschen Medien unterstützt, die nicht müde wurden, von der Diskriminierung der Russen zu sprechen.[2] Ohne dies an dieser Stelle bewerten zu wollen steht sicher fest, daß über Jahre hinweg beide Beobachtungen zutreffend waren: daß es zwei parallele Gesellschaften gab, eine lettische und eine russische, aber daß es auch keine manifesten Probleme oder Konfrontationen gab. Gerade das offizielle Lettland hat sicher auch darauf gehofft, daß sich diese Frage demographisch löst, dies sowohl die Haltung zu Lettland als auch die Staatsbürgerschaft betreffend.
Dabei wurde ein wichtiger Aspekt vernachlässigt, daß die Russen in einem anderen Informationsraum leben und vorwiegend nicht nur Medien auf Russisch konsumieren, sondern eben auch aus Rußland. Dies hat seine Wirkung bereits seit dem Machtantritt Putins. Doch seit dem jüngsten militärischen Konflikt im Kaukasus wirkt der Umstand verstärkt.
Das lettische Radio hat jüngst mit dem lettischen Politologen Viktors Makarovs und der lettisch-russischen Intellektuellen Marina Kosteņecka gesprochen. Makarovs weist darauf hin, daß noch Anfang August anläßlich des Referendums über die Parlamentsauflösung etwa in der liberalen Tageszeitung Diena positiv diskutiert wurde, daß sich auch die Russen nun beteiligten und den von Politikern geäußerten Behauptungen, daß nach einem positiven Resultat die Russen einmarschieren würden und die ansässigen Russen als Feinde und fünfte Kolonne gesehen wurden.
Die Journalisten des Radios erklärten, es sei schwierig gewesen, russische Mitbürger vor das Mikrophon zu bekommen. Eine junge Frau schließlich verglich die Rolle der Osseten mit denen der Russen in Lettland, die eben auch eine Minderheit seien. In einem Staat mit zwei Volksgruppen sei es ein Problem, wenn die Letten schon die Russen im eigenen Land nicht überzeugen könnten, wie könne sich dann erst das Gespräch mit Rußland gestalten. Man müsse zu einem Kompromiß über die historischen Ansichten kommen. Nie in der Geschichte seien die einen nur die guten und die anderen die schlechten gewesen.
Schon allein in dieser Meinungsäußerung wird deutlich, daß die junge Frau inzwischen über historische Fakten informiert ist, die zu sowjetischen Zeiten geleugnet wurden und auch von Rußland heute noch werden. Was vielen Russen fehlt, ist ein Zugang zur eigenen Historie, wie er etwa in Deutschland gepflegt wird. Ohne daß sich ein junger Deutscher selbst schuldig an den Verbrechen der Nationalsozialisten fühlen müßte, sind sich die Menschen der historischen Schuld bewußt. Und so feiern gerade die jungen Russen zunehmend den 9. Mai, also das Kriegsende. Makarov fügt hinzu, es sei eben schwierig, sich psychologisch mit Lettland zu identifizieren angesichts der Erfordernis einer Geschichts- und Sprachprüfung für die Einbürgerung und eines Bildungsgesetzes, welches seit wenigen Jahren den Unterricht auf Lettisch auch in einigen anderen Fächern vorsieht.
Marina Kosteņecka pflichtet dem bei und weist darauf hin, daß nunmehr seit 17 Jahren die Russen in Lettland hörten, sie seien Okkupanten, auch wenn sie im Lande geboren wurden. Aus diesem Grunde suchten sie nach ihren Wurzeln. In dem Moment, wo Rußland die Zeit der Erniedrigung hinter sich gelassen habe und bei den Osseten als Schutzmacht auftrete, fühle man sich dieser Kultur eher zugehörig.
Dabei sei es heute gar nicht erforderlich geopolitisch oder militärisch zu denken. Der ökonomisch Einfluß genüge. Jūrmala gehöre bereits den Russen, die Verkäufer seien Letten. Frau Kosteņecka, die in Riga geboren wurde, sagt, wäre sie an der Macht, würde sie sofort die antirussische Propaganda unterbinden und viel mehr auf jene Russen in Lettland hinweisen, die im Lande etwas produzierten, ihre Steuern bezahlten. Andernfalls werde die Spaltung der Gesellschaft tiefer. Die Regierung müsse nun Brücken bauen, aber sie befürchte, das es bereits zu spät sei.
Makarovs unterstützt diese Meinung und erklärt, die Regierung sollte nicht die Sympathien für Rußland bekämpfen, sondern statt dessen die negativen Einstellungen gegenüber Lettland. Immerhin habe es auch während der jüngsten Krise genügend Russen in Lettland gegeben, die nicht mit der russischen Flagge durch die Straßen gelaufen sind.
Fakt ist gleichzeitig, daß der Wunsch nach Einbürgerung sinkt, so berichtet auch das lettische Radio. Hinzugefügt werden müßte wohl, daß es sich auch ohne Staatsbürgerschaft in Lettland leben läßt – wie der Autor dieser Zeilen – mit der einzigen Konsequenz, daß die Teilnahme an Wahlen nicht möglich ist. Mit dem lettischen Paß wiederum sind Reisen nach Rußland schwieriger als mit einem russischen.
[1] Das war die Union aus Polen und Litauen.
[2] Darüber gibt es einen ausführlichen weiteren Beitrag.

Montag, 15. September 2008

Referdumania

Lettland steht unter dem Eindruck einer Referendumanie. Nicht daß die Bürger dieses Landes so häufig an die Urnen gerufen würden wie etwa in der Schweiz. Aber im Gegenteil zu Deutschland ist es in Lettland möglich, die Bürger über eine konkrete Frage abstimmen zu lassen.
Dabei ist Referendum nicht gleich Referendum. Die Abstimmungen unterscheiden sich darin, wer sie in welcher Form initiieren kann, über welche Fragen abgestimmt wird als auch bei der Mindestbeteiligung, die für eine Gültigkeit des Ergebnisses erforderlich ist.
Referendumanie deshalb, weil allein innerhalb der letzten gut zwölf Monate drei der insgesamt sieben Referenden seit Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1991 stattgefunden haben. Und die drei Urnengänge haben eine Gemeinsamkeit: ihr Ergebnis bleibt unberücksichtigt, weil die vorgesehene Beteiligungsquote nicht erreicht wurde. Da bei den sieben Referenden auch die zwei wichtigen über die Unabhängigkeit selbst sowie den Beitritt zur Europäischen Union mitgezählt werden, sind innenpolitisch interessant vor allem jene, die aus der Mitte des Volkes angeregt wurden.
Dabei handelt es sich juristisch nicht um die Initiative eines Referendum. Vielmehr ist diese Form der direkten Demokratie zunächst eine Gesetzesinitiative. In Lettland kann die Bürgerschaft mit den Unterschriften von 10.000 Wahlberechtigten das Parlament zwingen, einen konkreten Gesetzentwurf zu debattieren. Die Eingabe darf auch den Verfassungstext betreffen.
Die drei Referenden der letzten zwölf Monate unterscheiden sich jedoch in den eingangs Kriterien.
Der Urnengang von 2007 wurde angeregt, indem die damalige Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga von ihrem verfassungsmäßigen Recht gebraucht machte, die Ausfertigung eines verabschiedeten Gesetzes auszusetzen, um der Bevölkerung die Gelegenheit zu geben, die erwähnten 10.000 Unterschriften zu sammeln. 2007 hatte die Präsidentin Vorbehalte gegen die Novelle des Gesetzes über die Nationale Sicherheit.
Der Zentralen Wahlkommission werden im Zusammenhang mit der geringen Wahlbeteiligung die Termine der Ausrichtung vorgeworfen. 2007 war es der 7. Juli, also 07.07.07, ein Datum, an welchem viele junge Paare heirateten, da es sich zudem, wie gesetzlich für Abstimmungen vorgeschrieben, um einen Samstag handelte, und daher mitsamt der Verwandtschaft auf einen Besuch des Wahllokals verzichteten. Damals jedoch hatte sich der Gegenstand des Urnenganges bereits erledigt, weil die Regierung im vorauseilendem Gehorsam das Gesetz schon wieder zurückgenommen hatte.
Andererseits sind der Zentralen Wahlkommission aber auch die Hände gebunden. Ein Referendum muß in einer gesetzlich festgelegten Frist nach Einreichen der Unterschriften stattfinden. 2008 müssen sich daher die Initiatoren der Referenden selbst Populismus vorwerfen lassen, schließlich hatten sie die Entscheidung darüber, wann sie die Unterschriftenlisten einreichen. Angesichts der lettischen Besonderheit, daß die Bürger– auch bei Parlamentswahlen – in jedem beliebigen Wahllokal abstimmen dürfen, was durch einen Stempel im Paß gekennzeichnet wird, kontert die Zentrale Wahlkommission nicht zu Unrecht, daß sie keinen Einfluß darauf hat, für wie wichtig die Bevölkerung das konkrete Referendum hält.
Die Initiatoren müssen sich außerdem die Frage gefallen lassen, wie populistisch die Urnengänge ob ihres Gegenstandes waren. Mit dem einen wollte man den Gesetzgeber auf eine Mindestrentenhöhe festlegen. Das andere, wichtigere Referendum sollte inskünftig den Bürgern die Möglichkeit geben, ebenfalls per Referendum, das Parlament aufzulösen.
Diese Idee wurde freilich im Zusammenhang mit dem Referendum von 2007 geboren, das kurz nach der Wahl des neuen Präsidenten folgte. Die Regierung unter Ministerpräsident Kalvītis hatte sich nicht nur in den Augen der Präsidentin, sondern auch nach Meinung der Bevölkerung als selbstherrlich herrschende Oligarchen-Clique diskreditiert.
Gegen das Referendum über die Rentenfrage regte sich Widerstand auch unter Rentnern, die es für ungerecht hielten, daß die Höhe der Bezüge nun plötzlich nicht mehr abhängig davon sein sollten, ob jemand im Leben faul oder fleißig war. Dies, obwohl es außer Frage steht, daß die Renten in Lettland gering sind und für viele Rentner das alltägliche Leben deshalb äußerste Sparsamkeit verlangt.
Für die Möglichkeit, das Parlament durch ein Referendum auflösen zu können, votierten eine überwältigende Mehrheit von mehr als 90% der Wähler, die den Weg an die Urnen gefunden hatten. Dieses Ergebnis ist auf die erwähnte Unzufriedenheit zurückzuführen, aber auch auf die bisherige Regelung, nach welcher der Präsident die Auflösung des Parlaments gar nur anregen kann, darüber aber dann – und jetzt werden die lettischen Verfassungsfragen kompliziert – eben ein Referendum stattfinden muß. Dieses kostet entweder die Parlamentarier ihren Stuhl oder aber den Präsidenten selbst. Amtsinhaber Valdis Zatlers, welcher nun 2007 gegen den Willen der Bevölkerung von der unbeliebten Regierung Kalvītis installiert worden war, hatte sich aber nach den Demonstrationen im vergangenen Herbst nicht angeschickt, von seinem verfassungsmäßigen Recht Gebrauch zu machen.
Den Vorwurf des Populismus müssen sich die Initiatoren dennoch gefallen lassen, denn trotz der hohen Zustimmung unter den abgegebenen Stimmen beteiligten sich auch an diesem Referendum nicht genügend Bürger. Angesichts der größeren Wichtigkeit einer Verfassungsänderung sieht das Gesetz aber auch höhere Hürden vor. Müssen für die Gültigkeit einer Volksabstimmung üblicherweise wenigstens halb so viele Wahlberechtigte teilnehmen wie bei den vorhergegangenen Parlamentswahlen, so hätte in diesem Fall wenigstens die Hälfte der Wahlberechtigten insgesamt abstimmen müssen.
In einer Demokratie, zumal in einem kleinen Staat wie Lettland, gibt es keine demokratietheoretischen Einwände gegen Referenden. Die verfassungsmäßig vorgesehenen Rechte aktiv zu nutzen, ist ebenfalls positiv zu bewerten. Dabei sollte die Gefahr abgewandt werden, via Volksabstimmungen den Versuch einer Umsetzung von idealistischen Zielen zu verwirklichen. Aus dem Umstand, daß die erwähnten Referenden nicht genügend Zuspruch unter den lettischen Bürgern gefunden haben, ließen sich zwei Schlüsse ziehen. Entweder ist dies ein Zeichen für eine ins Bodenlose gehende Politikverdrossenheit, oder aber die Menschen haben verstanden, daß mit Populismus nichts zu bewerkstelligen ist.

Aktuelle Probleme postsozialistischer Länder. Das Beispiel Lettland

Dieses Buch über Lettland erschien bereits vergangenes Jahr. Abrufbar als pdf hier. Der Inhalt:

Vorwort

Einleitung

Lettland im Überblick
Axel Reetz

Eigenheiten der Entstehung der politischen Parteien in Lettland.
Schwankungen der Wählerunterstützung
Māris Ginters

Soziales Kapital und Wohlfahrtsorganisationen
Signe Grūbe

Probleme der Entwicklung einer Zivilgesellschaft
Simona Gurbo

Allgemeiner Aspekt des Menschenhandels
Sintija Langenfelde

Parlamentarische Kontrolle über die Regierung
Ilze Siliņa-Osmane

Der Wähler im Wunderland
Axel Reetz / Veiko Spolītis

Lettland, eine weibliche Gesellschaft? Mythos und Tatsachen
Axel Reetz / Veiko Spolītis

Gesellschaftliche Partizipation bei politischen Entscheidungen in Lettland
Velta Mazūre

Kulturschock – Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Einstellungen
zur „Wende“ in den neuen Bundesländern und Lettland
Evija Rimšāne

Tendenzen der Wirtschaftsentwicklung
Irīna Čurkina

Wechselwirkung von Staat und Diaspora
Andrejs Berdņikovs

Wohlstand bedeutet auch saubere Umwelt
Alda Ozola-Matule / Jānis Brizga / Ojārs Balcers / Andris Junkurs

Öffentliche Homosexuelle und die Reaktion der Gesellschaft
Baiba Blūzma

Ethnische Zusammensetzung und historische Voraussetzungen
Ilmārs Mežs

Transparenz der Eigner im Mediensektor.
Erfahrung in Lettland und Europa
Ainārs Dimants

Die Sehnsucht des „Volkes” nach einer unschuldigen Politik
Axel Reetz / Veiko Spolītis

Gegner der Unabhängigkeit wieder frei – lettischer KP-Funktionär
Alfrēds Rubiks verbüßte sechs Jahre wegen Putschversuchs
Axel Reetz

Tanz mit drei Damen – den lettischen Komponisten Imants Kalniņš
kennt daheim jedes Kind
Axel Reetz