Mittwoch, 24. September 2008

Zynismus des Zynismus-Vorwurfes

Duch zwei Beiträge über Estland bin ich 2007 auf das Eurasische Magazin aufmerksam geworden. Beide Artikel hielt ich für oberflächlich und einseitig, was ich damals auch an dieser Stelle bereits kommentiert habe. Das waren der Text von Ulrich Heyden über den Bronzesoldaten in Tallinn und die Reiseeindrücke aus Estland von Tobias Mindner, die m.E. herzlich wenig mit Estland zu tun hatten. Im Zusammenhang mit dem Kaukasuskonflikt gab es wieder Beiträge im Eurasischen Magazin, darunter erneut von Ulrich Heyden, die, von Ausnahmen abgesehen, eine starke Rußlandfreundlichkeit zum Ausdruck bringen. Dies betrifft ganz besonders den Artikel von Kai Ehlers.
Ich habe daraufhin an die Redaktion geschrieben:

Von: Dr. Axel Reetz [mailto:reetz@lanet.lv]
Gesendet: Freitag, 5. September 2008 10:36
An: info@eurasischesmagazin.de
Betreff: Ihre Berichterstattung rund um Russland
Sehr geehrte Kollegen,
durch einen Beitrag von Herrn Heyden zum Bronzesoldaten vergangenes Jahr wurde ich auf Ihre Publikation aufmerksam, habe Ihren Newsletter abonniert und verfolge nun die Texte.
Als Im Baltikum lebender Politologe habe ich selbstverständlich großes Interesse an der Berichterstattung in Deutschland und bin einstweilen verblüfft, daß außer General a.D. Klaus Naumann eigentlich ausschließlich Georgien verantwortlich gemacht wird. Auch Ihre Berichte sind sehr russophil.
Schon vergangenes Jahr hatte Herr Heyden den Bronzesoldaten nicht in Verbindung gebracht mit Putins Junktim, über die Grenzverträge anläßlich der Feierlichkeiten zum 60. Jahretag des Kriegsendes zu verhandeln, was estnische Nationalisten zu Aktionen veranlaßte, welche die Regierung dort für die Zukunft vereiteln wollte. Will sagen, die Berichterstattung war sehr verkürzt – mein Kommentar.
Jetzt werden den USA geostrategische Interessen vorgeworfen, die sie selbstverständlich haben. Aber Rußland doch auch! Und wollen wir lieber eine Demokratie den Kaukasus kontrollieren lassen oder einen oligarchisch-kapitalistischen Autoritarismus? Sind schon die Diskussionen über Parlaments- und Präsidentschaftswahl in Rußland vor weniger als Jahresfrist vergessen?
Russland war in der Zarenzeit rückstandig (Aufhebung der Leibeigenschaft 1861), die Sowjetunuion brach zusammen, weil die Regierung keine nachhaltige Entwicklung durchführte. Und jetzt passiert genau das gleiche. Die öffentliche Meinung in diesem Land geht auf unfreie Medien zuruck. Aber alles das ist bekannt. Ich frage mich also, warum sich die Berichterstattung auf einen zugegebenermaßen dummen Streich Saakaschwilis beschränkt. Der Konflikt liegt doch viel tiefer.
MfG
Axel Reetz

Die Antwort:
Datums: Fri, 5 Sep 2008 10:58:34 +0200
Sūtītājs: Eurasisches Magazin
To: "Dr. Axel Reetz'"
Temats: AW: Ihre Berichterstattung rund um Russland
PS: Hätte ich sofort realisiert, dass Sie Saakaschwilis blutigen Überfall mit Tausenden von Toten als "dummen Streich" bezeichnen, hätte ich Ihnen wohl nicht geantwortet. Soviel Zynismus. Nein Danke.
HW
Eurasisches Magazin
Die Netzzeitschrift, die Europa und Asien zusammenbringt.
Hans Wagner
Ringstraße 10
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Fax: 08254-1646

Zynismus ist mir weder publizistisch noch privat vorgeworfen worden. Darum habe ich mir die Mühe einer umfangreicheren Antwort gemacht, die Teile des Posts zum Kaukasus wiederholen:

Sehr geehrter Kollege!
Sie warfen mir Zynismus vor. Um sich ein Bild von meiner Sicht der Dinge zu machen, lade ich Sie ein, folgenden Link anzuschauen.
Was Zynismus betrifft, bin ich seit längerem beispielsweise von den Beiträgen des Kollegen Heyden überrascht, der sich sehr kritisch über das Baltikum äußert. So bin ich auch ursprünglich auf das Eurasische Magazin gestoßen. Zunächst, wie bereits erwähnt, war Zynismus Ihre Interpretation meiner Formulierung “dummer Streich” über den Angriff Saakaschwilis auf Südossetien. In einer Mail schreibt man schon einmal salopp. Außerdem besteht wohl kein Zweifel, daß der Schritt sowohl dumm war als auch ein Streich, den er der Diplomatie des Westens gespielt hat.
Aber ich verstehe unter Zynismus doch etwas anderes, nämlich den im Eurasischen Magazin häufig anzutreffenden Umstand, daß einige Autoren sehr einseitig argumentieren.
Da schreibt etwa Kai Ehlers in “Ende der Ohnmacht?”, es ginge in der Berichterstattung nicht um die Nacht vom 7. auf den 8. August, sondern nur um die Frage, wie Rußland reagierte. Das sehe ich anders. Von Journalisten und Politikern wurde der Jahrhunderte alte Hintergrund des Konfliktes überhaupt nicht diskutiert. Das taucht nur in einem Interview mit einem georgischen Oppositionellen bei Ihnen auf. Dazu mein Glückwunsch. Statt dessen geht es immer nur aufgeregt darum, alle Kampfhandlungen müssen eingestellt werden. Das geht sogar so weit, daß selbst der ehemalieg WDR-Intendant Fritz Pleitgen bei Anne Will von den Ängsten der einfachen Bevölkerung in Rußland spricht, ohne gleichzeitig daran zu erinnern, wie sehr erst noch unlängst die Unfreiheit der Medien in Rußland kritisiert wurde.
Ehlers erklärt dann weiter, Gorbatschow und Schewardnadse hätten “gutgläubig” auf die Versprechungen des Westens vertraut, die NATO werde nicht bis an die russicchen Grenzen erweitert. Gutgläubig soll ein Argument sein für was? “The end of history”? Es ist doch naiv anzunehmen, daß sich die Welt nicht mehr verändert. Wie die NZZ schreibt, ist es eben das Komische an Rußland, daß es sich in der Rolle des gefürchteten so richtig wohl fühlt. Ebenfalls bei Anne Will gab deshalb auch der ehemalige US-Botschafter in Deutschland zu bedenken, daß Rußland sich schon selbst die Frage stellen müsse, warum seine Nachbarn alle in die NATO drängten. Zynismus ist es m.E., wenn man den beängstigten Balten die Tür zur Sicherheit zuhält mit dem Argument, man dürfe Rußland nicht ärgern. Und die Steigerung dieses Zynismus ist Ehlers Zitat unter der Zwischenüberschrift “Putins Ziel: Russland als Integrationsknoten Eurasiens”: “Leider gehörte auch die Niederschlagung des tschetschenischen Aufstandes dazu, bei dem Russland sich ausländisches Eingreifen als ‘Einmischung in seine inneren Angelegenheiten” verbat.” Sie sind also der Ansicht, die Formulierung “dummer Streich” ist Zynismus, aber die Bezeichnung zweier jahrelanger Kriege als “Niederschlagung” eines “Aufstandes” ist eine korrekte Beschreibung? Ich erinnere ncoh einmal daran, mein Text war eine kurze Mail, Ehlers Beitrag hingegen ein nach wie vor online stehender Artikel, für den er vermutlich auch ein Honorar von Ihnen erhalten hat!
Die von Ehlers erwähnte Stabilisierung Rußlands durch Putin habe in meinem Blog ebenfalls kommentiert – übrigens durchaus positiv. Bei Kollege Ehlers hingegen fehlt im Hinblick auf die neue Weltordnung und seiner offensichtlichen Gegnerschaft zu George Bush - mit welcher er in jeglicher Hinsicht nicht alleine ist – eine ganz simple Feststellung. Im Falle der USA besteht gewiß eine hochgradige Fragwürdigkeit der Mittel der Politik während der Bush-Administration. Doch während George Bush entsprechend demokratischer Gepflogenheiten abtreten muß und dies auch tut, dient die ebenso geopolitische Interessen vertretende Politik Rußlands einer Oligarchie, die sich keiner inländischen Kontrolle zu unterziehen bereit ist.
Ich finde zynisch, daß die Presse wie auch die öffentliche Meinung in Deutschland sich in Antiamerikanismus suhlen, gleichzeitig aber russisches Handeln ohne Unterbruch verstehen, ja oft sogar entschuldigen.
MfGAxel Reetz

Herrn Wagners Antwort fällt ebenso kurz, wie lakonisch wie auch m.E. eben zynisch aus:
Datums: Sat, 20 Sep 2008 18:26:45 +0200
Sūtītājs: Eurasisches Magazin
To: "'Dr. Axel Reetz'"
Temats: AW: AW: Ihre Berichterstattung rund um Russland
Sehr geehrter Herr Dr. Reetz,
meinen Glückwunsch zu Ihrer offenbar unbegrenzten Zeitfülle. Ich verfüge darüber nicht. Deshalb ziehe ich es vor, mich wieder einem neuen Magazin zuzuwenden. Ich habe in Ihrer Polemik und in den diversen Behauptungen etc. nicht erkennen können, woran sich eine Antwort, die der Klärung von Meinungsverschiedenheiten verpflichtet wäre, substanziell festmachen ließe.
Gruß
Hans Wagner

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