Samstag, 17. November 2007

Lettland in der politischen Dauerkrise

Lettland kommt in jüngster Zeit, ob verschiedener innenpolitischer Ereignisse, die untereinander allerdings in keinem direkten Zusammenhang stehen, nicht zur Ruhe, was die an demokratische Prozesse noch wenig gewöhnte Bevölkerung einstweilen überfordert.
Während der seit der Unabhängigkeit vergangenen 16 Jahre gab es bereits zahlreiche Skandale, wie der Zusammenbruch der größten Geschäftsbank des Baltikums, der Banka Baltija, 1995 und das damit zusammenhängende Verschwinden von drei Millionen Lat (etwa 4,5 Mio. €). Zumeist ging es allerdings wie in diesem Fall um ökonomisch Fragen nicht zuletzt rund um die Privatisierung. 2006 jedoch demonstrierte die politische Klasse im Rahmen des als „Jūrmalgate“ bezeichneten Skandals erstmals ihre nihilistische Einstellung gegenüber demokratischen Verfahren, als per Handygesprächen versucht wurde, im Kurort Jūrmala nahe der Hauptstadt Riga einen politisch genehmen Bürgermeister zu installieren.
Als im Oktober desselben Jahres trotzdem die im Amt befindliche Minderheitsregierung unter Aigars Kalvītis eine knappe Mehrheit gewann – erst der vierte Sieg einer amtierenden Regierung im gesamten postsozialistischen Raum – war dies nur der Schein einer politischen Stabilisierung, denn die Bevölkerung votierte für Kalvītis weniger aus Überzeugung, denn in Ermangelung von Alternativen; die Oppositionsparteien schienen einer Mehrheit der Bevölkerung nicht attraktiver, und erstmalig hatte auch keine beliebte Persönlichkeit unmittelbar vor dem Urnengang eine aussichtsreiche neue Partei gegründet.
Dabei ist in Lettland seit langem bekannt, daß nicht nur hinter einer Partei konkrete Wirtschaftsinteressen stehen. Zwar haben sich die Verbindungen dieser „Oligarchen“ mit „ihren“ Parteien im Laufe der Zeit gewandelt, doch nach wie vor steht der Bürgermeister der wichtigen Hafenstadt Ventspils, Aivars Lembergs, für das Transitbusiness. Politisch arbeitet seine Partei, die nur kommunal auftritt, mit der Listenkoalition aus Grünen und Bauernunion zusammen, die ihn 2006, obwohl er für das Parlament gar nicht kandidierte, sogar als Spitzenkandidaten präsentierte. Bereits damals ermittelte die Staatsanwaltschaft gegen ihn. Lembergs ist vor allem auf dem Lande und besonders bei einfachen Menschen beliebt, weil er Dank des hohen Steueraufkommens in „seiner“ Stadt dort für „Ordnung” gesorgt hat – keine Stadt in Lettland ist adretter als Ventspils.
Hinter der Volkspartei steht wiederum Andris Šķēle, der frühere dreimalige Ministerpräsident, der in der Umbruchphase im Landwirtschaftsministerium arbeitete und ein Imperium in der Lebensmittelindustrie privatisierte.
Als halbwegs unabhängig kann die Neue Zeit gelten, die der ehemalige Nationalbankpräsident, Einars Repše, 2002 gründete. Repše wurde ohne viel eigenes Zutun populär Dank der weitgehenden Stabilität der nationalen Währung, dem Lats. Viele Bürger erkennen allerdings nicht, daß der Nominalwert von 1LVL zu 1,50€ eben auch nur eine nominale Größe ist. Die Verletzung der Aufsichtpflichten seiner Institution im Rahmen des erwähnten Zusammenbruchs der Banka Baltija schadete ihm ebensowenig. Die Partei leidet allerdings gerade unter der oft unberechenbaren Persönlichkeit Repšes, der unter regelmäßiger psychiatrischer Beaufsichtigung steht. Innerparteiliche Konflikte über diese Frage führten im April zu seiner Ablösung im Parteivorsitz. Wenig geändert hat sich an der anti-oligarchischen Rhetorik, was der Neuen Zeit die Zusammenarbeit mit den anderen Parteien erschwert. Bereits vor der letzten Parlamentswahl hatte sie die regierende Koalition verlassen.
Zum Jahreswechsel versuchte nun die Regierung unter Führung der Volkspartei, in aller Stille Veränderungen im Gesetz über die nationale Sicherheit durchzusetzen. Dabei wurde Artikel 81 der Verfassung angewendet, nach dem ein eiliges Gesetz außerhalb der Sitzungsperiode durch die Regierung verabschiedet werden kann Dieses Gesetz fertigte die Präsidentin aber nicht aus und berief sich auf Artikel 72, der ihr den Aufschub um zwei Monate erlaubt, damit die Bevölkerung Unterschriften für ein Referendum sammeln konnte. Erforderlich sind ein Zehntel der Wahlberechtigten, also derzeit etwa 150.000 Unterschriften. Diese Summe wurde mit mehr als 200.000 Unterschriften deutlich überschritten, und das Referendum fand somit statt. Vorher bereits wurde der umstrittene Verfassungsartikel 81 in aller Eile einer Empfehlung des früheren Präsidenten des Verfassungsgerichtes folgend vom Parlament gestrichen.Die Zentrale Wahlkommission mußte schließlich über das Datum für das Referendum im Rahmen der gesetzlich vorgesehenen Fristen entscheiden und entschied, es ginge nur am 30. Juni oder am 7. Juli, wobei die Wahl schließlich auf den zweiten Tag fiel, um den im Ausland lebenden Staatsbürgern genügend Zeit zur Vorbereitung zu geben. Der 7. Juli 2007 hingegen wurde von so vielen Paaren aus Hochzeitstag gewählt, daß das für die Gültigkeit erforderliche Quorum der Beteiligung nicht erreicht wurde.
Diskutiert wurde auch eine Auflösung des Parlamentes. Die Verfassung erlaubt nach Artikel 48 auf Anregung des Präsidenten auch ein Referendum über diese Frage, in dessen Folge bei negativem Ergebnis der Präsident selbst zurücktreten muß. Die sich in den letzten Wochen ihrer zweiten und letzten Amtszeit befindende Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga äußerte sich hierzu negativ, es bestünde kein Bedarf für eine Neuwahl. Die Meinung könnte sich jedoch eventuell ändern, da inzwischen bekannt geworden ist, daß nahezu ein Drittel der 100 Abgeordneten auf der „Gehaltsliste“ des Bürgermeisters von Ventspils stehen. Vīķe-Freiberga, welche öffentlich behauptete, über eine Liste zu verfügen, machte bislang jedoch keine Details.Dies ist insofern von Bedeutung, als die Präsidentin ihre Entscheidungen nur wenige Tage bevor Aivars Lembergs auf dem Weg von Ventspils nach Riga verhaftet wurde, traf. Angeblich habe sich der Gesundheitszustand des Bürgermeisters verschlechtert. Pikanterweise wählte dieser denselben Arzt, in dessen Behandlung sich auch Alexander Lavents, der frühere Chef der Banka Baltija, befindet, dessen Prozeßunfähigkeit über Jahre hinweg immer wieder bestätigt wurde. Lembergs Untersuchungshaft ist unbefristet und wurde nicht nur wegen Fluchtgefahr verfügt, sondern auch, um zu verhindern, daß Lembergs Unterlagen vernichtet oder Zeugen beeinflußt. Sie wurde außerdem seither mehrfach überprüft und bestätigt.
Diese innenpolitischen Erschütterungen finden nunmehr gleichzeitig mit der Diskussion über den Grenzvertrag statt, der mit Rußland zwar bereits seit über zehn Jahren paraphiert ist, aber nie unterschrieben wurde. Strittig ist dabei der Verzicht auf die nach dem Zweiten Weltkrieg von Lettland abgetrennte Region Abrene, die heute weder wirtschaftlich interessant ist, noch leben dort Letten. Die Frage ist vorwiegend von juristischem Interesse, weil an der Grundlage des Friedensvertrages von Riga 1920 nicht gerüttelt werden kann, ohne den Fortbestand eines lettischen Staates, der 50 Jahre wegen der sowjetischen Okkupation handlungsunfähig war, in Frage zu stellen. Dies insbesondere vor dem Hintergrund, daß die Letten im Gegenteil zu Estland 1993 die Zwischenkriegsverfassung wieder reaktiviert haben, um den Fortbestand des 1918 gegründeten Staates zu unterstreichen. In deren Artikel drei ist aber das Staatsterritorium festgelegt, weshalb viele nun behaupten, der Vertrag verstoße gegen die Verfassung. Der Text erwähnt jedoch nur die Regionen und nicht den exakten Grenzverlauf.
Ein großer Teil der erwähnten Aspekte betreffen direkt oder indirekt die Verfassung, was insofern wiederum von innenpolitischer Bedeutung ist, als am 8. Juli die Amtszeit von Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga endet. Für die Wahl eines Nachfolgers sieht die Verfassung aber keinen konkreten Termin vor. Da derselbe Text nur eine absolute Mehrheit der Abgeordneten im Parlament zur erfolgreichen Wahl verlangt, lag Äußerungen des Ministerpräsidenten interpretierend bislang die Vermutung nahe, daß Aigars Kalvītis eine ihm genehme Person zu portieren gedachte. In der Presse wurden über Wochen die verschiedensten Kandidaten gehandelt, und als populär galt der frühere Präsident des Verfassungsgerichtes, Aivars Endziņš, der auch von der in Opposition befindlichen Partei Harmoniezentrum, welches vorwiegend die russische Bevölkerung repräsentiert, portiert wurde.
Mit Sandra Kalniete findet sich jedoch in den Reihen der Neuen Zeit eine anerkannte Kandidatin. Kalniete war als Kind deportiert worden und hat im Gegenteil auch zu den derzeitigen Präsidenten der Nachbarrepubliken Estland und Litauen, ebenfalls während der Sowjetzeit in Lettland gelebt. Sie war Außenministerin und vorübergehend, unmittelbar nach dem Beitritt, EU-Kommissarin, verfügt also auch über außenpolitische Erfahrung.
Eigentlich könnte bei dem erforderlichen Quorum von nur 51 Stimmen eine Mehrheitsregierung bequem ihren eigenen Kandidaten durchbringen. Doch einerseits befindet sich die Union aus Grünen und Bauern nicht zuletzt wegen der Inhaftierung Lembergs in einer Krise, die vermutlich früher oder später den Untergang dieser politischen Kraft nach sich ziehen wird. Andererseits verfügte keine der Koalitionsparteien über einen respektablen Kandidaten.
Die beschriebenen innenpolitischen Turbulenzen wie auch die Tatsache, daß die drei Koalitionspartner kaum zustimmen würden, der Volkspartei von Ministerpräsident Aigars Kalvītis beide wichtigsten Ämter im Staate zu überlassen, ließen eine Wiederholung des Szenarios von 1999 mit der Wahl von Vaira Vīķe-Freiberga als nicht ausgeschlossen erscheinen, als infolge der Unfähigkeit der Koalition, sich auf einen gemeinsamen Kandidaten für die Präsidentschaft zu einigen, die Regierung zerbrach.
Kurz vor der Wahl überraschte dann die regierende Koalition die Öffentlichkeit mit der Nominierung des Mediziners Valdis Zatlers, welcher dann auch entgegen dem Wunsche einer breiten Öffentlichkeit gleich im ersten Wahlgang gewählt wurde. Zatlers hatte sich zu Schulden kommen lassen, was in Lettland gang und gäbe ist, angesichts geringer Saläre unter Ärzten Geldgeschenke von Patienten entgegenzunehmen, deren umstrittene Freiwilligkeit neurlich in der Presse diskutiert wurde. Valdis Zatlers hatte somit als Präsident einen schweren Start, weil er weder als unabhängig noch als integer galt.
Nach der erfolgreichen Bestellung der Regierungskadidaten sorgte der Angeordnete der größten Regierungspartei, der Partei des Ministerpräsidenten, Jānis Lagzdiņš am Fenster des Abgeordnetenhauses für weitere Aufregung, wo er den ausgestreckten Arm mit Faust die andere Hand in den Ellebogen legend zeigte. Es fehlte nur der ausgestreckte Mittelfinger. Angeblich habe er sich an einen konkreten Bekannten vor dem Gebäude wenden wollen, was angesichts der dort versammelten Anhänger Endziņš wenig überzeugend klang.
Im September trug sich ein weiteres aufsehenerregendes Ereignis zu: Der frühere Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes von Parlament und Präsident, Edgars Gulbis, der wegen des Verdachts des Betrugs unter Verwendung gefälschter Dokumente verhaftet worden war, flüchtete angeblich während der Überführung an einen anderen Ort mitten auf der Brücke über die Daugava (etwa so breit wie Elbe oder Rhein), angeblich mit Handschellen gefesselt, aus dem fahrenden Streifenwagen, dem wiederum zufällig der Privatwagen seiner Freundin gefolgt war und sprang die etwa 20 Meter in den Fluß. Die Versionen von Flüchtendem und Polizei sind gleichermaßen wenig überzeugend.
Die politische Krise verschärft sich nunmehr vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Probleme, allem voran der grassierenden Inflation, die mittlerweile im zweistelligen Bereich ist. Ein Streit um die Neubesetzung des Wirtschaftsministeriums und die vom Rehgierungschef angestrebte Entlassung des Chefs der Anti-Korruptionsbehörde, Andrejs Loskutovs, brachten nunmehr im Oktober die Menschen auf die Straße. 5000 Personen demonstrierten am Tag der Entscheidung vor dem Parlament, wo noch zahlreiche Minister ihre Unterstützung von Kalvītis rechtfertigten. Als dann aber der plötzlich der Minister für Regionalpolitik, Aigars Štokenbergs, wegen angeblicher Bemühungen um eine eigene Parteigründung entlassen und in Abwesenheit trotz seiner Funktion als Präsidiumsmitglied sogar aus der Partei ausgeschlossen wurde, trat auch Außenminister Artis Pabriks zurück. Nunmehr sind mitten in der Beratungszeit des Haushaltes 2008 drei Ministerposten vakant, die Bildungs- und Sozialministerinnen, Baiba Rivža und Dagnija Staķe, seit langem in der Diskussion.
Die Frage ist nunmehr, ob Aigars Kalvītis tatsächlich im Interesse der Stabilität des Landes bis zur Verabschiedung des Haushaltes mit einem Rücktritt wartet oder aber eine Angstkoalition aus den unter Korruptionsverdacht stehenden diversen politischen Kräften sich an die Macht klammert. Möglich ist dies, so lange Präsident Zatlers sich nicht dazu entscheidet, was Vīķe-Freiberga vor einem halben Jahr noch abgelehnt hat, die Auflösung des Parlamentes anzuregen. Es kann kaum eine Frage bestehen, daß eine große Mehrheit der Bevölkerung dies begrüßten würde, doch woher sollen nun neue politische Kräfte und Politiker kommen, selbst wenn man davon ausgeht, daß Štokenbergs, und wie manchmal gemunkelt die Expräsidentin, neue Parteien gründen?
Ministerpräsident Aigars Kalvītis hat inzwischen seinen Rücktritt für den 5. Dezember angekündigt, dann wird er drei Jahre die Regierung angeführt haben. Offiziell hieß es, man wolle noch einige wichtige Arbeiten zum Abschluß bringen.

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