Samstag, 17. November 2007

Wie "Die Linke" das Baltikum durch die ideologische Brille sieht

Nachdem im Oktober eine Delegation des Innenausschusses des Deutschen Bundestages durch die baltischen Staaten reiste, veröffentlichte die MdB der Linken, Ulla Jelpke, in der Jungen Welt einen Artikel. Auf diesen Beitrag erhielt Sie von mir folgende Antwort:

Sehr geehrte Frau Jelpke,
der am 17. Oktober.2007 in der Jungen Welt von Ihnen veröffentlichte Beitrag über die baltischen Staaten erwähnt eine meiner Publikationen und auch mich namentlich. Vom Inhalt des Beitrages möchte ich mich distanzieren, weil er sowohl zahlreiche sachliche Fehler beinhaltet, als auch durch die ideologische Brille gefärbt (Ihre Weltanschauung akzeptiere ich als Demokrat) verschiedene Unrechte miteinander aufzuwiegen versucht.
Zunächst zur Staatlichkeit Estlands, Lettlands und Litauen, welche Ihrem Artikel nach auf den Friedensvertrag von Brest-Litovsk und die Perestroika-Politik Gorbatschows zurückgeht. Abgesehen davon, daß Litauen bereits im Mittelalter ein eigenständiger Staat war, der in Union mit Polen durch die drei polnischen Teilungen von Preußen, Rußland und Österreich bis 1795 liquidiert wurde, haben 1918 die Sowjetunion und das deutsche Kaiserreich zwar Frieden geschlossen, Lenin wollte jedoch keineswegs auf die baltischen Länder verzichten. Die dortigen Völker mußten sich etwa zwei Jahre in einem blutigen Freiheitskrieg die 1918 deklarierte Unabhängigkeit erst erkämpfen. Die Finnen wiederholten ihren Widerstand erfolgreich auch im Winterkrieg 1940/41. Es gehört zum Diskussionsgegenstand der Historiker, warum die autoritären Herrscher der baltischen Republiken diesen Schritt nicht gewagt haben.
Auch 1991 entließ nicht Gorbatschow die baltischen Republiken aus der Sowjetunion, ein Recht, was ihnen nach der offiziellen Verfassung sogar zugestanden hätte; Anlaß war vielmehr der Putsch der Gegner Gorbatschows, der das Land so weit schwächte, daß es durch das Engagement von Boris Jelzin aufgelöst wurde, der zur dann die bereits 1990 von den Obersten Sowjets proklamierte – übrigens Wiederherstellung der – Unabhängigkeit der baltischen Länder anerkannte, nachdem sie ein halbes Jahrhundert wegen der sowjetischen Okkupation handlungsunfähig gewesen waren. Bereits ein halbes Jahr vorher hatten die Menschen in Tallinn und Riga nach den Übergriffen in Vilnius die staatlichen Institutionen durch Barrikaden geschützt, ohne zu wissen, ob es zu einer bewaffneten Niederschlagung kommt – ähnlich wie die Montagsdemonstrationen ein Leipzig.
Die baltischen Republiken waren 1940 unabhängige völkerrechtliche Subjekte, die von der Sowjetunion – zunächst mit einer mehr oder weniger erzwungenen Zustimmung der Regierungen – besetzt wurden. Sie behaupten unrichtig, die Bevölkerung habe anschließend in Referenden für den Anschluß an die Sowjetunion votiert. Tatsächlich wurden aber unmittelbar nach dem Einmarsch der sowjetischen Streitkräfte (ähnlich im März 1933 in Deutschland) unfreie Wahlen abgehalten, in deren Folge die neuen Parlamente den Beitritt zur Sowjetunion beantragt haben.
Wenn Sie, anstatt Mutmaßungen über die Vergangenheitsbewältigung der Völker im Baltikum anzustellen, sich ein wenig mehr Zeit für Besuche von Museen genommen hätten, so hätten Sie in Vilnius, einem früheren Zentrum der jiddischen Kultur, das jüdische Museum wie auch die Kerker des ehemaligen KGB-Hauptquartiers besuchen können, außerdem die Okkupationsmuseen in Riga und Tallinn. Darüber hinaus gibt es allein in Riga und Umgebung drei Gedenkstätten für die Ermordung der Juden, das ehemalige Konzentrationslager Salaspils wie auch Rumbula und Biķernieki, wo Juden aus Lettland, aber auch aus Deutschland und den besetzten Gebieten ermordet wurden.
Die Okkupation der baltischen Republiken ist also in drei Zeiträume einzuteilen, eine sowjetische, eine deutsche und dann wieder eine sowjetische, denn die Eingliederung in die Sowjetunion ist zwar angesichts des kalten Krieges zum Leidwesen der in den Wäldern lebenden Partisanen von den westlichen Alliierten hingenommen, aber niemals international anerkannt worden. Damit haben auch die baltischen Republiken völkerrechtlich nicht aufgehört zu existieren. Diese Fakten, die weder an der deutschen noch an der sowjetischen Herrschaft etwas beschönigen sind im Rigaer Okkupationsmuseum ausführlich in mehreren Sprachen, darunter auch Deutsch, beschrieben.
Nichtsdestotrotz, und das hätten Sie mit ein bißchen historischer Lektüre in Erfahrung bringen können, waren die Ideen der Bolschewisten insbesondere in Lettland anfangs gar nicht unpopulär um das Joch der über Jahrhunderte existierenden deutschbaltischen Oberschicht abzuschütteln, die übrigens von den dann gegründeten Nationalstaaten weitgehend enteignet wurden. Während des Freiheitskrieges diskreditierte die Gewaltherrschaft der Regierung Pēteris Stučka allerdings diese Ideologie.
Daß die Völker im Baltikum die Ankunft der deutschen Wehrmacht zunächst als Befreiung empfunden haben, muß gleich vor zwei Hintergründen gesehen werden. Erstens hatten sofort 1940 nach Einmarsch der sowjetischen Truppen die Massendeportationen nach Sibirien begonnen, ein Umstand, den Sie in Ihrem Beitrag geflissentlich vollständig verschweigen, aber zweitens wußten damals weder die dort lebenden Menschen noch die Deutschen vom geheimen Molotow-Ribbentrop-Zusatzprotokoll – darum heißt es ja so. Außerdem darf man auch davon ausgehen, daß der politisch unbedarfte Burger im Baltikum die Schreckensherrschaft der Nazis nicht im Detail kannte.
Übrigens sei am Rande darauf hingewiesen, daß Antisemitismus kein rein deutsches Phänomen ist. Noch heute gibt es Ressentiments gegen Juden in den baltischen Staaten, auch das ist zutreffend. Aber Antisemitismus war auch in der Sowjetunion so wenig etwas Fremdes wie im heutigen Rußland!
Der Vorwurf des Russenhasses im heutigen Baltikum geht entschieden über die gesellschaftlichen Realitäten hinaus und ist in Ihrem Beitrag vermengt mit zahlreichen Fehlern, aber auch offensichtlicher Unkenntnis bezüglich der Staatsbürgerschaftsfrage. Litauen hatte so wenig Migranten aus der Sowjetzeit, daß sie in der Staatsbürgerschaftsfrage eine Null-Losung durchführen konnten. Über Lettland wird in zahlreichen internationalen (leider auch wissenschaftlichen) Publikationen immer wieder die russische Bevölkerung mit Staatenlosen gleichgesetzt. Da sich die Bevölkerung Lettlands nicht zuletzt wegen der historischen Dreiteilung des heutigen Staatsterritoriums von 1629 bis 1918 schon früher aus verschiedenen Nationalitäten zusammensetzte, sind nur etwa 40% der nicht lettischen Bevölkerung staatenlos. Dabei entscheiden sich viele Russen nicht wegen der Sprach- und Geschichtsprüfungen gegen die Einbürgerung, sondern aus praktischen Erwägungen. Mit dem Staatenlosenpaß ist die Reise in den Westen nahezu gleich einfach wie mit einem normalen Paß. Hingegen müßte den russischen Botschaften und ihrem Staat vorgeworfen werden, daß sie mit ihrer Visapolitik ihre eigenen Leute diskriminieren, welche die estnische respektive lettische Staatsbürgerschaft besitzen.
Aber auch sonst kann im Alltag von drastischen Konflikten nicht gesprochen werden, so gab es im Gegenteil zu Deutschland etwa keine gewalttätigen Übergriffe gegen die Migranten, auch nicht in der noch emotional aufgeladenen Anfangszeit nach der Unabhängigkeit. Schon lange haben sich die Emotionen wieder beruhigt und wie zu sowjetischer Zeit wechseln in einer größeren Gesellschaften Letten üblicherweise sofort in die russische Sprache, wenn ein Russe hinzustößt, der kein Lettisch spricht. Lettland nimmt auch nach wie vor einen Spitzenplatz bei gemischten Ehen ein. In Estland sieht die Situation aus zwei Gründen etwa anders aus: erstens ist Estnisch eine finno-ugrische Sprache, weshalb das Erlernen der jeweils anderen Sprache für beide Seiten schwieriger ist und zweitens leben die Russen in Estland konzentrierter. Einwohner der früher als Sperrgebiet geltenden Inseln beispielsweise haben im Alltag keine Begegnungen mit Russen gehabt. Ähnliches gilt auch für viele Menschen, die in Litauen auf dem Land leben.
Die Ausschreitungen in Tallinn im Frühjahr 2007 scheinen dem zu widersprechen; auch in den deutschen Medien wurde intensiv über ethnische Spannungen in Estland berichtet, nicht aber über den Hintergrund der politischen Entscheidung der Umsetzung. Ein Jahr lang hatte nämlich die estnische Polizei das Denkmal nach einem Versuch der Schändung vor estnischen Nationalisten schützen müssen, und dem folgte eine lange öffentliche Diskussion, in deren Folge unter aller Pietät die tatsächlich entdeckten zwölf Särge inklusive des Denkmals auf den Soldatenfriedhof umgesetzt wurden, dorthin, wo sie in jedem anderen Staat ebenfalls sind. Allein wurde die Gelegenheit von angetrunkenen russischen Jugendlichen als Anlaß zu Randale gesehen, die wenig politischen Hintergrund hatte, und das wird auch von den meisten estnischen Russen so gesehen.
Ihren Ausführungen zu Folge müssen die Russen „im eigenen Land“ Prüfungen zur Einbürgerung ablegen. Die betroffenen sind aber nur dank der Ansiedlungspolitik unter Fremdherrschaft ins Land gekommen, sind also gar nicht im eigenen Land. Dabei hat die Diktatur neben den Fremden auch gleich den baltischen Republiken ihre Sprache aufgezwungen, also das Selbstbestimmungsrecht der Völker ganz grundlegend verletzt. Die Sowjets haben die baltischen Staaten de facto annektiert und die demographische Situation durch massive Zuwanderung verändert. Diese Menschen stammen nicht aus Lettland und Estland, kennen dessen Kultur und Geschichte nicht und haben sich nie die Mühe gemacht, eine Grußformel oder ein Dankeswort in der Landessprache zu erlernen, von deren Verunglimpfung einmal ganz abgesehen. Für ein berufliches Fortkommen war die Kenntnis der russischen Sprache erforderlich, zumal im Infrastrukturbereich nur Migranten arbeiteten. Noch 1993 war es kaum möglich, am Rigaer Hauptbahnhof eine Fahrtkarte in lettischer Sprache zu erwerben, ohne sich Hasstiraden anhören zu müssen – und selbstverständlich nicht verstanden zu werden.
Die OSZE unterhielt von 1993 bis 2001 Missionen in Estland und Lettland, welche die nationalen Regierungen bei den Beratungen über die Gesetzgebung unterstützt hat. Alle Gesetze sind von der internationalen Gemeinschaft akzeptiert und beide Länder Mitglied aller internationalen Organisationen. Inzwischen gilt bei Neugeborenen das Territorialprinzip in der Staatsbürgerschaft, welches auch Deutschland erst 2000 eingeführt hat.
Von welchem Mißerfolg der Westintegrierung Sie sprechen, ist mir unverständlich. Der Vorwurf einer antirussischen Politik kann nur von jemandem stammen, der z.B. verkennt, daß die seit über zehn Jahren paraphierten Grenzverträge mit Rußland, in denen Estland und Lettland alle Grenzabtrennungen aus der sowjetischen Zeit akzeptiert haben, bis heute durch Rußland blockiert wird. Die langen LKW-Schlangen vor den Grenzen nach Rußland gehen auf die Arbeit des russischen Zolls zurück.Zur wirtschaftlichen Fragen hätten Sie ein wenig mehr sagen können, denn hier gibt es genügend Kritikpunkte, etwa daß die Regierung Lettlands sich vollkommen lakonisch zur Inflation stellt und zu den Aspekten, die dieser zugrunde liegen. Daß Ernüchterung vorherrscht, kann man nicht behaupten, wenn man auch, gerade in der älteren Generation, eine Verklärung der Vergangenheit antreffen kann.
Einzig richtig zitiert werde ich damit, daß das Parteiensystem in den baltischen Ländern nicht mit dem westlichen vergleichbar ist. Angesichts dessen Unübersichtlichkeit scheitern Sie jedoch sehr schnell mit einer Beschreibung und verwechselt die Diskussion über die Aufhebung der Deckelung bei den Wahlkampfausgaben, welche die Parteien der Oligarchen begünstigen wurde, mit einer Diskussion über Staatliche Parteienfinanzierung, die in Lettland eben leider nicht stattfindet.
Ihre Kommentare zum Parteiensystem und dem Fehlen sozialistischer Alternativen zeigt, daß Sie sich mit postsozialistischen Gesellschaften nicht beschäftigt haben. Bereits Duverger hatte in den 50er Jahren die Frage gestellt, woher Parteien kommen, Lipset und Rokkan die gesellschaftlichen Cleavages ein Jahrzehnt später aufgezeigt. In einer über ein halbes Jahrhundert künstlich nivellierten Gesellschaft konnte es aber keine Milieus geben, aus den soziale Bewegungen entstehen, die sich später zu Parteien formieren, die Menschen können mit „Werten“ wie liberal, konservativ oder ähnlichem nichts anfangen. Also kann es auch kein solches Parteiensystem geben wie im Westen (meine Dissertation zum Thema finden Sie in der Bundestagsbibliothek). Alles was mit dem Wort „sozial“ zu tun hatte, war wegen der sozialistischen Vergangenheit überdies verpönt, auch wenn es zutreffend ist, daß ein großer Teil der Bevölkerung sozialdemokratisch orientiert ist. Nach Jahrhunderten der Unterdrückung aber wurde dieser Cleavage durch den nationalen überlagert.
Mit Ihren Ausführungen verniedlichen Sie m.E. die Verbrechen der Sowjetunion, die sich zur Durchsetzung ihrer Ziele ja auch nicht zu schade war, mit den von Ihnen gescholtenen Nazis zusammenzuarbeiten und Pakte abzuschließen. In meinem Verständnis begibt sich eine Argumentation, welche vor den Folgen der Sowjetherrschaft die Augen verschließt, auf ein Niveau mit jenen, die auch die Untrennbarkeit verschiedener Facetten einer Gewaltherrschaft nicht erkennen und bis heute meinen, Hitler wäre ein guter Mann gewesen, hätte er die Juden nicht ermordet.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Axel Reetz

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