Samstag, 16. Februar 2008

Das Baltikum

Ich bitte zu bedenken, daß dieser Beitrag keine gehobene baltische Geschichtslehrstunde darstellt, sondern Touristen informieren soll, die über die baltischen Staaten überhaupt noch nichts wissen. Viele Informationen sind darum bewußt allgemein gehalten und es wird auf zu viele Namen und Jahreszahlen verzichtet, die sich im Bus ohnehin niemand merken kann.

Das Baltikum – dieser Begriff begegnete mir in der Kindheit zunächst in der Wettervorhersage der ARD-Tagesschau mit einem Hoch oder einem Tief über dem Baltikum. Nach der Unabhängigkeit, dem Beitritt zur NATO und EU sind die Länder, die während der 50 Jahre dauernden Eingliederung in die Sowjetunion in Vergessenheit geraten waren, zwar wieder in aller Munde, doch die meisten tun sich mit einer Einordnung schwer. Und in welcher Reihenfolge liegen sie da an der Ostseeküste? Für den deutschen Muttersprachler ist das eigentlich ganz einfach: Von Norden nach Süden in alphabetischer Reihenfolge Estland, Lettland und Litauen.
Nichtsdestotrotz ist das Wissen über die Staaten des Baltikum beschränkt. Welches Land hatte noch einmal welche Hauptstadt? Ich habe mal wochenlang auf einen Brief gewartet, den eine immerhin in Beziehung mit Litauen stehende Organisation mir aus Deutschland zu schicken versprochen hatte, als sich später herausstellte, daß der nach Riga in Litauen gesandt worden war. Aber auch sonst, wenn ich während der 90er Jahre in Deutschland gesagt habe, ich lebe in Estland, dann kam häufig die Rückfrage, „wie? In Island?“ Es wird auch berichtet, daß Lettland regelmäßig mit Lappland verwechselt wird. Einmal habe ich sogar gehört, daß Bekannte einer ins Baltikum reisenden jungen Dame verwundert meinten, da werde doch geschossen. Sie hatten das Baltikum mit dem Balkan verwechselt. Auf die Frage, ob man dort Russisch spricht, antwortete ich immer bestätigend, mußte jedoch oft erklären, daß diese Sprache nicht die Landessprache in den drei Republiken ist.
Zwar weiß man inzwischen in Deutschland schon mehr, doch das Ziel meiner Reiseleitung ist darzulegen, daß die baltischen Länder zwar kleine benachbart liegende Territorien sind, aber doch sehr verschieden, also die baltischen Staaten gar nicht die baltischen Staaten sind. So gibt es allein für den Begriff zwei etymologische Ursprünge.
Zum einen hat sich diese Bezeichnung in Ableitung vom lateinischen Namen der Ostsee, Mare Balticum, im Deutschen im 19. Jahrhundert erst eingebürgert. Die Letten und Litauer sagen übrigens ebenso wie im Englischen Baltisches Meer. Die Esten hingegen nennen es im Grunde wenig überraschend im Gegenteil zum deutschen Namen Ostsee „Läänemeri“, das bedeutet Westmeer.
Der zweite Aspekt ist, daß die Letten und Litauer die beiden letzten übrig gebliebenen Völker der baltischen Untergruppe der indo-europäischen Stämme sind, während die für Preußen seinerzeit namensgebenden Pruzzen sich in Deutschland assimiliert haben. Die Balten sind also weder germanischen Völker noch Slawen. In Europa gehören zu den indo-germanischen Völkern fast alle außer den Finnen, Esten und Ungarn. Diese sind finno-ugrische Völker, deren weitere Verwandte einige eher kleine Volksgruppen in der russischen Föderation sind.
Unübersichtlich wird das Baltikum bei einem Blick in die Geschichte, denn wenn auch Letten und Litauer verwandt sind, so verbindet das historische Geschehen der letzten etwa acht Jahrhunderte die Letten mit den Esten; sie wurden Ende des 12. Jahrhunderts im wesentlichen von den deutschen Ordensrittern nach den gescheiterten Missionen im Heiligen Land im Auftrage des Papstes unterworfen.
Die im Baltikum lebenden Völker waren den Rittern nicht nur militärisch unterlegen, sie hatten keine Metallschwerter und Steinburgen. Generell waren sich die Stämme untereinander in den baltischen Staaten nicht friedlich gesonnen, es hatte sich kein mittelalterliches Staatswesen entwickelt. Das heutige lettische Volk ist aus verschiedenen Stämmen erst spät zusammengewachsen, darunter die namensgebenden Lettgallen, aber auch die baltischen Kuren, nach denen die Kreuzritter den heutigen Westen des Landes benannt haben. Livland, der südliche Teil des heutigen Estlands und der nördliche Teil des heutigen Lettlands verdankt seinem Namen dem finno-ugrischen Volk der Liven, die sich im laufe der Jahrhunderte assimilierten. Mindaugas gelang zwar im 13. Jahrhundert die Einigung des litauischen Volkes, dessen erster König er wurde, doch blieb er auch der einzige, wie die Litauer gerne witzeln. Seine Landsleute waren nämlich von der politischen Neuerung wenig begeistert und ermordeten ihn nach zehn Jahren Regentschaft.
Trotzdem blieb Litauen ein mächtiges Großfürstentum, das lange und erfolgreich gegen die Kreuzritter kämpfte und sich als die letzte Nation Europas das Heidentum bewahrte. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß im 14. Jahrhundert der Großherzog dann aus eigenen Stücken zum Katholizismus übertrat, um die polnische Königin Jadwiga (Hedwig) zu heiraten und ein gemeinsames Großreich zu begründen. Heute ist der Katholizismus in Litauen sicher ähnlich wichtig wie in Polen.
Diese Machtkonstellation blieb für gut drei Jahrhunderte maßgebend. Während der dänische König Waldemar das im Auftrag des Papstes eroberte Estland (der nördliche Teil des heutigen Staates) schon im 13. Jahrhundert an die Kreuzritter verkaufte, standen diese im Süden im ständigen Konflikt mit den Litauern, gegen die sie in der bekannten Schlacht bei Tanneberg 1410 im Verbund mit Polen eine empfindliche Niederlage erlitten, was den Anfang vom Ende des Ordensstaates einläutete, der eine Konföderation aus Ordens- und Bischofsländereien war. Den Kreuzrittern gelang es nie, ihre südlichen und nördlichen Territorien miteinander zu verbinden.
Während die Litauer so unabhängig blieben und erst später durch die drei polnischen Teilungen unter den umgebenden Großmächten aufgeteilt wurden, begann eine Zeit der deutschen Prägung in Estland, Livland und Kurland. Den Rittern folgten zahlreiche Händler, Städte wie Reval und Riga, aber nicht nur, gehörten der Hanse an. Für einen sozialen Aufstieg war damals de facto eine Germanisierung unumgänglich. In der vom Schwedenkönig Gustav II. Adolf 1632 gegründeten Universität Dorpat wurde bis zum Ersten Weltkrieg auf deutsch gelehrt.
Diese Situation auf dem Territorium des heutigen Estlands und Lettlands änderte sich grundlegend mit der Reformation, die in den baltischen Ländern von den Hanseaten sehr begrüßt wurde, um das Joch der Kirche abzuschütteln. Jetzt begannen auch die ersten Geistlichen, in der Sprache der Bauern zu predigen, Katechismus und Bibel wurden in die Landessprachen übersetzt.
Gleichzeitig blieb das Baltikum politisch unruhig, weil die umgebenden Mächte Begehrlichkeiten hatten. Während des großen Livländischen Krieges im 16. Jahrhundert konnte Schweden mit Unterstützung des polnisch-litauischen Staates seine Vormachtstellung ausbauen und besiegte Rußland. Die Territorien Estlands und Livlands kamen nach der Auflösung der Livländischen Konföderation 1561 an Schweden, Kurland wurde als polnisches Lehen selbstständig. Dieser Staat war im den folgenden zwei Jahrhunderten wirtschaftlich erfolgreich, es gab sogar zwei Kolonien, die allerdings wohl nur gekaufte Territorien waren ohne Siedler aus dem Mutterland. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts folgte schließlich der Nordische Krieg, in dem Rußland über Schweden obsiegte und auch dessen Besitzungen im Baltikum einnahm. Die dritte polnische Teilung brachte 1795 das gesamte Territorium der heutigen baltischen Staaten unter zaristische Herrschaft.
Zunächst erhofften sich die Menschen eine Verbesserung Ihrer Lage im Kampf gegen die deutsche Oberschicht. Es stellte sich jedoch schnell heraus, daß der Zar eher eine Russifizierungspolitik betrieb. Somit hatten seit der Aufseglung zwar die herrschenden Mächte mehrfach gewechselt, es gab zwar immer wieder mal positive mal negative Veränderungen für die einfache Bevölkerung, aber die Privilegien der Deutschen waren immer wieder weitgehend bestätigt worden, sie waren wichtige Politiker und Militärs unter ihren jeweiligen Landesherren..
Erst Ende des 19. Jahrhunderts entstand die Bewegung des nationales Erwachens. Bis dahin hatte es keine eigene Literatur gegeben, selbst Esten und Letten waren vielfach der Ansicht, ihre Sprachen seien keine Kultursprachen. Nun aber begannen die ersten Dichter und Schriftsteller zu publizieren, die Nationalepos wurden verfaßt. 1869 und 1873 fanden in Estland und Lettland die ersten allgemeinen Sängerfeste statt. Der lettische Journalist Krišjānis Barons begann, die Volksweisen „Dainas“ zu sammeln – heute das „Nationalheiligtum“ der Letten.
Mit der Oktoberrevolution begannen die baltischen Aktivisten für ihre Unabhängigkeit zu kämpfen, während die sogenannten Weißen unter Bermondt den Erhalt des russischen Reiches mit Waffengewalt erstrebten. Dabei stellten die Esten erfolgreich nationale Streitkräfte auf, die gegen die junge Rote Armee siegten und fast bis St. Petersburg kamen. In Lettland war die Situation schwieriger, weil hier viele Menschen Anhänger der Kommunisten waren. Zeitweilig gab es drei Regierungen: eine kommunistische, eine nationale und auch eine von deutschen Einheiten unterstützte. Die Entente Mächte hatten nämlich die Deutschen trotz der Niederlage im Ersten Weltkrieg gebeten, das Baltikum im Kampf gegen den Bolschewismus nicht zu verlassen. Aber erst mit estnischer Hilfe gelang es später, das Land zu befreien.
Estland, Lettland und Litauen konstituierten sich als Demokratien, die aber unter den gleichen Problemen litten, wie andere Staaten in dieser Zeit. So folgten 1926 in Litauen und 1934 in Estland und Lettland Putsche und autokratische Regime. Wichtig für die einheimische Bevölkerung war die fast Entschädigungslose Enteignung der deutschen Großgrundbesitzer gleich nach der Unabhängigkeit, die viele deutsche Familien bereits vor der Umsiedlungsaktion Hitlers 1939 nach Deutschland übersiedeln ließ. Für viele Menschen in den baltischen Ländern gelten bis heute die 30er Jahre als goldene Zeit, weil sie auch wirtschaftlich eine Erholung brachte. Lettland war beispielsweise ein großer Exporteur von Butter.
Es waren der Hitler-Stalin Pakt und das geheime Zusatzprotokoll, die Estland, Lettland und Litauen der sowjetischen Interessensphäre zuordneten. Unter dem Vorwand einer Vertragsverletzung marschierte die Rote Armee 1940 ein. Es folgte ein erstes Jahr des Terrors, das abgelöste wurde durch die Okkupation durch die Wehrmacht. Zu einem Zeitpunkt, als die Schrecken der Sowjets bereits allen bekannt waren, verwunderte es weniger, daß die Deutschen von weiten Teilen der Bevölkerung als Befreier gesehen wurden. Nichtsdestotrotz wurden die Juden im Baltikum, die hier das Zentrum der jiddischen Kultur in Vilnius hatten, von den Nationalsozialisten zum größten Teil ermordet. Als 1944 die Rote Armee zurückkehrte, gingen viele junge Männer als Partisanen in die Wälder. Die Sowjetunion reagierte darauf mit neuerlichen Deportationen gerade unter der Landbevölkerung, um den Partisanen die Rückzugsmöglichkeit zu erschweren und den Widerstand gegen die Kollektivierung zu brechen.
Nach Stalins Tod normalisierte sich die Lage, einzig wurden in den folgenden Jahren so viele Menschen aus anderen Sowjetrepubliken angesiedelt, daß die Letten im eigenen Land beinahe zu Minderheit wurden. Nach der Machtübernahme von Gorbatschow mit seiner Reformpolitik formierte sich dann der Widerstand. 1988 konnten Volksfronten und Unabhängigkeitsparteien gegründet werden. Zum 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes bildeten die Menschen mit dem sogenannten „Baltischer Weg“ eine Menschenkette über 600 Kilometer von Tallinn über Riga nach Vilnius. Die neuerliche Unabhängigkeit erlangten die baltischen Republiken schließlich in Folge des Augustputsches 1991 in Moskau, nachdem noch im Januar desselben Jahres bei der Erstürmung des Fernsehturmes in Vilnius und des Innenministeriums in Riga zahlreiche Menschen ihr Leben verloren hatten.
Seither ist die Zusammenarbeit der baltischen Staaten eingeschränkt durch einen zunächst verständlichen Wunsch nach Eigenständigkeit. Als Estland zuerst und allein zu Beitrittsgesprächen mit der EU eingeladen wurde, schaute man dort ein wenig herab auf die südlichen Nachbarn. Aber zunehmend gibt es innerbaltischen Tourismus und ein wieder erwachendes Interesse. Wenn der Sohn des kürzlich verstorbenen Schriftsteller Jaan Kross, Eerik-Niiles Kross, als Geheimdienstkoordinator in der Staatskanzlei vor einigen Jahren gefordert hatte, statt der Trikolore eine Flagge mit Kreuz einzuführen wie in Skandinavien und Estland auf Englisch in Estland umzubenennen, weil sich unter Estonia alle nur an die 1994 gesunkene Fähre erinnerten, wird ein solcher Vorschlag auch von seinen Landsleuten nicht ganz Ernst genommen.

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