Samstag, 26. Januar 2008

„Ich habe im Leben immer Menschen getroffen, die mir halfen“

Aleksandra Smirnoffs Lebensgeschichte ist ein Spiegel der jüngsten estnischen Geschichte
Aleksandra Smirnoff hat einen Arbeitsplatz, den es in Deutschland gar nicht gäbe. Regelmäßig wacht sie von acht bis acht am Eingang eines Tallinner Studentenwohnheims darüber, wer aus und eingeht. Ihren vollverglasten Arbeitsplatz nennt sie neckisch „das Aquarium“. Wäre sie nach dem zweiten Weltkrieg in den Westen geflohen wie viele ihrer Landsleute, könnte sie heute die wohlverdiente Pension genießen. In Estland hingegen ist eine Rente von 100 Mark trotz Hochschulbildung keine Seltenheit, und das ist auch in Tallinn sehr wenig Geld.
„Wenn ich das früher gewußt hätte, wäre ich vielleicht sogar bei den olympischen Spielen gelandet“, sagt die erfolgreiche Sportlerin und Tänzerin und spricht von der Atemtechnik, die sie beim Yoga gelernt hat. Drei mal in der Woche besucht sie die Stunden und ist stolz, welche gymnastischen Übungen sie in ihrem Alter noch machen kann. Die zierliche Dame ist aber nicht nur äußerlich eine auffallende Erscheinung. Trotz ihrer schwierigen Lage ist sie alles andere als verbittert und im Gegenteil zu vielen ihrer Kollegen hat sie immer ein freundliches Wort übrig. Das wissen auch die Studenten. Überdies verfügt Aleksandra Smirnoff über einen schier unerschöpflichen Schatz an Geschichte und Geschichten.

Großbürgerlichen Familie
Ihr Großvater wanderte erst 1900 aus Rußland ins damals zum zaristischen Imperium gehörende Estland ein. Hier wurde er mit einer simplen Idee reich. Damals gab es im Baltikum noch keine südländischen Früchte. Der Mann importierte sie. Als der Großvater 1935 starb, erinnert sich Aleksandra, hieß es, sein Vermögen sei so groß wie das der bekanntesten Schokoladenfabrik des Landes.
Der Großvater hatte noch kurz vor seinem Tode versucht, das Vermögen nur dem Bruder von Smirnoffs Vater zu hinterlassen, doch dieser letzte Wille kam nicht zum Zuge und wäre nach damaligem estnischen Recht auch wohl nicht erlaubt gewesen. Die Familie konnte sich also ein Leben in großbürgerlichen Verhältnissen mit großer Wohnung im Stadtzentrum von Tallinn erlauben.
Die Eltern achteten auf Niveau. Für die Kinder gab es eine deutsche Gouvernante, von der Aleksandra das Deutsche lernte. „Meine Schwester und ich haben diese strenge Frau gehaßt. Wir mußten mit Büchern unter den Achseln essen, damit die Arme in der richtigen Haltung waren. Und wir bekamen ein Lineal hinter den Rücken geklemmt, damit wir keinen Buckel machten.“ Heute ist Aleksandra dankbar für das Stück Kultur, das sie auf diesem Wege mitbekommen hat.
Doch das Glück währte nicht lange. „Mein Vater war ein schwacher Mann. Obwohl intelligent verkam er zum Trinker“, erinnert sich die Rentnerin. Die Mutter trennte sich von ihm noch vor dem Zweiten Weltkrieg.

Vermögend ohne Vermögen
Auf der Bank hatte ihr Großvater seinerzeit für die beiden erstgeborenen Enkelinnen eine Million estnische Kronen angelegt – damals eine konvertierbare Währung, heute eine unvorstellbar große Summe Geld. „Eine Krone von damals sind heute 160“, sagt Smirnoff, das wären 20 Millionen Mark. Jahrelang war die rüstige Dame davon überzeugt, die einzige noch lebende Person der Familie zu sein. Doch an das Geld im Ausland war während der langen Sowjetjahre nicht zu kommen. Schwierigkeiten bei der Suche in den Archiven, wo die Akten fehlten, unsortiert waren oder die Archivare ihr vielleicht einfach nicht helfen wollten, ließen sie nach der Unabhängigkeit 1991 aufgeben, das Vorhaben schien unrealistisch.
Anders verhielt es sich mit dem Immobilienbesitz. 1991 und 1992 verlangte es die Gesetzgebung der neuen Regierung, innerhalb kurzer Zeit Rückforderungsanträge einzureichen. Da tauchte plötzlich die angebliche Tochter einer Tante auf, die Anspruch auf neun Zehntel der Häuser erhob. Da diese Gebäude im Krieg zerstört wurden, stellvertretend auf den Grund und Boden im Zentrum der estnischen Hauptstadt.
Nach dem Bericht der Rentnerin, waren die Papiere offensichtlich gefälscht, zusätzliche Blätter hatte jemand in ein Amtbuch geheftet und damit nicht zuletzt die Reihenfolge der handschriftlichen Einträge durcheinandergebracht. Die Absicht war unschwer zu erkennen, doch das wollte das Gericht nicht einsehen. Die entscheidende Sitzung wurde während der Verhandlung kurz unterbrochen und anschließend die Existenz eines Hinweises auf Fälschung geleugnet.

Nicht enden wollender Kampf
Smirnoff sprach mit der vorgeblichen Verwandten, zeigte ihr Fotos, doch die Frau konnte niemanden erkennen. „Das kann doch nicht sein“, meint die Rentnerin, gab ihren Kampf jedoch nicht auf, obwohl wie sie sagt auch einige ihrer Anwälte sich um ihr Anliegen nicht wirklich kümmerten. Aleksandra tippt deshalb auf hochgestellte Hintermänner. Doch sagt sie: „Die dachten nicht, daß hinter dem zweiten Namen, dem das letzte Zehntel gehört, die gleiche Familie steht.“
Die Behörden fordern jedoch die Vorlage einer Todesurkunde der vor dem Kriege mit einem Polen verheiratet über Schweden nach Kanada auswanderten Tante, deren Anspruch vor dem ihren berücksichtigt werden müßte. Die betagte Dame, so wendet Aleksandra Smirnoff ein, müßte nicht nur inzwischen 94 Jahre als sein, die Verwandte hat in der vorgegebenen Frist keine Erstattung beantragt. Die Forderung sei folglich absurd. Dennoch hofft Smirnoff, auf diese Weise letztlich an das ihr zustehende Vermögen zu kommen.
Doch sie braucht Geld, um die Anwälte zu bezahlen, und das hat sie nicht. Ohne Hilfe wird es also nicht gehen. Im Studentenwohnheim verdient sie gerade einmal 500 Kronen im Monat, das sind 60 Mark. Dafür muß sie gewöhnlich etwa zweimal in der Woche eine Schicht hinter sich bringen. Und das bedeutet acht Stunden lang von morgens bis abends das Knallen der einen und das Quietschen der anderen Tür zwischen denen sie sitzt zu ertragen. Mit viel Geduld nimmt sie die Unterbrechungen des Gesprächs hin. Jeder Besucher muß sich nämlich anmelden, ein Dokument hinterlegen und schriftlich niederlegen lassen, wen er besucht.

Schicksalsschläge
1940 marschierten dann die Sowjets ein, es folgte der Zweiten Weltkrieg und die deutschen Besatzung. Doch mit dem Abzug von Hitlers Truppen kehrte 1944 auch die Rote Armee zurück. Die Sowjets begannen sofort wieder wie 1940, Menschen nach Sibirien zu deportieren.
Eines Tages im Jahre 1947, zerstörten die Stalinisten auch Aleksandras Familie ohne Vorwarnung. Sie räumten die Wohnung aus, verschleppten die Mutter und ließen das 14jährige Mädel mit ihren vier Geschwistern zwischen 18 und anderthalb in leeren Räumen allein zurück. Eine Katastrophe, die die Kinder gar nicht verstehen konnten.
Die Mutter wurde zunächst unweit des Dombergs hinter der Altstadt festgehalten. Es gelang ihr, von dort einen Brief an die Kinder herauszuschmuggeln, sie zu einem bestimmten Zeitpunkt an ein bestimmtes Kellerfenster zu bitten. Ein kooperativer Wächter sorgte dafür, daß die Soldaten ihre Runde nicht gerade in diesem Moment drehten und die Kinder entdeckten.
„Meine Mutter war eine starke Frau, sie hat nicht geweint, nur wir haben geweint“, erzählt Aleksandra mit stockender Stimme und die Tränen stehen ihr in den Augen. Die Mutter sprach zu ihren Kindern, daß sie sich nicht auseinanderreißen lassen dürften, sondern zusammenhalten müßten.

„Starkes Mädchen“
In der folgenden Zeit hatten Aleksandra und ihre Geschwister kaum etwas zum Essen, die Unterkunft ließ sich nur mit Stroh in eine Schlafstätte verwandeln. Die Verwandten hatten ebenfalls Angst, die Kinder aufzunehmen und dadurch in nicht näher definierbaren Verdacht zu geraten. So ließ sich der Ratschlag der Mutter leider nicht komplett befolgen. Die älteste Schwester heiratete bald darauf und ging nach russisch Karelien, während die drei kleinen Geschwister schließlich einen Platz im Kinderheim fanden.
Nur Aleksandra blieb ganz allein auf sich gestellt und versuchte, ihre gute Erziehung in Verdienst umzumünzen. Doch wer brauchte in diesen Zeiten schon eine Haushaltshilfe? Nachdem sie eine Weile bei einer Tante gewohnt hatte, wurde sie vor die Tür gesetzt und fand mit Glück eine nette Anwaltsgattin, deren Mann ebenfalls in Sibirien war. In der Schule brachte sie derweil hervorragende Leistungen. „Ich hatte ein fotografischen Gedächtnisses und mußte überhaupt nicht lernen.“
Kurz darauf ging sie zur Sprechstunde eines der Parteibosse, um die Freilassung ihrer Mutter zu erwirken. Die Anwaltsfrau hatte sie auf die Unterredung vorbereitet. „Ich war stark“, erinnert sich Aleksandra Smirnoff, „doch gegen eines konnte ich nichts machen. Ich war nicht gewohnt, daß mich jemand freundliche behandelt und mir übers Haar streicht.“ Der kommunistische Funktionär reagierte unerwartet. „Ich konnte kaum über den riesigen Schreibtisch schauen, versank fast in dem Sessel. Der Herr kam hinter dem Tisch hervor, setzte sich mir gegenüber und fragte, na was ist denn los mein Kind?“ Und während Aleksandra Smirnoff sich an diesen Tag erinnern, stehen ihr wieder die Tränen in den Augen.
Den Gefühlen war nun Tür und Tor geöffnet. Das Mädchen vergaß die vorbereitete Rede: „Glauben sie mir, meine Mutter ist nicht schlecht“, sagte sie nur und weinte. Nachdem sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte, versprach der Mann, daß sie innerhalb von zwei Wochen eine Antwort erhalten werde. Und die gab es dann auch, die Mutter kam frei.
Doch zunächst dauerte es noch Monate, bis der Befehl in Sibirien angekommen und die Frau von Krankheit ganz entstellt, mit 15 Liter Wasser im Körper, nach Estland zurückgekehrt war. „Meine Mutter hatte nicht mehr ihr Gesicht, ich habe sie nicht erkannt“, erinnert sich die Rentnerin heute noch. Erst als sie Aleksandra beim Namen nannte, erkannte die Tochter ihre Mutter an der Stimme.

Große Hilfe in großer Not
Vorher mußte Aleksandra jedoch weiterleben, zunächst bei einer älteren Dame, mit der sie zusammen irgendwo in einem Keller hauste. Als die Frau kurz darauf unerwartet in der Nacht starb, war das junge Mädchen furchtbar erschrocken. In Panik stürzte sie aus dem Haus und lief wie in Trance in der Stadt herum. Ihre Füße trugen sie ausgerechnet zu jenem Gebäude, wo damals ihre Mutter festgehalten worden war.
Dort wurde sie von einem russischen Soldaten aufgegriffen. „Mädchen, was machst denn Du hier“, fragte er, doch sie konnte gar nicht antworten, so verstört war sie. Der Mann nahm sie mit nach Hause. Wie sich später herausstellte, handelte es sich um den Vater einer Klassenkameradin, der sie vorher schon einmal tanzen sehen und deshalb wiedererkannt hatte. Aleksandra erinnert sich noch heute an das folgende nächtliche Bad. „Ich war ja ganz schmutzig und hatte seit langer Zeit kein Bad mehr gesehen.“ Aleksandra mußte das Haus dieser Familie nicht mehr verlassen, man nahm sie auf wie eine Tochter.
„Ich bin so froh, daß ich im Leben immer Menschen getroffen habe, die mir halfen. Ich hatte einfach Glück“, resümiert die Rentnerin. Aber sie erinnert sich auch an zweifelhafte Angebote, wie das eines wohlhabenden 70jährigen, der dem 18jährigen Mädel die Heirat mit den Worten „komm und verschönere mein Haus“ anbot. Trotz der Aussicht auf ein großes Erbe lehnte sie ab. Statt diese rettende Hand zu ergreifen, durchlebte sie weitere dramatische Zeiten.
Am Tag als ihre Mutter zurückkam, sollte auch der Abschlußballs in der Schule stattfinden. Zum Fest wollte sie erst gar nicht gehen, weil sie nichts passendes zum anziehen hatte, welches Drama für ein Mädel, das es bis zum estnischen Tanzmeister brachte. „Als ich dann am Morgen aufstand, schien die Sonne hell ins Zimmer und auf meinem Stuhl lag ein wunderschönes Kleid mit einem Paar Lackschuhen“, erzählt Aleksandra Smirnoff noch nach Jahrzehnten gerührt. Ihre Klasse hatte für sie gesammelt und einen Zettel beigelegt, auf dem vom Glauben an die Freundschaft die Rede war.
Doch der nächste Schlag ließ nicht lange auf sich warten. Bei einem Sportunfall verletzte sie sich das Bein. „Ich lag im Krankenhaus, konnte nicht einmal aufstehen“, die nächste Katastrophe für die passionierte Tänzerin. In einer Kurzschlußhandlung versuchte sie sich das Leben zu nehmen, indem sie ein Handtuch um das Bettgestell und ihren Hals wickelte und zuzog. Doch genau in diesem Moment kam ein Arzt herein, selbst bucklig, und erklärte, daß sie das nicht tun dürfe. Er nahm sich ihrer an, arbeitete viel mit ihr und begleitete sie sogar nach der Genesung zum ersten Wettkampf in Moskau. „Als dort alles gut ging, sagte er zu mir: Jetzt brauchst du mich nicht mehr“. Aus dem jungen Mädchen war inzwischen eine Frau geworden.

Karriere und Familie
„An mir ist ein Arzt verloren gegangen“, pflegt Aleksandra Smirnoff zu sagen. Doch zum Medizinstudium fehlten in ihrer Jugend die Möglichkeiten, so wurde sie Ingenieur und – auf eigenen Wunsch – von den Behörden der Sowjetunion fern der Heimat zunächst in Simferopol auf der Krim beschäftigt. Schnell stieg sie zur Laborleiterin auf und wachte über die Produktion von 14 Baumaterialfabriken.
Hier lernte sie auch ihren Mann kennen, einen Sportler und neunmaligen UdSSR-Meister, der immerhin 15 Jahre älter war als sie. „Er sah zwar nicht gut aus, aber er war ein lustiger Mann“, berichtet Aleksandra. Als sie wegen der Krankheit ihrer Tochter schon lange wieder in Estland lebte, schickte er ihr Telegramme mit Berichten von schweren Unfällen, damit sie ihn besuchte. Sie fand ihren Mann jedesmal gesund vor. „Mit einem Lächeln entschuldigte er sich dann und sagte, ich habe dich so vermißt.“ Als er 1976 an einem plötzlichen Herzinfarkt starb, hielt sie das Telegramm wieder erst für einen Scherz, weil es mit „Gott“ unterschrieben war. „Ich dachte, jetzt fällt ihm nichts anderes mehr ein, als sein eigener Tod“, erinnert sich Aleksandra. Doch dann machte ihre Tochter sie auf den offiziellen Charakter des Dokuments aufmerksam und sie begriff, was passiert war.
Der Tochter wegen war sie in die Heimat zurückgekehrt. Das Kind wäre beinahe schon im zarten Alter von anderthalb Jahren gestorben, weil es unter der Abwesenheit der Mutter litt und nicht aß. In Estland kümmerte sich die Großmutter um das Kleinkind. „Früher gab es noch eine umfassende Ausbildung in der Schule“, sagt die Rentnerin bestimmt und lobt das können ihrer Mutter. „Sie war besser gebildet als manche russischen Ärzte. Sie konnte sehr viel. Meine Tochter hat sie mit Muskatwein geheilt.“
Smirnoff leitete in den folgenden Jahren mehrere Betriebe nicht nur in Estland. Dabei war sie so erfolgreich, daß sie zwischenzeitlich in die Leningrader Oblast geschickt wurde, wo 2.000 Strafgefangenen eine Fabrik bauen sollten. Probleme mit dem Herzen zwangen sie einige Jahre später zum aufgeben der nervenaufreibenden Leitungsfunktion. Sie wechselte nach Tallinn an ein Institut, wo sie hoffte, endlich doch noch ihren Magister zu schrieben und die eigentlich angestrebte wissenschaftliche Arbeit zu machen. Aber prompt wurde sie auch hier wieder zur Leiterin einer Abteilung und später Hauptingenierin befördert. Dem Betrieb blieb sie jedoch 18 Jahre lang bis zur Pension treu. Das war 1988 und schon damals gab es gerade einmal 162 Rubel. „Bildung bedeutete in der Sowjetunion nichts“, stellt Smirnoff fest.
Bildung und Herkunft unterscheiden Aleksandra Smirnoff heute von ihren Kollegen im „Aquarium“ des Studentenwohnheims. Doch an aufhören ist nicht zu denken, die schweren Rückschläge wirken bis heute nach. „Dank Yoga kann ich mich vor der negativen Energie anderer schützen“, sagt Aleksandra. Und es ist erstaunlich, wieviel Positives sie den Menschen zu geben vermag. „Ein Danke würde manchmal schon genügen“, erklärt sie der Studentin, die sich in der siebten Etage versehentlich ausgesperrt hat und nun – vielleicht wirklich ein wenig zu selbstverständlich – nach Hilfe fragt. Aber das junge Mädchen kann schließlich nicht wissen, welche Geschichten hier gerade erzählt wurden.

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