Donnerstag, 24. Januar 2008

Keine Zukunft für ratternde Zugromatik

Der „Balti Ekspress“ von Tallinn nach Warschau fährt mit Verlust
Tallinn, im Februar 1997. – Seit mehr als drei Jahren verkehrt der „Balti Ekspress“ der estnischen Eisenbahn zwischen Tallinn und Warschau. Für passionierte Zugliebhaber ein echtes Erlebnis. Obwohl der „Balti“ seit der Streichung sämtlicher anderen Züge als letzter die drei baltischen Staaten durchquert, droht auch dieser Verbindung ständig das aus.
„Zug fahren ist doch viel schöner“, meint Lehrer Hartmut Rüss aus Versmold in Westfalen. Und für seine Schüler ist die Zugreise tatsächlich ein Abenteuer. Sie sind ganz aus dem Häuschen und rennen auf dem Gang des polnischen Waggons hin und her, weil angeblich jemand aus dem Zug gesprungen ist. Wie unspektakulär wäre doch dagegen ein Flug gewesen.
Möglich wäre die überstürzte Flucht eines Schmugglers schon. Der „Balti Ekspress“ von Warschau nach Tallinn befindet sich gerade auf dem Weg von Białistok nach Suwałki im Nordosten Polens. Die Schienen sind hier nicht zusammengeschweißt und der Zug rattert deshalb nur langsam durch die Landschaft. Vielleicht haben die Jugendlichen aber auch zuviel Phantasie, denn die Grenze zu Litauen liegt doch noch ein gutes Stück vor uns.
Im Mai 1994 fuhr der „Balti“ das erste Mal. Bis Herbst 1997 bedienten zwei Züge mit je zwei sogenannten Brigaden einmal täglich in beiden Richtungen die Strecke zwischen Tallinn und Warschau, erklärt Sigurd Sepp von der estnischen Eisenbahn. Von der Hauptstadt Estlands bis Šeštokai im Süden Litauens sind auf den Schienen des breiteren russischen Standards alte sowjetische Waggons der estnischen Staatsbahnen unterwegs. In dem kleinen litauischen Bahnhof heißt es dann umsteigen in den bereitstehenden Anschlußzug der polnischen Bahn nach Warschau. Diese Methode wurde als Alternative zu der umständlichen Montage kompatiblen Räderwerks ausgedacht, wie es in Weißrußland praktiziert wird. Das dauert aber bis zu drei Stunden.
An der Grenze zum Baltikum wird es für die deutschen Schüler spannend. Im Schneckentempo kriecht der Zug bis kurz vor einen Zaun, der Polen und Litauen voneinander trennt - ein sowjetisches Erbe? Keiner weiß es so genau. Wie in Großvaters Zeiten wird ein Tor von Hand geöffnet, der Zug fährt durch und der Wachposten macht die Lücke anschließend wieder dicht. Das ganze Szenario erinnert ein wenig an die innerdeutsche Grenze. Kurz darauf geraten die 16jährigen wieder in große Aufregung, der Name des Litauischen Grenzortes „Mockava“ ähnelt doch zu sehr dem der Hauptstadt Rußlands.
Der größte Teil des estnischen Eisenbahnnetzes ist in den letzten Jahren privatisiert worden. Den staatlichen Bahnen bleiben nur die dank der im Baltikum beheimateten Russen immer gut ausgelasteten Strecken nach St. Petersburg und Moskau und daneben eben noch der „Balti Ekspress“. Doch auch das ist für die liberale Regierung Estlands nur eine Übergangsverwaltung.
Die Zugreisezeiten sind im Vergleich mit einer Busfahrt zu lang, die Fahrkartenpreis nicht konkurrenzfähig. Ab Šeštokai zwingt der noch schlechtere Zustand des Gleiskörpers ebenfalls zu langsamer Fahrt. Der Fahrgast kann beinahe nebenher laufen und Blümchen pflücken. Auch rumpelt und rattert der Zug auf den nicht verschweißten Schienen derart lärmend und schwankend durch die Landschaft, daß viele nicht schlafen können. Und das ist ein Problem, denn ab Litauen wird es bald Nacht. So wurden im ersten Halbjahr 1997 pro Monat nur zwischen 2.200 und 3.300 Menschen befördert. Das ist zu wenig, darum ist die Existenz des letzten alle drei baltischen Staaten durchquerenden Zuges mangels Nachfrage gefährdet.
Obwohl der „Balti“ also keinen Gewinn abwirft, hat die estnische Eisenbahn das Todesurteil im Sommer doch noch einmal hinausgezögert. Zunächst hieß es, bis zum 31. August, dann wurde der 1. November anvisiert. Seither fährt der „Balti“ nur noch jeden zweiten Tag. Sigurd Sepp schätzt, daß die „Balti“-Strecke irgendwann auch privatisiert wird.
Für den Reisenden, der Zeit hat, kann die Fahrt in geradezu familiärer Atmosphäre jedoch ein Erlebnis werden wie zu den Pionierzeiten der Bahn. Der Service ist einfach aber herzlich, auch im meist leeren Restaurant, das nicht teuer oder schlechter ist als ein durchschnittlicher Tallinner Imbiß. Eher kommt es aber vor, daß die Bedienung betrunken ist und vielleicht nur in der Lage, eine Bestellung auf estnisch aufzunehmen, nicht aber zu antworten. In jedem Fall verdient es Beachtung, wie eine Tasse Kaffee ohne „Fußbad“ an den Tisch gelangt.
Die Zugbegleiterinnen, die es für jeden Waggon gibt, begrüßen schon am Bahnhof alle Fahrgäste einzeln, denn hier werden Tickets schon beim Einsteigen kontrolliert. „Fahren sie wieder mal mit uns?“ fragt die Dame mit einem Lächeln. Die Handvoll „Balti“-Mitarbeiter fährt jeden Tag hin und her. Man kennt sich, und estnisch sprechende Reporter aus dem Ausland kommen auch nicht alle Tage. In der Regel können die Schaffnerinnen, obwohl mehrheitlich Russinnen, hinreichend gut Estnisch, oft sogar die paar Brocken Englisch oder Deutsch, um sich mit den internationalen Kunden zu verständigen. Das ist wichtig, denn im Sommer wird der Zug vor allem von Rucksacktouristen als günstige Möglichkeit geschätzt, von Polen aus quer durch das Baltikum zu reisen.
Als die alten sowjetischen Waggons sich in Øeøtokai mit einem Ruck in Bewegung setzen, blickt ein junger Mann mit dunklem Lockenkopf aufgeregt um sich. Seinen riesigen Rucksack, der ihn auf den ersten Blick als Ausländer erkennbar macht, hat er auf die Gepäckablage bugsiert. Er habe eine Schlafwagenkarte für die erste Klasse, versucht er der Schaffnerin auf englisch zu erklären. Er wurde aber in den sogenannten allgemeinen Waggon geschickt, der einzige im Zug, wo es nur Sitzmöglichkeiten gibt. Seine beiden Freunde, auch aus Australien, haben es sich inzwischen in einem Abteil bequem gemacht. Das kostet natürlich den Aufpreis für eine Platzkarte. Glücklicherweise ist ein Übersetzer anwesend, der aus Deutschland kommend auch den Chef der Crew sprechen muß um nachzulösen. Die Angelegenheit des Globetrotters kann so schließlich auch geklärt werden. Zufrieden trottet der Australier hinter einer anderen Zugbegleiterin her. Der irische Landsmann berichtet derweil von seinen vergangenen Europareisen. Interessant sei es, aber wirklich gefallen würde ihm nur Paris, doch auch da könne er sich zu leben nicht vorstellen. Australien sei wegen des höheren Lebensstandard schon ideal. Der Student ist eben kein Europäer.
Jetzt gibt es nur noch ein Malheur. Alle paar Stunden kreuzt die Strecke in der Nacht nämlich eine Grenze. Sei es, weil Litauen und Lettland nicht mit am Verhandlungstisch um die EU Erweiterung sitzen, die Kontrollen werden ernst genommen, wenn auch die Aufforderung, den Koffer zu öffnen ebenso seltener geworden sind wie das Stempeln des Passes. Im estnischen Valga dauert die Prozedur zwar weniger lange als vor dem Schlagbaum an der Fernstraße, weil der Zoll im Zug keinen Computer hat. Trotzdem gibt es Unterschiede. Die drei Gäste aus dem fernen Einwandererstaat Australien brauchen alle trotz verschiedener Nationalitäten, einer ist Ire ein anderer Holländer und nur der dritte wirklich Australier, gleichermaßen kein Visum, nur der Deutsche.
Da der Zug Tallinn erst mittags um halb eins erreicht, bleibt glücklicherweise genügend Zeit zum Ausschlafen.

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