Donnerstag, 15. Oktober 2009

Lettland im Herbst

Daß Lettland am Rande des Staatsbankrottes steht, dürfte sich mittlerweile weltweit herumgesprochen haben. Wie aber sieht der Alltag nun aus? Was geschieht auf der politischen Ebene? Befindet sich das Land in einer Schockstarre?

Die Umstände haben zu Beginn des Jahres den erst 38jährigen Finanzexperten und bisherigen Europaabgeordneten Valdis Dombrovskis ins Amt des Ministerpräsidenten gebracht und damit jene Partei zurück in die Koalition, welche eine ganze Weile von den oligarchischen bisherigen Regierungspartnern gemieden worden war.

Zwar sind Dombrovskis rhetorische Fähigkeiten, der Bevölkerung die Krise, ihre Folgen und das Regierungshandeln zu erläutern besser als die seines Vorgängers Ivars Godmanis. Aber regiert Dombrovskis das Land tatsächlich? Wird es ihm gelingen, sich bis zu den Wahlen im Herbst 2010 im Amt zu halten? Dann hätte er eine der seit 1991 am längsten regierenden Exekutiven geleitet.

Innenpolitische Hauptkriegsschauplätze
Wie weit der Einfluß Dombrovskis’ reicht, ist zweifelhaft, da die bislang federführende Volkspartei in ihrer Positionierung sprunghaft geworden ist, mal die Verhandlungen mit dem IWF befürwortet, dann wieder bereits unterzeichnete Vereinbarungen verurteilt und beständig latent mit dem Austritt aus der Regierung liebäugelt.

Eine Möglichkeit wäre, ähnlich wie 2004 die Verabschiedung des Haushalts abzulehnen und damit die Regierung zu stürzen. In diesem Fall könnte der Übervater der Partei, Andris Šķēle, wie Phönix aus der Asche in die Politik zurückkehren. Damit könnte sich die Partei der Ersten Partei / Lettlands Weg anschließen, die bei der letzten Regierungsbildung in die Opposition ging; andererseits ließe sich demonstrieren, daß in einer schwierigen Lage eine ernsthafte politische Kraft die Regierung nicht stürzt. Gleichzeitig könnte auch die Neue Zeit den Querulanten Volkspartei aus der Koalition schmeißen und versuchen, sich auf die zehn Stimmen der Ersten Partei / Lettlands Weg zu verlassen.

Hinter diesen Planspielen verbirgt sich letztlich die Frage, wer von einem neuerlichen Regierungssturz nach kaum mehr als einem halben Jahr im Amt und ein Jahr vor den Wahlen profitieren könnte und wem dies eher schadete. Ainārs Šlesers von der Ersten Partei etwa deutete an, daß seine Partei wohl eher nicht an einer neuen Regierung teilnehmen würde.

Für eben diesen ist die jüngste Ankündigung des früheren Ministerpräsidenten am ehesten ein Problem, da beide ähnliche Ambitionen haben. Während der über sieben Jahre als „einfaches Parteimitglied“ figurierende Šķēle zur Erklärung vorgab, er habe schon früher darauf hingewiesen, in die Politik zurückzukehren, sobald man an seiner Tür klopfe, trat das Parteimitglied mit der Mitgliedsnummer zwei Vaira Paegle, umgehend aus der Partei aus. Šķēle habe nie seine geschäftlichen Interessen beiseite geschoben und werde dies gewiß auch in Zukunft nicht tun. Sie war vor zwei Jahren eine von drei Parteitagsdelegierten gewesen, welche die Hand gehoben hatten, als gefragt wurde, wer einen Rückzug Šķēles aus der Partei wünscht.

Alltag und kleine Leute
Vor diesem Hintergrund sind die strammen Verordnungen der Regierung bei der einfachen Bevölkerung angekommen. So hat die Regierung einige als besonders schmerzhaft empfundene Einschnitte vollzogen wie die Schließung von Schulen auf dem Land. Dies mag angesichts der demographischen Entwicklung angemessen sein, es wurden aber auch Krankenhäuser geschlossen, darunter in der Hauptstadt selbst zwei traditionsreiche Häuser. Das Erste Krankenhaus war Ende des 19. Jahrhunderts damals noch am Stadtrand errichtet worden und befindet sich inzwischen zentrumsnah. Über lange Zeit hatte sich diese Einrichtung auf die Betreuung von Unfallopfern und Notfällen spezialisiert. Auch diese Reduzierung war allerdings seit längerem angedacht und nun unrealisiert geblieben.

Die inzwischen dramatisch steigende Arbeitslosigkeit führt zu großen sozialen Problemen. Nicht nur ist die Arbeitslosenunterstützung gering, nach Ablauf des Zeitraums für diese Zahlungen fehlt es an einer Art “Sozialhilfe”. Doch auch wer die Arbeit nicht verloren hat, sieht sich mit Einkommenskürzungen etwa bei Lehrern und einer 70% Rentenkürzung für Rentner, die ihr Einkünfte mit zusätzlicher Arbeit aufgebessert haben, konfrontiert. Selbst für bislang besser Verdienende sieht die Welt inzwischen anders aus. Wunderten sich in den vergangenen Jahren Rigabesucher noch über die große Zahl an teuren Limousinen – man zeigte eben in der lettischen Gesellschaft, was man hatte – so werden inzwischen vielen, die ihre Kredite oder Leasingraten nicht mehr bedienen können, die Autos wieder abgenommen. Das macht sich in weniger Staus während der Hauptverkehrszeiten ebenfalls bemerkbar.

Da einige Menschen tatsächlich in echte Not gekommen sind, es wird von Familien berichtet, die noch vor kurzem Leasingraten bezahlen könnten, bei denen es aber nun nicht einmal mehr für die Mahlzeiten ihrer Kinder reicht, hat die Regierung ein sogenanntes soziales “Kissen” beschlossen. Dies kann in Anspruch nehmen, wer gleichzeitig von der Krise und den Reformen betroffen ist. So erhalten Mittellose kostenlose Gesundheitsversorgung und Medikamente. Dagegen jedoch protestiert der Verband der Geringverdiener[1]. Dort wirft man der Regierung vor, daß NGOs nicht unterstützt werden, sie selbst etwa ihre Räumlichkeiten gratis für den Handel mit Second hand Kleidung zur Verfügung stellten. Überdies sei es ungerecht, daß Untätige oder Faulenzer kostenlose medizinische Versorgung erhielten, die sich eine zum gesetzlichen Mindestlohn arbeitende Mutter eines Kleinkindes nicht leisten kann. Personen, die Probleme mit den Ratenzahlungen haben, werden ebenfalls stattlich mit Stundungen unterstützt. Den Kommunen will die Regierung mit Schulbussen helfen.

Der lange Arm korrupter Praktiken
Auf der anderen Seite haben viele Staatliche Einrichtungen den befohlenen Rotstift aber nicht mit 20% umgesetzt und sind statt dessen erfinderisch geworden. Anstelle der Auszahlung sogenannter Prämien wurden plötzlich fiktive Überstunden honoriert. oder statt Bargeld Einkaufsgutscheine ausgegeben. Besonders pikant ist, daß sich gerade das Justizministerium mit internen Anordnungen über Kabinettsbeschlüsse hinweggesetzt hat, was inzwischen öffentlich von der Chefin des Rechnungshofes, Inguna Sudraba, kritisiert wurde. Andererseits wies selbst die stellvertretende Leiterin der Staatskanzlei, Baiba Pētersone, früher Mitglied der rechtskonservativen Für Vaterland und Freiheit, darauf hin, daß gegen den Kabinettsbeschluß nicht verstoßen worden sei.

Diese Ignoranz bezeichnete der Regierungschef als “kreative Buchhaltung”. Sie macht den Nihilismus und die Eigensucht eines Teils der Bevölkerung plakativ deutlich, denn nicht alle Einwohner Lettlands haben auch nur den Ansatz einer Chance, auf ähnliche Art und Weise ihren Lebensstandard zu halten.

Das Justizministerium wird geführt vom Parteivorsitzenden der Volkspartei, dem eloquenten Māreks Segliņš, der bereits früher als Innenminister mit interessanten Äußerungen über Polizei und innere Sicherheit aufgefallen ist. Freilich, die einstweilen zweifelhaft erscheinen, ungeachtet der Frage, ob die Wahlen turnusmäßig im Herbst des nächsten Jahres oder – was ebenfalls zweifelhaft ist – früher stattfinden.

Diese Auseinandersetzung finden statt vor dem Hintergrund, daß in Lettland bislang noch kein einheitliches Besoldungssystem im öffentlichen Dienst eingeführt worden ist – über das jetzt neuerlich diskutiert wird. Einstweilen ohne Folgen.

Innenpolitische Nebenkriegsschauplätze
Als wenn es derzeit nicht Wichtigeres gäbe, beschäftigt sich die Regierung jedoch auch mit anderen umstrittenen und kritischen Fragen in den Niederungen des Alltags. So sollen bei der Polizei Patrouillen- und Verkehrsabteilung zusammengelegt werden. Dann könnten sich die einen auch um Überschreitungen der Straßenverkehrsordnung und die anderen um Verstöße gegen die öffentliche Ordnung kümmern. Bislang fahren die Streifenwagen kreuz und quer durch die Stadt, auch jene der Munizipalpolizei – de facto eine Art aufgerüstetes Ordnungsamt – und oft läßt sich beobachten, daß immer gerade die falsche Streife am falschen Ort zur falschen Zeit ist.

Gleichzeitig flammte kürzlich ein neuerlicher “Taxikrieg” auf. Innenministerin Linda Mūrniece wehrt sich gegen Vorwürfe des Chefs von Air Baltic, Bertold Flick, die Polizei müsse sich schneller als bislang um den erneut ausgebrochenen Taxi-Krieg kümmern. Bereits in den 90er Jahren hatte es einen solchen gegeben. Jetzt ist er erneut entfacht, weil Flick auf diesem Markt als neuer Konkurrent aufgetreten ist. Konkurrierende Fahrer beschädigen die Autos anderer Firmen und mitunter entpuppt sich auch ein Kunde als “Verführer”, der den Fahrer an einen Zielort lotst, wo bereits Komplizen warten.

Dieselbe Ministerin reagierte im September überaus heftig auf eine nicht angemeldete Demonstration im südlettischen Bauska. Hier hatten sich spontan Menschen im online Sozialnetzwerk draugiem.lv zu einer Protestaktion gegen die Schließung des örtlichen Krankenhauses verabredet und blockierten mit der Brücke über die Mēmele (das ist nicht die Memel!) die Hauptverkehrsader des Baltikums Via Baltica. Anschließend wurde auch der die Brücke über die Mūsa besetzt. Als die Sondereinheiten Alfa aus Riga eintrafen, wurden zahlreiche Personen verhaftet, die sich Anfang Oktober vor Gericht verantworten mußten. Eine junge Frau, die aus Sorge um die medizinische Versorgung ihrer Mutter und ihrer Kinder auf einer der Brücken gestellt worden war, wurde freigesprochen. Ein weiterer Angeklagter erhielt die wohl eher symbolische Strafe von 5 Lat, ca. 7,50 Euro. Der Mann hatte zum Zeitpunkt seiner Verhaftung 2 Promille Alkohol im Blut. Er gab auch vor den Medien zu, Alkoholiker zu sein. Am fraglichen Tag sei er zufällig vorbeigekommen auf dem Weg zu einer Kneipe für die nächste 100g Dosis gegen den Kater vom Vortag. Als er die Menschen und die Polizei sah, habe er nur helfen wollen.

Ökonomischer Status Quo
Dann ist da noch die Diskussion über die Abwertung der Landeswährung, des Lats. Dies versuchten bislang alle Kabinette zu vermeiden, wie der Teufel das Weihwasser, denn viele Menschen haben sich in Fremdwährungen verschuldet. Die Abwertung würde Lettlands Konkurrenzfähigkeit vielleicht verbessern, doch exportiert Lettland ohnehin kaum Industrieprodukte. Statt dessen würde sich die Privatverschuldung deutlich erhöhen. Die Kreditgeber Lettlands haben die Politik akzeptiert. Doch aus Brüssel heißt es auch, daß die EU jeden eingeschlagenen Weg unterstützt hätte.

Freilich gibt es neben allen Horrormeldungen auch positive Folgen der Krise. Die Letten hatten während der fetten Jahre, auf Pump, über ihre Verhältnisse gelebt und damit ein Außenhandelsbilanzdefizit von 25% des BIP erreicht. Dieses ist hinweggeschmolzen ebenso wie die Inflation, welche sich zwischenzeitlich der 20% Marke genähert hatte. Inzwischen gibt es sogar eher deflationäre Tendenzen, die einzig durch die Steuerpolitik nicht immer sichtbar sind.

Aber auch diese positiven Aspekte ändern nichts daran, daß die Haushaltslage klamm ist. Ministerpräsident Dombrovskis ist darum der Ansicht, daß nur Steuererhöhungen oder Ausgabensenkung helfen. Die Neue Zeit hat darum den Vorschlag einer veränderten Immobilienbesteuerung in die Diskussion gebracht.

Hilflose Politik
In diese Gemengelage platzte die Ankündigung des Präsidenten, am 15. September zum zweiten Mal von seinem verfassungsmäßigen Recht Gebrauch zu machen und eine außerordentliche Kabinettssitzung einzuberufen, bei der wie bereits im April um Gesundheit, Haushalt, Bildung sowie die Verwaltung und eine Bewertung des während der letzten fünf Monate erreichten berichtet werden soll. Zatlers erklärte, die Verabschiedung des Haushaltes sei nun ebenso besonders wichtig wie klare Angaben, wie die Situation aussieht, was Lettland 2010 zu erwarten hat und aus der Krise heraus kommt. Der Präsident äußerte sich ebenfalls zuversichtlich, daß diese Sitzung auch die Stabilität der Regierung deutlich machen könne, wenn die Minister sie geschlossen verlassen.

Da die Sitzung im Gegenteil zu jener im April, die hinter verschlossenen Türen stattgefunden hatte, dieses Mal vom Fernsehen Live übertragen wurde, stellte sie sich wie eine vom Präsidenten geleitete Pressekonferenz des Kabinetts dar. Die zuständigen Minister der erwähnten Bereiche hatten Bericht zu erstatten und mußten anschließend auf zusätzliche Fragen des Staatsoberhauptes antworten.

Dies änderte nichts an den Reibereien zwischen den die Regierung tragenden politischen Kräften inklusive der Opposition. So wurden erneut Zweifel deutlich, ob das Parlament den Haushalt verabschieden wird. Die Erste Partei / Lettlands Weg erklärte sich, obwohl in der Opposition befindlich, dazu zwar grundsätzlich bereit, Diskussionen, wird das Budget angenommen, während die Volkspartei Zweifel zu zerstreuen versuchte, doch die Woche war ebenso reich an Spekulationen über die Ambitionen verschiedener Personen wie auch über hinter den Kulissen bereits organisierte Manöver.

Die Fraktionsvorsitzende der Neuen Zeit, Solvita Āboltiņa, etwa zeigte sich überzeugt, die Volkspartei versuche, um nicht als Königsmörder dazustehen, ihre Partei zu provozieren, die Regierung gegenüber der EU als instabil erscheinen zu lassen, um einen den Sturz der Regierung herbeizuführen und damit auf das eigentlichen Ziel einer Abwertung des Lats hinzuarbeiten. Dies hatte jüngst bei einer “Konferenz” der Partei deren graue Eminenz, Andris Šķēle, neuerlich ins Spiel gebracht.

Andere Beobachter sind der Ansicht, daß sich die Parteien gegenseitig provozierten. So habe Dombrovskis die Debatte über die Immobiliensteuern anläßlich einer Sondersitzung des Parlament zur Anhörung des Finanzministers auf die Tagäsordnung gesetzt wohl wissend, daß die Volkspartei diesen Vorschlag ablehnt und mit ihr auch das Harmoniezentrum und die Erste Partei / Lettlands Weg. Gleichzeitig hat die Sitzung parteiinterne Meinungsverschiedenheiten der Volkspartei zu Tage treten lassen, als bei der von ihr selbst beantragten Sondersitzung nur weniger ihrer Abgeordneten erschienen. Einige Mandatsträger sind der Ansicht, daß ein Verlassen der Regierung für die Partei tödlich wäre. Gleichzeitig kritisiert ihr Vorsitzender Segliņš, daß der Premier keine Mehrheit für die Wahl der Volkspartei-Abgeordneten Anta Rugāte ins garantiere, obwohl auch die anderen Parteien diese Kandidatur ablehnen.

Dies alles nährt Spekulationen über eine Annäherung zwischen Volkspartei und Erster Partei / Lettlands Weg und Pläne zur Bildung einer neuen Regierung. Dem seit Jahresbeginn nicht mehr im Kabinett sitzende Ainārs Šleser werden seit Jahren Ambitionen auf das Amt des Ministerpräsident nachgesagt. Da aber laut Verfassung der Präsident das alleinige Recht einer Nominierung hat, hätte wohl ein parteiloser Kandidat bei einem gegenwärtigen Regierungssturz bessere Aussichten. Und so gibt es Gerüchte, der kürzlich abgetretene Vorstandsvorsitzende der Sparkasse, Mārtiņš Bondars, sei Zatlers als Kandidat von Šlesers selbst vorgeschlagen worden.

Šķēles Rückkehr in die Politik gibt Kommentatoren ebenfalls Anlaß zu Spekulationen. Einige meinen, der Dinosaurier der lettische Politik benötige eine Plattform. Das spräche für einen Rehgierungssturz, der dann eventuell aber erst nach der Verabschiedung des Haushaltes geschehen könnte.

Aber es gibt eine weitere Option. Seit den Kommunalwahlen im Juni ist Šlesers stellvertretender Bürgermeister von Riga in einer Koalition mit dem Harmoniezentrum, das damit erstmals an wichtiger Stelle politische Verantwortung übernimmt, die es gerne auf der nationalen Ebene auch täte. Jānis Urbanovičs verkündete bereits, das Zentrum habe sich vor der Macht nie gedrückt.

Auch in der Krise hat sich am politischen Kindergarten in Lettland ebenso wenig geändert wie am nihilistischen Machtumgang. Die Zeitung Latvijas Avīze überschrieb einen Kommentar diese Woche mit “Bankrots līdzšinējai ‘politikai’” – Bankrott der bisherigen “Politik” – erstaunlicherweise dauerte dies bis September 2009.
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[1] Der lettische Begriff maznodrošinātie bedeutet eher „gering abgesicherte“, ein Wörterbuch bietet „Benachteiligte“ als Übersetzung an.

Donnerstag, 1. Oktober 2009

Ende des präsidentiellen Regierens?

Deutschland hat gewählt und Angela merkel bleibt Kanzlerin. Erfreulich ist, daß die schwarz-gelbe Mehrheit nicht nur dank des negativen Stimmgewichtes zustande gekommen ist. Nur wenige Juristen und Politologen sahen in dieser Möglichkeit eine Gefahr für die Demokratie, immerhin habe das Verfassungsgericht mit dem Urteil eine Frist bis nach der nächsten Bundestagswahl gesetzt. Einzig der Jurist Hans Herbert von Arnim äußerte sich besorgt. Bedrohung der Demokratie hin oder her, eine Mehrheit, die keine Mehrheit ist, hätte den Blätterwald in jedem Fall rauschen lassen und die Legitimation der Regierung angekratzt.

Das Wahlergebnis bestätigt, daß die Volksparteien zunehmend keine mehr sind. Der Erisionsprozeß schreitet bei der SPD nur schneller voran als bei der CDU, deren Wähler wählen oft als Bürgerpflicht betrachten, wo SPD-Anhänger die Enthaltung als legitimen stillen Protest verstehen. Die CDU hat zwei Prozentpunkte verloren, obwohl der Absturz der SPD durch massenhaftes Nichtwählen zustande kam. Die CSU hat trotz aller geräuschvollen Personalwechsel kein besseres Ergebnis errungen als bei der Landtagswahl vergangenes Jahr, die in Bayern zum politischen Erdbeben wurde.

Daß es in der SPD nun rumohrt, ist nachvollziehbar und wohl auch erforderlich. Daß die alte Garde nun abtritt und eine neue Generation kommt, ist ein normaler Prozeß.

Interessanter wird das Wundenlecken in der Union. Diese früher gern als Kanzlerwahlverein bezeichnete Partei diskutiert und streitet weniger öffentlich, als die politische Konkurrenz, man stellt sich hinter die Frontmannschaft. Doch daß Angela Merkel kein CDU-Gewächs ist, wurde bereits häufig betont. Sie ist eine Frau, kommt aus dem Osten, ist Protestantin, in zweiter Ehe verheiratet und kinderlos. Das paßt so gar nicht in das ursprünglich überwiegend katholisch geprägte CDU-Miilieu der alten Bundesrepublik. Und in Neufünfland ist mit Ausnahme Sachsens die CDU keine heimische Partei geworden. Merkels Führungsanspruch entstand durch den Spendenskandal rund um Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble. Das schlechte Wahlergebnis dürfte Merkels Autorität mittelfristig, also in dieser Legislaturperiode in Frage stellen. Es stehen genüg potentielle Konkurrenten in Wartestellung.

Als genügte dies nicht, steht die Union vor dem Problem eines im Vergleich zu Helmut Kohls Zeiten deutlich gestärkten liberalen Partners, der nunmehr doppelt so groß ist wie die früher so selbstbewußte CSU. Da sind die Konflikte bereits vorprogrammiert. Merkel hat künftig keine Ausreden mehr, nicht CDU oder wenigstens schwarz-gelb pur umzusetzen. Die SPD kann dies nicht mehr bremsen, dafür aber endlich umso konsequenter als Opposition attakieren. Mit drei Parteien werden die Gegner von schwarz-gelb stärker.

Da einstweilen schwarz-helb auch im Bundesrat eine Mehrheit hat, haben auch die Lobbyisten mit der Präsentation ihres Forderungskatalogs nicht lange gewartet, denn die Erfahrungen zeigen, daß die deutschen Wähler generell in den Ländern gerne die nationale Opposition stärken. Kommende Landtagswahlen können also Schauplatz von Protestwahlverhalten gegen eine zu erwartende Politik der sozialen Kälte werden.

Eine solche Vermutung wird genährt von dem Umstand, daß es sich bei der neuen Mehrheit eigentlich um gar keine Mehrheit handelt. CDU/CSU und FDP haben zwar eine absolute Mehrheit der Sitze, aber nicht der Stimmen. Und auch diese (abgegebenen) Stimmen waren mit 72% Wahlbeteiligung nie weniger. Wahlenthaltung sollte nicht generell als Bedrohung der Demokratie gesehen werden, zumal sie in Deutschland immer noch höher ist als in anderen Ländern. Außerdeml ist nie gewiß, warum ein Wähler nicht wählt. Das Kind kann erkrankt sein, das schöne Wetter zu einem Ausflug einladen oder schlechtes zum Daheimbleiben anregen. Außerdem mag es auch Bürger geben, die sich allhemein wohl fühlen und denen tatsächlich nicht so wichtig ist, welche Partei gerade regiert.

In diesem Jahr jedoch hat sich ein Teil der Wählerschaft aus dem politischen Willensbildungsprozeß willentlich verabschiedet. Dies sind vorwiegend von der SPD enttäuschte Wähler, die eben auch keine andere Partei gesehen haben, die ihre Interessen verträten. Folglich hat nicht nur die schwarz-gelbe Regierung keine Mehrheit in der Bevölkerung hinter sich, sondern schlimmer noch, der Bundestag vertritt in seiner neuen Zusammensetzung nur noch Ober- und schwindende Mittelschicht. Jene “Unterschicht”, über die in den vergangenen Jahren immer wieder diskutiert wurde, ist durch Linke und SPD unterrepräsentiert. Darin solle man, wie erwähnt, nicht generell eine Schädigung der Demokratie sehen. Aber es wird sich zeigen, ob dieser Personenkreis eine andere Variante der politischen Äußerung suchen wird.

Angela Merkel verdankt einen Teil ihrer Popularität sicher ihrem ruhigen Regierungstil, der mitunter auch als präsidentiell bezeichnet wurde. In einer großen Koalition gab es dafür auch ein Erfordernis. Es ist zu vermuten, daß dieses Regieren mit ruhiger Hand sowohl von innen als auch von außen unter Druck gesetzt wird.