Montag, 28. Februar 2011

Parlamentswahlen in Estland von der technischen Seite (ergänzt)

Estland wählt am kommenden Sonntag ein neues Parlament. Der 2009 als Einzelkandidat angetretene estnische Angeordnete des EU-Parlaments, der Moderator Indrek Tarand, spricht von „aufständischen“ Wahlen. Die Wähler glaubten den Versprechungen der Parteien und Politiker nicht mehr, daher gebe es in diesem Jahr so viele Einzelkandidaten. Er forderte die Wähler auf, Ihre Einflußmöglichkeiten nicht zu unterschätzen.

Was steckt technisch dahinter? Estlands Wahlrecht ist eine Verhältniswahl mit Personenstimmen. Für den an andere Verhältniswahlsysteme gewöhnte Beobachter sieht der Stimmzettel sehr ungewöhnlich aus. Es ist ein faktisch leeres Blatt mit einem freien Feld. Daneben steht: „ich wähle den Kandidaten Nummer“. Der Wähler muß also mit einem Kugelschreiber die Nummer des bevorzugten Kandidaten in dieses Feld eintragen. Der Effekt ähnelt dem der österreichischen Vorzugsstimme. Der Wähler bevorzugt einen Kandidaten und wählt mit ihm auch die Liste seiner Partei. Es ist ein kompliziertes mathematisches Verfahren, wie hoch die Quote ist, um ein „persönliches“ Mandat auf diese Weise zu erreichen. Da sich aber viele Wähler stärker nach Personen als nach Parteien richten und selbst Parteianhänger vorwiegend für die bekannteren Politiker stimmen, erreichen diese in aller Regel die Quote ohne Schwierigkeiten und ziehen wie eine Lokomotive auf Kompensationsmandaten Parteifreunde mit in das Parlament, für die entschieden weniger Wähler ihre Personenstimme abgegeben haben. Der estnisch-amerikanische Politologe Rein Taagepera hat dieses System deshalb wiederholt als Enttäuschungsmaschine der Wähler kritisiert.

Nichtsdestotrotz bietet dieses System parteilosen und unabhängigen Kandidaten die Möglichkeit zur Kandidatur. Dabei zu gewinnen ist in den zwölf etwas größeren Wahlkreisen einfacher, als vergleichsweise in Deutschland als Unabhängiger ein Direktmandat zu erringen, aber deshalb noch lange nicht einfach. Statistiker haben berechnet, daß in einigen Wahlkreisen ein Einzelkandidat, um gewählt zu werden, 20% der Stimmen erhalten muß – ein schier unerreichbares Ziel, wohingegen in Raplamaa es nur 7% bedürfe, doch hier kandidierten mit Ministerpräsident Andrus Ansip und seinem zweimaligen Vorgänger Mart Laar sehr bekannte estnische Politiker.

Mit einem Wort, ein Erfolg ist nicht ausgeschlossen. Bevor sich das estnische Parteiensystem nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991 stabilisiert hatte, gelang das 1992 zwei Politikern und anschließend bei Parlamentswahlen nicht wieder. Indrek Tarand ist damit die dritte Ausnahme, die dieses Jahr zahlreiche Personen zur Kandidatur ermunterte. Neben vielen Nationalisten und sonstigen auch zwielichtigen Gestalten etwa die bekannte Sängerin Siiri Sisask.

Die Unwägbarkeiten beschreiben die Politologen Rein Toomla und Ott Lumi; sehr viele Wähler entschieden sich erst in der Woche vor dem Urnengang, die Parteien dürften also ihre Bemühungen nicht ruhen lassen, zumal dieses Jahr die Umfragewerte Achterbahn fahren. Die Zentrumspartei hat deshalb die Wahlkommission aufgefordert, dem Vorbild anderer europäischer Länder zu folgen und die Veröffentlichung von Umfragen so kurz vor den Wahlen einzuschränken (, was kein Thema für jene ist, die auf Umfragewerte pfeifen wie der fleißige Estland-Blog Kommentator "moevenort"). Die Nervosität der Partei Savisaars erklärt der Journalist Kalle Muuli damit, daß gerade für sie ein schlechteres Ergebnis als 29 Sitze dramatisch wäre nach vier Jahren in der Opposition, während die Popularität der Regierung in der Wirtschaftskrise gelitten habe.

Ein weiterer für den deutschen Beobachter überraschender Aspekt ist, daß ab sofort alle 625 Wahllokale täglich von zwölf bis acht Uhr abends geöffnet sind, um den Menschen, die sich am Wahltag nicht am Wohnort befinden, die Stimmabgabe zu ermöglichen. Dieser Punkt streift ein viel diskutiertes Thema diverser Wahlrechte, wie man den Bürgern das Wählen zwecks Steigerung der Wahlbeteiligung bequemer machen kann. Während es in Deutschland nur die auch in Estland bekannte Briefwahl gibt mit dem Nachteil, daß daheim niemand so recht prüfen kann, wer wie wählt, kann man im benachbarten Lettland am Wahltag und nur am Wahltag in einem beliebigen Wahllokal abstimmen. Während das dort auch bedeutet, im entsprechenden von fünf Wahlkreisen des Landes abzustimmen, kann der estnische Wähler auch andernorts eine Stimme für seinen Wahlkreis abgeben.

Mit dem geflügelten Wort E-stonia, ein Wortspiel mit dem für den elektronischen Cyberspace stehenden E und dem Namen des Landes auf Englisch, wird beschrieben, was in Estland noch geht: man kann auch elektronisch im Internet wählen. Identifikationskarten wurden schon vor längerer Zeit eingeführt, es bedarf am Rechner nur des entsprechenden Lesegerätes. Darüber hinaus kann man in diesem Jahr sogar erstmals per Handy wählen (Die Doppeldeutigkeit des Verbs wählen läßt sich übrigens auch im estnischen – „valima“ – nicht vermeiden). Dennoch, die meisten Wähler gehen traditionell am Wahltag ins Wahllokal.
P.S.:
Am Montag wandten sich zahlreiche Einzelkandidaten an die Wahlkommission mit einem Protestschreiben gegen die Übertragung von Stimmen unerfolgreicher Kandidaten an die starren Listen der Parteien auf nationaler Ebene. Hinter dem Anliegen steckt aber offensichtlich mehr der Wunsch nach Sichtbarkeit in den Medien. Die Einzelkandidaten befürchten - zu Recht - daß viele Wähler, die keine Partei wählen wollten, wegen der in allen Zeitungen als gering bezeichneten Aussicht der Parteilosen Mandate zu erringen, erst gar nicht zu Wahl gingen. Viele Wähler hätten Angst, so die Einzelkandidaten, daß ihre Stimmen im Falle der Erfolglosigkeit ihres Kandidaten an eine andere Partei übertragen wird. Das ist, wie die Wahlkommission betonte, freilich nicht so. Das gilt nur für Kandidaten mit Parteizugehörigkeit. Mit einem Wort, selbstverständlich werden die Stimmen erfolgloser Einzelkandidaten an niemanden übertragen und sind damit verfallen. Da das Parlament Riigikogu 101 Mandate hat, die in jedem Fall vergeben werden, erhalten die verfallenen Wähleranteile so indirekt andere Parteien Das gilt aber auch für alle Stimmen für Parteien, die unter der 5%-Hürde blieben. Ein Sturm im Wasserglas also, ein hilfloser Akt der Einzelkandidaten gegen Wahlenthaltung. Letztendlich ist es für den Wähler egal, ob er nicht zur Wahl geht oder einen erfolglosen Einzelkandidaten wählt. Das Ergebnis ist das gleiche.

Sonntag, 20. Februar 2011

Estland vor Entscheidung politischer Kontinuität

Der estnische Politologe Rein Toomla behauptete bereits in seinem 1999 erschienen Buch über die Parteien in Estland, das Land habe ein Parteiensystem. In der Politikwissenschaft beschreibt dieser Begriff die Gesamtheit der Parteien eines Staates inklusive Diskussionen über relevante Parteien, also jene, die es wenigstens ins Parlament schaffen. Wenn also Toomla 1999 sagte, Estland habe ein Parteiensystem, dann meinte er damit dessen Prognostizierbarkeit. Er argumentierte, daß es schon vorher offensichtlich sei, welche Parteien den Sprung in die nächste Wahlperiode schaffen.

Toomlas Behauptung erwies sich bislang als richtig. Während in den südlichen Nachbarländern Parteienspaltungen und -vereinigungen sowie Neugründungen nichts Ungewöhnliches sind, so wurde die „jüngste“ Partei Estlands bereits 1994 vom früheren Nationalbankpräsidenten und heutigen EU-Kommissar Siim Kallas gegründet.

Anfang März finden turnusgemäß Parlamentswahlen statt, und es bleibt dabei: Welche Parteien vertreten sein werden, ist so gut wie sicher. Das ist zunächst die regierende Reformpartei, die Gründung von Kallas, die Zentrumspartei des Volksfront-Regierungschefs Edgar Savisaar, der auf nationaler Ebene trotz regelmäßig großer Wahlefolge von den anderen Parteien als Partner meist abgelehnt wird und deshalb seit Jahren das Bürgermeisteramt in der Hauptstadt der Oppositionsbank vorzieht sowie die Union aus Vaterland und Res Publica. Letztere war vor ungefähr zehn Jahren als Saubermannpartei gegründet später in der Vereinigung aufgegangen. Außerdem werden die nach vielen internen Streitigkeiten angeschlagenen Sozialdemokraten wohl Mandate erzielen. Ob die Volksunion, die vorwiegend die Landbevölkerung anspricht, und die Grünen die 5%-Hürde überspringen werden, gilt als unsicher, aber nicht unwahrscheinlich.

Die derzeitig regierende Minderheitsregierung aus Reformpartei und Vaterland unter Ministerpräsident Andrus Ansip hat sich gegenüber zahlreichen Wahlversprechen der Sozialdemokraten bereits ablehnend geäußert. Dieser Schritt ist insofern von Interesse, als diese bis vor rund einem Jahr der Koalition angehörten und wegen eines Streites über die Arbeitsmarktpolitik Ansips die Regierung verlassen hatten. In den vergangenen 20 Jahren haben aber die Sozialdemokraten immer wieder mit den nationalen und liberalen Kräften koaliert und nicht mit der sich regelmäßig sozialdemokratisch gerierenden Zentrumspartei zusammengearbeitet.

Damit wird eine Fortsetzung der bisherigen Regierungsarbeit in der bisherigen Koalition sehr wahrscheinlich. Ansip wird im Land von vielen Menschen geachtet, weil Estland durch die Finanzkrise trotz aller Schwierigkeiten immer noch besser gesteuert wurde als sein südlichen Nachbar Lettland. Seiner Reformpartei werden 40% zugetraut. Aber Umfrageinstitute geben zu bedenken, daß unter den gegebenen Umständen unentschlossene Wähler einen bedeutenden Einfluß haben könnten. Wichtig ist auch die Frage, wie viele Wähler ihre Stimme den Einzelkandidaten geben. Nach estnischen Wahlrecht ist es möglich, als Einzelperson um ein Mandat zu kandidieren.

Rein Toomla meint deshalb, daß angesichts auf dieser Weise „verfallender“ Stimmen die Reformpartei sogar mit unter 50% der Stimmen eine absolute Mehrheit der Sitze erzielen könnte, was eine echte Sensation für die estnische Politik bedeutete. Ein solches Szenario würde freilich um so wahrscheinlicher, je eher die Grünen und die Volksunion tatsächlich an der 5%-Hürde scheitern würden.

Sicher scheint nur eins. Politisch wird sich in Estland kaum etwas verändern.

Donnerstag, 17. Februar 2011

Europa und Lettland verstehen sich schlecht

Es gehört zum Selbstverständnis einer liberalen Demokratie – darunter versteht die Politikwissenschaft vor allem Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung – alle Einwohner am politischen Prozeß zu beteiligen. Daß sich Lettland und sein nördlicher Nachbar Estland 1991 dagegen entschieden, allen Einwohnern automatisch die Staatsbürgerschaft zuzugestehen, stieß immer wieder auf heftige Kritik im Westen und Besuche des Hohen Kommissars für nationale Minderheiten der OSZE, Max van der Stoel, gehörten in den 90er Jahren zu den besonders pikanten Ereignissen.

Auf der einen Seite wollten die baltischen Staaten dazugehören, möglichst schnell allen westlichen Organisationen beitreten, was ihnen bei Europarat und OSZE auch zügig gelang. Andererseits gab es noch erhebliche Schwierigkeiten, die Werte dieser westlichen Gemeinschaften zu teilen. Aber beide Organisationen hatten auch seit ihrer Gründung in der Zeit des kalten Krieges die Aufgabe, Forum für den Dialog von Staaten mit unterschiedlichen Werten zu sein.

Gleichzeitig fiel es den westlichen Organisationen schwer zu verstehen, wie der Osten tickt, der sich doch gerade anscheinend die westlichen Werte zu übernehmen anschickte. Und im Falle von Estland und Lettland und der Staatsbürgerschaft wurde vermutlich manchmal weder ordentlich zugehört noch in die Geschichtsbücher geschaut. Eine willkürliche Entscheidung war es in beiden Ländern nicht. Der Kompromiß sah schließlich so aus, daß die OSZE in Estland und Lettland 1993 Missionen eröffnete, die beide Staaten in der Ausarbeitung ihrer Gesetzgebung im Zusammenhang mit der recht großen „Minderheit“ beriet und unterstützte. Diese Arbeit genügte schließlich für die Aufnahme von Beitrittsgesprächen zur EU. Bereits drei Jahre vor dem erfolgreichen Abschluß wurden die Missionen 2001 schließlich geschlossen.

Während der Vorsitz Litauens in der OSZE, die in den vergangenen zehn Jahren deutlich an Bedeutung verloren hat, bevorsteht, bleiben alle drei baltische Republiken Mitglied. Und einen Hochkommissar gibt es immer noch. Nach dem Niederländer Max von der Stoel ist es derzeit der Norweger Knut Vollenbek, der jetzt Lettland besuchte und die lokale Politik erneut provozierte. Er schlug vor, den Staatenlosen Lettlands das Wahlrecht zuzugestehen.

Das wäre freilich ein Präzedenzfall. Während in den USA ohne Melderegister selbst der Wahlbürger nur theoretisch einer ist, solange er sich nicht aktiv um seine Rechte gekümmert hat, würde eine Wahlberechtigung von nicht Staatsbürgern dieses Institut in Frage stellen.

Es sei an dieser Stelle erwähnt, daß Estland den Staatenlosen das kommunale Wahlrecht wegen deren Konzentration im Nordosten des Landes gewährt. Ein vergleichbarer Schritt in Lettland hätte zur Folge, daß die Zahl der Wahlberechtigten gerade in der Hauptstadt Riga sprunghaft steigen würde. Das ist insofern bemerkenswert, als in Ermangelung anderer Spielfelder für Politiker und Parteien die kommunale Politik in den Hauptstädten des Baltikums stark politisiert ist.

Vollenbek begründet seinen Vorstoß mit einer stärkeren Einbindung der Staatenlosen in die Gesellschaft. Vor dem Hintergrund der Integrationsdebatte in Frankreich und Deutschland darf behauptet werden, daß in Estland und Lettland in der Tat viele Menschen, die der Titularnation nicht angehören, eine Parallelgesellschaft bilden, nur ihresgleichen treffen und auch medial in einem anderen Informationsraum leben.

Außenminister Ģirts Valdis Kristovskis von der Einigkeit widersprach diesem Anliegen wie erwartet. Erwartet nicht nur als Vertreter der Regierung und des größeren Koalitionspartners, sondern auch durch seine politische Vergangenheit, die ihn über mehrere Parteien vor seinem Schritt zur Einigkeit eine politische Heimat bei den Nationalisten hatte finden lassen, für die er bis 2009 im EU-Parlament saß. Sein Argument ist jedoch entlarvend: ein Teil der Gesellschaft betrachte es sowieso nicht für erforderlich wählen zu gehen und viele seien an einem Erwerb der Staatsbürgerschaft nicht einmal interessiert.

Ersteres kann mit Fug und Recht ein wissenschaftlicher oder journalistischer Beobachter behaupten. Aus dem Munde eines Politikers klingt es nach Kapitulation oder stiller Freude. Daß viele Staatenlose tatsächlich kein Interesse an einer Einbürgerung zeigen, hat hingegen verschiedene Gründe. Ein wichtiger sind die besseren Reisemöglichkeiten nach Rußland mit dem grauen Paß, der in Richtung Westen wiederum kaum Einschränkungen gegenüber Staatsbürgern kennt. Würde man den Staatenlosen das Wahlrecht zugestehen, widerspricht sich Kristovskis schließlich selbst, nähme man ihnen die letzte Motivation zur Einbürgerung.

Vollenbek wiederum betonte verstanden zu haben, daß Lettland noch viel zur Integration zu leisten habe. Sprachkurse seien wichtig, so der Hochkommissar, wie ihm viele Menschen versichert hätten. Aber dies ist bei in Lettland lebenden Russen sicher auch gern ein vorgeschobenes Argument, während andererseits viele Letten sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, in Anwesenheit von Russen zu schnell und bereitwillig in deren Sprache zu wechseln und ihnen damit die Möglichkeit zur Praktizierung der eigenen Sprachkenntnisse zu nehmen.

Fest steht wohl nur so viel, auch 20 Jahre nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion ist dieses Thema noch nicht abgehakt.

Dienstag, 15. Februar 2011

Estland kitzelt den russischen Bären

Während auf der Berlinale ein Film des deutschen Regisseurs Cyril Tauschi über den früheren russischen Oligarchen Michail Chodorkowsky (Михаил Ходорковский) gezeigt wird, wird in Estland eine Briefmarke mit seinem Konterfei und dem des ebenfalls verurteilten Geschäftspartner Platon Lebedew (Платон Лебедев ) herausgegeben.

Initiator ist offensichtlich Severin Tarasov, der in Estland eine Firma leitet, die mit Metallen handelt und gleichzeitig bei Baltiski Memorial aktiv ist. Diese NRO hilft Menschen in der ehemaligen Sowjetunion bei Nachforschungen über die eigene Familie und unterstützt das Erlernen von Fremdsprachen bis hin zu einer Übersiedlung nach Estland. Tarasov begründet das Erscheinen der Marke mit dem Engagement der beiden ehemaligen Geschäftsleute. Das Motiv war im Rahmen des Programmes „Minu Mark“ (meine Briefmarke) eingereicht worden, daß jedem gegen eine Gebühr erlaubt, gültige Briefmarken mit dem eigenen Motiv zu bestellen. Der Preis hängt von der Menge und vom Nennwert ab.

Der Entwurf der Marke stammte von dem aus Weißrußland stammenden Künstler Perepetschin und die Marke hat den Nennwert von 0,58 Euro oder neun estnischen Kronen. Soviel kostet ein Brief ins europäische Ausland.

Während die meisten Bestellungen aus Rußland kommen, hat der Autor dieser Zeilen bislang keine Kommentare der estnischen Presse entdeckt.

Montag, 14. Februar 2011

Wie korrupt ist Lettland wirklich? (aktualisiert)

Lettland schneidet in Untersuchungen über Korruption regelmäßig schlecht ab. Dabei geht es meist nicht um die kleinen Dinge, daß etwa Verkehrspolizisten Strafen auf dem kurzen Dienstweg erledigen, sondern es häufig um die Erlangung von Vorteilen unter Ausnutzung der Dienststellung Viel ist ein offenes Geheimnis, ohne daß es je gelungen wäre, die „großen Fische“ zur Strecke zu bringen. Die Hafenstadt Ventpils mit ihren Unternehmen Ventsbunkers und Ventspils Nafta und der Bürgermeister der Gemeinde, Aivars Lembergs, der nicht erst einmal vor Gericht stand und 2007 sogar einige Monate inhaftiert war, gehört zu den bekanntesten Fällen.

Ein wenig in Vergessenheit geraten ist der Skandal um die drei Millionen verschwundenen Lat. 1995 war die Banka Baltija dank ihrer Pyramidengeschäfte zusammengebrochen. Der Liquidator David Berry wollte acht Millionen vom Energieversorger Latvenergo zurückbekommen, um die Ansprüche der Gläubiger zu bedienen, doch das Unternehmen erklärte sich für außerstande zur Rückzahlung. Daraufhin wurde ein Geschäft über Liechtenstein eingefädelt, von wo aus Berry sofort fünf Millionen erhalten sollte, und die Liechtensteiner sollten sich die acht von Latvenergo dann später holen. Nachdem Berry sein Geld erhalten hatte, wurde bekannt, daß Latverngo acht Millionen bereits vorher nach Liechtenstein überweisen hatte.

Ein großer moralischer Skandal damals auch, weil viele Kleinanleger ihr Geld verloren hatten. Der Chef der Bank, Aleksander Lavent, erklärt sich seit nunmehr fünfzehn Jahren für verhandlungsunfähig aus gesundheitlichen Grünen. Ob ein Prozeß jedoch etwas würde klären können, ist nicht gewiß. Der damals eingesetzte Untersuchungsausschuß des Parlamentes scheiterte ebenso. Der Journalist Jānis Domburs und die damalige Mitarbeiterin von Transparency International, Inese Voika, veröffentlichten das Buch „Kurš nozaga 3 miljonus?“ – wer stahl die drei Millionen. Eine anstrengende Lektüre, bei der es nach drei Seiten schwierig wird, den Ausführung ob der Vielzahl der erwähnten Personen zu folgen.

Ebenso undurchsichtig ist die Figur Vladimir Vaškevičs, dessen Geschichte im Gegenteil zu den vorherigen eine unendliche zu werden droht. Im Mai 2007 wurde das Fahrzeug des damaligen Chefs der Kriminalabteilung des Zoll durch einen Sprengsatz zerstört. Verhaftet wurde Edgars Gulbis, der vorher unter anderem im Sicherheitsdienst der Staatskanzlei und der Präsidentenkanzlei tätig gewesen war. Im Herbst flüchtete Gulbis unter mysteriösen Umständen während einer Überführung aus einem Wagen der Polizei, als dieser gerade den Fluß Daugava überquerte. Gulbis sprang in die Daugava und wurde von seiner Lebensgefährtin aufgelesen, die sich in unmittelbarer Nähe befand. Gulbis wurde dennoch erneut festgenommen. Weder der Anschlag noch der Fluchtversuch sind aufgeklärt worden. Vaškevičs wurde ins Finanzministerium versetzt, wo er für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität verantwortlich war.

Jetzt ist Vaškevičs von der Anti-Korruptionsbehörde verhaftet worden. Man wirft im vor, 50.000 Euro Bestechungsgelder an Mitarbeiter des Finanzamtes gezahlt zu haben, um eine Kontrolle der Steuern konkreter Personen zu verhindern. Finanzminister Andris Vilks erklärte, unter diesen Umständen könne Vaškevičs freilich nicht mehr im Finanzministerium arbeiten. Nach Aussagen seines Anwalts hatte Vaškevičs kurz zuvor Briefe ans Finanzministerium und die Anti-Korruptionsbehörde gesandt und mitgeteilt, daß er Provokationen gegen seine Person erwarte.

Journalisten haben inzwischen weitere Details ermittelt, demnach hat Vaškevičs im Interesse einem konkreten Unternehmer im Rigaer Freihafens gehandelt. Es soll sich um Vasilij Roskov handeln, der im Transitgeschäft tätig ist. Probleme gab es demnach mit einer Ladung gefrorenem Hühnerfleisch. Üblicherweise hat man solche Waren als Transitgeschäft nach Rußland deklariert, letztlich aber in Lettland verkauft, wobei der lettische Staat um die entsprechenden Steuereinnahmen betrogen wird.

Das Geld wurde bei einem Treffen auf einer Bowlingbahn an den Chef der Zollverwaltung in der Finanzverwaltung, während die Nation gebannt auf die Ereignisse in Jēkabpils schaute, Tālis Kravalis, übergeben. Die beiden Amtspersonen kennen sich seit den 80er Jahren, als sie etwa gleichzeitig beim Rigaer Zoll zu arbeiten begonnen hatten. Dabei meinen die Journalisten einem Kampf innerhalb der Finanzverwaltung auf die Spur gekommen zu sein, in dem Kravalis versucht, den Einfluß von Vaškevičs einzuschränken. Zu diesem Zweck wird um die Frage gerungen, wem die Kriminalabteilung des Zolls unterstellt ist.

Die Summe von 50.000 Euro gilt als ein großer Fall von Korruption, für den eine Haftstrafe von drei bis acht Jahren droht.

Das wirklich Überraschende an diesem neuen Vorwurf ist die Summe. Wieviel Geld muß mit "Hühnerbeinen" in Lettland verdient werden können, daß allein zur Verhinderung einer Steuerprüfung 50.000 Euro aufgewendet werden? Auch bleibt die Frage ungeklärt, wenn es sich um "durchfahrende Hühnerbeine" handelt, woher sie eigentlich stammen. Dieser neue Fall ist nicht weniger undurchsichtig als der oder die alten.

Sonntag, 13. Februar 2011

Babylonische Sprachverwirrung im neuen Gewand

Zwanzig Jahre lang hat die lettische Politik sich mit der Frage beschäftigt, wer wann wo in welcher Sprache spricht. Es war erst nach der Wahl im vergangenen Oktober, aus der die als russisch geltende Partei Harmoniezentrum als zweitstärkste Fraktion hervorging, diskutiert worden, wie mit russischstämmigen Abgeordneten zu verfahren sei, die den Ausschußsitzungen nicht folgen können, obwohl die Entscheidung, wer das Volk vertritt, in einer Demokratie dem Volk überlassen werden sollte. Immerhin wurde richtig konstatiert, daß kein Abgeordneter gezwungen werden könne, im Plenum eine Rede zu halten.

Bereits Anfang der 90er Jahre war Lettland in den westlichen Medien wegen vorgeblicher Diskriminierung der Russen in die Schlagzeilen geraten. Fernsehteams verfolgten Sprachinspektoren auf dem Rigaer Zentralmarkt, die dort bei den Marktfrauen prüften, ob sie auf Lettisch einen Kauf abwickeln können. Im Falle fehlender Sprachkenntnisse wurde ein Bußgeld fällig. Es ist auch zwanzig Jahre später keine Schwierigkeit, an diesem Ort auf des Lettischen nicht mächtige Verkäuferinnen zu stoßen.

Gleichzeitig hat sich ein allen sichtbarer Prozeß schleichend vollzogen, der plötzlich die Sprachfrage in einem ganz anderen Licht erscheinen läßt. Während die lettischen Jugendlichen früher beim Spielen im Hof oft schon im Vorschulalter Russisch lernten, es so später wie eine zweite Muttersprache beherrschten und dies als Lingua Franca der Sowjetunion vielerorts auch erforderlich war, ist Russisch nun kein Pflichtfach mehr an den Schulen, während die russischen Schüler Dank der 2004 heftig diskutierten Novelle des Bildungsgesetzes bis zu 60% des Unterrichts in Lettischer Sprache erhalten.

Die Verhältnisse haben sich also umgekehrt. Früher konnte in Lettland eigentlich jeder Russisch, während sich viele Zuwanderer um das heimische Lettisch nicht scherten. Heute ist dies die Staatssprache, ohne die beruflich mehr als Marktfrau zu sein schwierig ist. So können viele junge Letten kein Russisch, während die Lettischkenntnisse ihrer russischen Altersgenossen zunehmend besser werden.

Das hat Folgen auf dem Arbeitsmarkt. Selten, daß bei einer ausgeschriebenen Stelle nicht Kenntnis des Russischen verlangt wird. Die offizielle Staatssprache mag Lettisch sein, doch im Geschäftsleben ist es selbstverständlich, dem Kunden entgegen zu kommen. Die Abgeordneten der nationalistischen Fraktion „Alles für Lettland!“ / Für Vaterland und Freiheit brachten jetzt einen Gesetzentwurf ein, der lettische Jugendliche ohne Kenntnis der russischen Sprache vor Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt schützen soll. Die Nationalisten argumentieren, daß inzwischen sogar in vielen staatlichen Unternehmen Russisch-Kenntnisse Voraussetzung für jedweden Arbeitsplatz seien. Eine solche Diskriminierung der eigen Nation gebe es in keinem anderen europäischen Land. Die Partei verlangt, es dürften Fremdsprachkenntnisse zumal in einer nicht offiziellen Sprache der EU nur dann verlangt werden, wenn diese für die Tätigkeit unerläßlich seien.

Der langjährige Verkehrsminister Ainārs Šlesers berichtete im Plenum von einer Anekdote. Mit einem estnischen Gast in einem Restaurant russisch parlierend habe ein junges lettisches Mädchen die Bestellung auf Englisch aufnehmen wollen, weil sie überhaupt kein Russisch verstand. Seither habe er sie dort nicht mehr gesehen. In der Hotellerie sei es erforderlich, neben lettisch wenigstens noch Englisch und Russisch zu können, und jede weitere Sprache erhöhe die Konkurrenzfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt. Den Gesetzentwurf der Nationalisten bezeichnete er als Rache an der während der Sowjetzeit vorherrschenden russischen Sprache. Eine Verordnung der Regierung, welche die Forderung nach Russisch nur für Jobs mit Kundenkontakt erlaube, halte er im reellen Leben für nicht umsetzbar, weil die Arbeitsgeber einen anderen Grund finden würden, den Kandidaten mit Russisch-Kenntnissen einzustellen.

Obwohl die Nationalisten im Parlament nur über acht von einhundert Mandaten verfügen, stimmten für ihren Antrag immerhin insgesamt 34 Abgeordnete, während sich 22 enthielten und 32 mit nein votierten.

Die Nationalisten blieben allerdings die Antwort schuldig, ob in irgendeinem europäischen Land Arbeitssuchende mit weniger Kenntnissen als die Konkurrenz geschützt werden.

Wertestarre

Seit Jahrzehnten wird viel über Werte diskutiert,in den Feuilletons wie in der Politikwissenschaft. Während es in den Gazetten eher um moralische Aspekte eines erwünschten Wohlverhaltens geht, ist aus wissenschaftlicher Sicht der Wertekanon einer Gesellschaft auch wichtig für die Funktion des Staatswesens. In den 80er Jahren wurde der seit der 68-Bewegung einsetzende Wertewandel (Ronald Inglehart) diskutiert und als Werteverfall (Elisabeth Noelle-Neumann) von konservativen Apologeten in Frage gestellt.

Mancherorts änderten sich die Dinge langsam, so wurde den Frauen das Wahlrecht im Schweizer Kanton Appenzell Innerrhoden erst 1990 zugestanden, nachdem die Verweigerung der Mehrheit der Männer gerichtlich als verfassungswidrig eingestuft worden war. In anderen umstrittenen Fragen wie dem Schwangerschaftsabbruch oder auch der Ehescheidung gibt es in den demokratisch regierten Ländern sehr unterschiedliche Regelungen.

Auffällig ist unter dem Strich nur, daß Liberalisierungen in katholisch beeinflußten Ländern länger gedauert haben. Hier wurde das Frauenwahlrecht teilweise erst später eingeführt als in der Türkei. Für Abtreibungen gibt es einen regen Tourismus und in Irland blieb Paaren, die sich auseinandergelebt hatten, lange nichts anderes übrig, als eben einfach getrennt zu leben. Auffällig ist aber auch, daß in den sozialistischen Diktaturen Osteuropas manches schon viel früher viel freier gehandhabt wurde. So kam es nach der Wiedervereinigung 1990 zu heftigen Debatten im Bundestag über die Abtreibungsregelung.

Samuel Huntington prognostizierte mit the chlash of civilization zu Beginn der 90er Jahre, künftig würden Konflikte nicht mehr zwischen Staaten oder Ideologien ausgetragen, sondern zwischen Zivilisationen, die sich genau in solchen Werten unterschieden. Dies schien 9/11 zu bestätigen. Und so müßten die diversen christlichen Kulturen Europas eigentlich die abendländische Zivilisation ausmachen.

Zwischen diesen Ländern gibt es freilich viele Gemeinsamkeiten, dennoch haben sich trotz aller ideologischen Bemühungen in 50 Jahren Diktatur in den Gesellschaften der post-sozialistischen Staaten in vielen Punkten im Vergleich zu Westeuropa archaische Einstellungskomplexe erhalten. Das gilt für das Verständnis der Rolle von Mann und Frau besonders; hier ist die Frau, die neben dem Vollzeitjob den Haushalt alleine versorgt und sich um die Kinder kümmert, nicht selten. Aber es gibt auch eine sehr ablehnende Haltung gegenüber Andersartige in jeder Form. Das betrifft Studenten anderer Hautfarbe ebenso wie Homosexuelle.

Aus Rußland ist dies vielleicht durch die Medien bekannt, aber auch in den baltischen Ländern fliegen bei Homosexuellen-Paraden Eier und Tomaten. Die Veranstaltungen kommen ohne Polizeischutz nicht aus. Aber nicht genug damit, daß sich viele Menschen im Baltikum für liberal halten, wenn sie der Meinung sind, es sei ihnen egal, was andere im Bett machen, aber man müsse ja auf der Straße nicht die Bevölkerung mit seiner „kranken“ Orientierung brüskieren. In Lettland gab es lange sogar ein Internet-Prtal „no-pride“.

Litauen fällt nunmehr in der Europäischen Union auf, weil die Parlamentarier gesetzlich gegen homosexuelle vorgehen wollen. Dem setzte sich einstweilen die neue Präsidentin Dalia Grybauskaitė entgegen. Die im Land populäre, unverheiratete Politikerin war vorher Kommissarin der EU-Kommission in Brüssel.

Jüngst hat nun das EU-Parlament die derzeitig konservative Regierung Litauens aufgefordert, Jugendlichen freien Zugang zu Informationen über Homosexualität zu ermöglichen. Hintergrund war, daß die Politiker in dem baltischen Land bis hin zu Romanen, in denen Homosexualität eine Rolle spielt, durch Zensur das Erscheinen zu verhindern suchten. Dies, so die EU-Parlamentarier, widerspreche der EU-Grundrechtecharta und stehe sogar im Widerspruch zur litauischen Verfassung. Die Abgeordneten sahen sich außerdem genötigt darauf hinzuweisen, es handele sich hier nicht um eine Einmischung in innere Angelegenheit, sondern alle EU-Staaten zu Achtung, Schutz und Förderung der Menschenrechte verpflichtet seien und es keine Anhaltspunkte gebe, daß sexuelle Aufklärung die Orientierung junger Leute beeinflusse. Ein solcher Hinweis klingt merkwürdig, doch in der Tat halten im Baltikum viele Menschen Homosexualität für eine „moderne“ Lebensform, zu welcher man junge Menschen „überreden“ könne.

Trotzdem bleibt das Leben für Homosexuelle im Baltikum schwierig. In Litauen wird immer wieder versucht, Paraden zu verbieten; und hinter dieser Entscheidung stehen laut Umfragen drei Viertel der Bevölkerung. In Lettland sind Verbote ebenfalls ausgesprochen worden mit dem Argument, die Behörden seien angesichts der zu erwartenden Proteste nicht in der Lage, die Veranstaltung zu schützen. Die Richter haben sich in diesen Fällen allerdings rechtsstaatlicher geriert als die Volksvertreter und haben die Paraden zugelassen.

Samstag, 5. Februar 2011

Anderer, neuer Menschenhandel

Es ist bekannt, daß viele Menschen in den armen und unterdrückten Ländern dieser Welt nach Europa wollen. Aber sind sie erst einmal da, ist das Bleiben das nächste Problem. Ein einfacher Kniff ist die Ehe mit einer Person, die EU-Staatsbürger ist. War der Menschenhandel (Beitrag von Sintija Langenfelde) früher darauf orientiert, junge „langbeinige Blondinen“ zur Prostitution zu zwingen, werden nun potentielle Bräute für fiktive Ehen geworben.

Über konkrete Fälle berichtet jüngst mehrfach die lettische Presse, da es sich nicht mehr nur um Einzelfälle handelt. Auch das Eurasische Magazin schrieb über in Irland lebende Männer vorwiegend aus Indien und Pakistan, die wegen der dortigen Gesetzgebung auf Frauen aus Drittstaaten angewiesen seien, um eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Im katholischen werden die meisten Ehen demnach vor einem Priester geschlossen, dessen Dokument dann aber überall anerkannt wird.

Dem neuen, anderen Menschenhandel ist mit dem bekannten gemein, daß die Opfer vorwiegend junge Frauen sind, auf deren Armut und Hoffnungslosigkeit im Heimatland spekuliert wird. Ähnlich werden auch lukrative Arbeitsangebote gemacht. Es gab zwar bereits früher immer wieder im ganzen Baltikum Plakataktionen, um die Menschen aufzuklären. Neben dem Schriftzug „tevi pārdos kā lelli – netici vieglai peļņai ārzemēs“ – Du wirst verkauft wie eine Puppe – glaub nicht an einfachen Verdienst im Ausland, war ein wie eine Marionette an Strippen hängendes Mädchen abgebildet. Doch auf dem Land erreichen solche Kampagnen die Betroffenen kaum, aber gerade dort ist die soziale Lage besonders prekär und fern der Stadt sind die Menschen sicher auch ein wenig leichtgläubiger.

Mit dem neuen Phänomen beschäftigt sich nun zunehmend die Botschaft Lettlands in Irland, an die sich verschiedene Mädchen hilfesuchend gewandt hatten. Für die lettische Öffentlichkeit schockierend dabei, daß zehn Prozent aller in Irland bekannt gewordenen Fälle von Scheinehen Frauen aus Lettland betreffen, das sind demnach 4.600 Fälle in zwei Jahren. Nach offiziellen Angaben sind 50% der in Irland lebenden Frauen aus Lettland mit Pakistani verheiratet, denen als Flüchtling oder Student die Aufenthaltsgenehmigung auslief. Das tribine.lv meldet empört, daß vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vier Personen Recht bekommen hatten, nachdem sie erfolgreich die Immigrationsgesetzgebung umgangen hatten.

Auch wenn die Warnungen nicht alle potentiell gefährdeten erreichen, so hat das Problem doch über Jahre eine gewissen Publizität genossen und viele Menschen wissen von den Gefahren, was nicht unbedingt abschreckt. So schreibt eine anonyme Kommentatorin bei tribine.lv im Internet, ihr werde das Gleiche angeboten und sie werde trotz der gelesenen Informationen darauf eingehen, schließlich könne man in Lettland so viel Geld nicht verdienen. Dabei seinen die Preise durch die Krise gefallen. Erhielt eine Scheinbraut früher 10.000 Euro, so könne das „Entgelt“ inzwischen auf nur ein Zehntel davon schrumpfen.

Das Eurasissche Magazin schildert Beispiele, in denen es nur zu psychischem Druck gekommen war. Das betroffene Mädchen habe den Bräutigam angefleht, sie gehen zu lassen, doch der habe ihr erklärt, wieviel Geld er bereits bezahlt habe. Die lettische Tageszeitung Diena berichtete von zwei 21 und 23 Jahre alten Lettinnen, die auch gewaltsamen Druck ausgesetzt waren. Es sei Arbeit bei Mc Donalds versprochen worden, doch vor Ort bekannt der fiktive Gatte das Leben des Mädchens zu kontrollieren, dessen Einkommen auf sein überwiesen wurde und der drohte, sie und ihren in Lettland verbliebenen Sohn zu töten. Die andere Lettin beklagte sich über das Desinteresse der irischen Polizei, brachte aber ihren Fall dennoch zu Anzeige, weil sie ihrer Freundin, die selbst in Dublin mit einem Pakistani verheiratet lebt und sie angeworben hatte, nicht verzeihen könne.

Freilich bleibt nicht aus, daß in den Internetkommentaren über die „latviešu zeltenes“ diskutiert wurde, die in aller Regeln eher nicht Anastasija hießen, um nur ein Beispiel zu nennen. Damit spielt der Kommentar auf den hohen Anteil russischer Bevölkerung in Lettland an, der zu einem großen Teil auch über die Staatsbürgerschaft verfügt. Es ist deshalb schwierig, glaubwürdige statistische Angaben darüber zu machen, wie häufig junge Russinnen Opfer sind, wenn die Presse von Mädchen aus Lettland spricht.

Freitag, 4. Februar 2011

Grenzgänger

Seit jeher lag die Stadt Walk auf der Grenze des estnisch bzw. Lettisch besiedelten Territoriums. Einzig gehörte die Stadt zum gemischtethnischen Livland, eine Grenze zu ziehen wurde erst nach der Unabhängigkeit Estlands und Lettlands 1918 erforderlich. Damals verblieb der größere Teil der Stadt den Esten. Während des kalten Krieges in der Sowjetunion durchzog den Ort dann wieder keine Grenze mehr, die Ironie der Geschichte nach dem Ende des kalten Krieges 1991 wieder gezogen wurde.

Innerstädtisch gab so es zeitweilig zwei Grenzstationen und einige gesperrte Straßen. Das bedeutete natürlich nicht, daß keine Esten mehr nach Lettland und Letten nach Estland fahren konnten. Probleme gab es trotzdem zahlreiche. Zunächst nämlich wurde zum Grenzübertritt noch gestempelt, Personalausweise gab es damals überhaupt nicht. Auf diese Weise waren die Pässe aber zügig voll und die Betroffenen waren gezwungen, vor Ablauf der Gültigkeit neue Dokumente zu beantragen. Manche Menschen wohnten im einen Teil der Stadt, arbeiteten aber im anderen. Für verwitwete Personen wurde sogar der Friedhofsbesuch damit plötzlich eine Geldfrage.

Besonders betroffen waren die Einwohner russischer Nationalität, Migranten aus der Sowjetzeit, die wegen der Gesetzgebung in Lettland und Estland mit dem Status der Staatenlosen besonders große Schwierigkeiten beim Grenzübertritt hatten, weil sie für das jeweils andere Land auch noch ein Visum benötigten.

Am schlimmsten traf es jedoch eine Reihe von estnischen Staatsbürgern, Bewohner einer kleinen Straße, die auf estnischer Seite põhja, Nordstraße, und auf der lettischen Seite savienības, Unionsstraße heißt. Die Esten hatten sich hier in der Sowjetzeit Eigenheime errichtet, von denen ein Teil sich nach der Grenzziehung von 1920 aber auf lettischer Seite befand. Der Vorschlag eines Staatsgebietsaustausches wurde von lettischer Seite abgelehnt.

Diese Probleme haben sich mit dem Beitritt zum Schengener Abkommen erledigt und das gilt auch für jene russischen Einwohner, die nach wie vor im Staatenlosen-Status leben. Andererseits haben sich Estland und Lettland in den vergangenen zwanzig Jahren sehr unterschiedlich entwickelt. Die Esten zahlen ab 2011 mit dem Euro, während die Letten noch immer unter den Folgen der Krise leiten.

Das trieb nun rund 15 im estnischen Valga arbeitende lettische Staatsbürger dazu, einem Aufruf des Bürgermeisters zu folgen, und sich auf der estnischen Seite offiziell anzumelden. Zurück geht die Situation auf Jobs in stabilen Unternehmen wie der Möbelfabrik, dem Fleischkombinat und dem Depo der estnischen Bahn. Hinzu kommen Vorteile finanzieller Natur wie ein höheres Kindergeld, niedrigere Steuern, eine wohnortnahe Gesundheitsversorgung – die Aufnahme von Letten ins Krankenhaus der estnischen Stadthälfte ist ansonsten nur mit EU-Versicherungsschein möglich, höhere Pensionsansprüche, deren zweite Säule im estnischen System vererbbar ist wie auch ein wenn auch geringfügig höherer Mindestlohn. Die Betroffenen tauschen ihren Verdienst in aller Regel nicht in die lettische Währung um, da Estland auch billiger sei.

Die Politik im lettischen Valka ist empört. Jeden Monat treffe man sich zur gemeinsamen Planung, offiziell heiße es, eine Stadt zwei Staaten, und dann müsse man von diesem Schritt aus der Presse erfahren. Pikant an der Einladung des estnischen Kollegen ist freilich, daß eine Anmeldung nur möglich ist für jene, die im estnischen Valga Freunde oder Verwandte haben, denn die Stadt hat einerseits keine Wohnflächen und wäre auch gesetzlich daran gehindert, diese Letten anzubieten. Insofern bedeutet die Ummeldung der 15 Personen nicht notgedrungen, daß diese auch physisch auf der estnischen Seite leben. Der Bürgermeister des estnischen Valga rechtfertigt sich jedoch mit dem Hinweis, daß ein Teil der Abgaben der in Valga Arbeitenden unabhängig davon, ob diese aus Lettland stammen oder in Estland in einer anderen Gemeinde leben, in die Hauptstadt überwiesen werden und nicht vor Ort verbleiben. Dies sei seine Motivation gewesen. Er versprach gleichzeitig, die entsprechenden Einnahmen in jedem Fall in die Verbesserung der Infrastruktur zu investieren.

Einen regen Verkehr und grenzüberschreitendes Wohnen gibt es auch in Hesinki und Tallinn, zwei Hauptstädte, die immerhin das Meer auf einer Entfernung von 80km trennt. Dennoch spricht man schon lange von Talsinki. Das Außenministerium in Riga hat bereits erklärt, daß es lettischen Staatsbürgern freistehe, ihren Wohnsitz in einem anderen Land zu nehmen.

Dienstag, 1. Februar 2011

Estland, der Euro und der Eurostreit

Kaum haben die Esten zum Jahreswechsel den Euro eingeführt, tauchten in der Hauptstadt Tallinn die ersten „falschen Fuffziger" auf, im konkreten Falle allerdings mache auch nur mit dem Nennwert von 20 Euro. Ministerpräsident Andrus Ansip, für den der Beitritt zur Eurozone lange Zeit ganz oberste Priorität gehabt hatte, erklärte dies mit Hoffnung der Betrüger auf mehr Erfolg in einer Gesellschaft, die sich noch nicht an die Gemeinschaftswährung gewöhnt hat. Ein neues Alltagsproblem für die Einwohner Estlands, denn Euro-Scheine zu fälschen ist natürlich lukrativer als die Banknoten einer so kleinen Währung wie der estnischen Krone.

Aber damit nicht genug löste die Einführung auch noch ein politisches Problem aus. Die Esten hatten sich bereits vor einigen Jahren per Umfrage dafür ausgesprochen, daß die Rückseite aller estnischen Münzen eine Karte der Republik Estland zieren solle. Aus Rußland kam der Vorwurf, die geprägten Umrisse entsprächen nicht den heutigen Grenzen Estland.

Der historische Hintergrund ist zu suchen in den Erfolgen der jungen estnischen Armee unter Johan Laidoner während des Befreiungskrieges nach dem ersten Weltkrieg gegen die ebenso junge Rote Armee. Die Esten brachte dies in eine günstige Position bei den Verhandlungen über die erstmals in der Geschichte erforderliche Grenzziehung. Nach der Inkorporation in die Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges korrigierten die Sowjets den Verlauf und schlugen einige estnische Gebiete nördlich und südlich des Peipussees der Russischen Republik zu, obwohl auch dort finno-ugrische Bevölkerungsgruppen lebten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bedeutete diese Grenze einen fortlaufenden Verstoß gegen den Friedensvertrag von Tartu von 1920, in dem das damalige Sowjetrußland für alle Zeiten auf Gebietsansprüche verzichtet hatte. Nichtsdestotrotz war die estnische Politik mit Ausnahme von Nationalisten pragmatisch genug, diese Gebiete nicht zurückzuverlangen. Der paraphierte Grenzvertrag ist jedoch aus Gründen diplomatischer Differenzen nach wie vor nicht in Kraft.

Die Reaktion der estnischen Seite auf den Vorwurf, es handele sich um ein „künstlerisches" Verständnis der Grenzen des Landes, war gewiß unglücklich, zumal es über den Entwurf des Künstlers tatsächlich Diskussionen gegeben hatte. Der estnische Botschafter in Rußland leugnete schließlich jedoch, die Umrisse enthielten russisches Territorium, und ein konzentrierter Blick auf die Münzen scheint den Vorwurf eher weniger zu bestätigen, und so beruhigten sich in dieser Frage die Gemüter schnell.

Die Erweiterung der Eurozone ist für viele Kritiker allerdings auch Anlaß, ihre bisherigen Thesen erneut vorzutragen und anhand des estnisches Beispiels zu belegen. Dabei werden regelmäßig „Mantras" wiederholt, die nicht nur „technisch" mit den Vor- und Nachteilen der Gemeinschaftswährung in Verbindung stehen, sondern oftmals auf Weltanschauung beruhen. Bei einigen Experten überrascht die Selbstsicherheit, mit denen diese hinlänglich bekannten Positionen von Apologeten der angebots- und nachfrageorientierten Ansätze vorgebracht werden, als hätten sich die Wirtschaftswissenschaften nicht auch schon früher geirrt. Weder die Stagflation in den 70er Jahren noch der „Zusammenbruch des Neoliberalismus" wurden in der breite prognostiziert. Ganz im Gegenteil wurden hier Axiome der Ökonomie erschüttert. Wie die Politikwissenschaft, welche den Zusammenbruch des Sozialismus nicht vorhergesagt hatte, könnte eine sich mehr als Sozialwissenschaft begreifende Ökonomie weigern, sich „den Schuh anzuziehen". Als man John Maynard Keynes vorwarf, seine Theorie werde langfristig nicht funktionieren, erwiderte er: „In the long run we are all dead". Die Vermutung liegt nahe, daß er damit nicht meinte, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein.

Doch in den Wirtschaftswissenschaften wird viel mit Methoden der sogenannten exakten Wissenschaften gearbeitet, Prognosen über Wirtschaftswachstum, Inflation, Zinsentwicklung oder Arbeitslosigkeit „ausgerechnet". Doch dabei gilt regelmäßig die ceteris paribus Klausel, die das reale Leben aber nicht kennt. Wirtschaft ist das Ergebnis des wirtschaftlichen Handelns aller Individuen. Das aber ist schwer zu prognostizieren, denn es ist nicht notwendigerweise rational, findet nicht unter Kenntnis aller Umstände statt und läßt sich folglich nur sehr mittelbar steuern. Geld ist in diesem System ebenso unwägbar, denn eine Banknote ist zunächst einmal nur ein Stück bedrucktes Papier, dem das wirtschaftliche Subjekt Vertrauen schenkt. Was geschieht, wenn dieses fehlt, hat die Zigarettenwährung nach dem Zweiten Weltkrieg gezeigt. Vertrauen ist aber nicht nur eine ökonomische, sondern zuvorderst auch eine psychologische Frage.

Das Vertrauen in den Euro wurde durch die Preiserhöhungen im Rahmen der Währungsumstellung zwar erschüttert, und der Konsument konnte dies durch eine Änderungen seines Kaufverhaltens nur bedingt bestrafen. Aber auch in Deutschland, wo viele gerne an ihrer liebgewonnen Mark festgehalten hätten, lehnt heute eine Mehrheit selbst vor dem Hintergrund der Krisendebatten den Euro nicht ab.

Die Kritiker haben Recht mit dem Hinweis auf die Schwierigkeiten mit einer Gemeinschaftswährung in einem Raum ohne gemeinsame Wirtschafts-, Sozial- und Steuerpolitik. Hier müßten die Politiker gefragt werden, die seinerzeit die Einführung des Euro beschlossen, ob sie damit eventuell die Absicht verbanden, das Pferd von hinten aufzuzäumen, also mit einer gemeinsamen Währung die weitere Integration der EU über kurz oder lang zu erzwingen.

Es ist aber auch richtig, daß EINE Währung in einem nicht homogenen Territorium nichts Ungewöhnliches ist und zu Konflikten führt. In Deutschland wollen drei Bundesländer gegen den Finanzausgleich klagen. Doch, provokativ gefragt, auf eine wie kleine Mikroebene sollte man mit einer Währung gehen, um Unterschiede zwischen armen und reichen Stadtvierteln NICHT zum Problem des Geldes werden zu lassen? Griechenland ist eine kleine Ökonomie im Euroraum im Vergleich zum bankrotten Kalifornien in den USA. Gewiß, während die Europäer Rettungsschirme spannen, kommen die Staaten der USA nicht für die Schulden der anderen auf, so wie es die „No bail out"-Klausel eigentlich auch für den Euroraum vorgesehen hatte. Es wäre jedoch sicher vermessen zu behaupten, daß 49 Staaten der USA mit einem Bankrott Kaliforniens schließlich keine Lasten zu tragen hätten – etwa durch Migration?

Niemand behauptet nun, daß die vier Professoren-Kläger in Deutschland Wilhelm Hankel, Wilhelm Nölling, Karl Albrecht Schachtschneider und Joachim Starbatty und andere Kritiker ausschließlich im Unrecht seien. Doch auch die Argumente der Befürworter sind nicht falsch. Traurig ist einzig, daß die meisten Experten in Publikationen und Talkshows dazu neigen, einzelnen Aspekten, die ihrer Kritik oder Befürwortung zupaß kommen, breiten Raum geben, andere Argumente aber aussparen. Auch mehr oder weniger anonymisierte Kommentatoren von Blog-Beiträgen berufen sich gerne auf genehme Texte, unter anderem trotz allgemein staatskritischer Meinung plötzlich auf gewesene Amtsträger und Vertreter der Mainstream-Medien wie der Staatsekretär von rot-grün im Wirtschaftsministerium Heiner Flassbeck, der heute bei der UNCTAD ist, und den Financial Times Deutschland-Journalisten Thomas Fricke. Beide Beiträge beruhen ausschließlich auf statistischen Daten, die Thesen untermauern. Es gibt aber noch mehr Datenmaterial und es ließen sich bezüglich des Euro außer vielleicht über Luxemburg über andere Staaten ähnlich kritische Beiträge verfassen. Von den USA und dem Dollar als Weltleitwährung nicht zu sprechen. Solche Artikel bestätigen nichts weiter als: ja, es gibt Probleme, die man im Auge behalten muß.

Aber zurück zu Estland: Die estnische Krone ist auf der Basis eines currency boards (1 DM: 8 EEK) eingeführt worden, die Nationalbank und die Regierung haben damit also von Beginn an auf die volle Autorität über ihre Währung verzichtet.

Und zurück zur Systemfrage: Mit einem Sammelsurium an zutreffenden Fakten langfristige Prognosen zu wagen, ist tatsächlich gewagt. Oswald Spengler prognostizierte 1918, mit den Napoleonischen Kriegen habe der Untergangs des Abendlandes begonnen.

Zurück zu Estland und der Eurozone: Einstweilen ist der Euro trotz aller Krisendiskussion stabil auch gegenüber dem Dollar, dessen Basis in den USA sich noch viel weniger sehen lassen kann als die europäische. Seine Leitwährungsfunktion wird weltweit zunehmend in Frage gestellt. Mit der Aufnahme eines Landes in die Eurozone, welches als eines der wenigen in der EU und der Eurozone die Maastricht-Kriterien erfüllt, ist auch ein Zeichen der Stärke, die EU zweifelt nicht an der Gemeinschaftswährung. Schwarzmalerei könnte psychologisch das Vertrauen aus dem Lot bringen.

Postimees meldete heute, daß 60% der Menschen in Estland, also nicht nur Esten, die Einführung des Euro befürworten.