Sonntag, 23. Dezember 2007

Ethnische Minderheiten in den baltischen Staaten

In Deutschland reagieren die Medien besonders sensibel auf das Thema ethnische Minderheiten, insbesondere seit den Bürgerkriegen im ehemaligen Jugoslawien. Die Wissenschaft reagiert meist nicht anders. So sind in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten besonders Estland und Lettland in der Presse zum Thema geworden, weil in diesen beiden Ländern viele Russen leben.
Dabei gelten die Russen oft als Synonym für die Minderheiten schlechthin, obwohl es gerade in Lettland auch Ukrainer und Weißrussen gibt sowie selbstverständlich Menschen aus anderen ehemaligen Republiken der Sowjetunion – die Russen stellen jedoch mit Abstand den größten Anteil.
Aus Beobachtungen werden viele Geschichten über das Zusammenleben der verschiedenen Volksgruppen in den baltischen Staaten berichtet, die sich mitunter diametral widersprechen. Richtig ist sicher, daß es in Lettland und Estland zwei parallele Gesellschaften gibt. Diskotheken und Kneipen, die von jungen Leuten besucht werden, haben entweder ein vorwiegend russisches Publikum oder eben ein estnisches respektive lettisches.
Gerade in Estland wird diese Tendenz durch eine räumliche Segregation verstärkt, die Russen leben außer in der Hauptstadt vorwiegend im Nordosten des Landes, im Landkreis Ida-Virumaa (in den Städten Narva, Sillamäe, Kohtla-Järve und Jõhvi) während im Süden, Zentralestland und auf den Inseln die Esten unter sich sind. Ein zweiter Grund ist der große Unterschied zwischen den beiden Sprachen. Beide Völker tun sich schwer mit der jeweils anderen Sprache. Das ist beides in Lettland ganz anders, wo die Russen in allen Städten etwa die Hälfte der Bevölkerung stellen. In Lettland gab es auch während der Sowjetzeit die höchste Zahl an Mischehen.
In der Wissenschaft äußerte sich beispielsweise der heutige Direktor des Berliner Wissenschaftszentrum, Wolfgang Merkel, in vielen Publikationen kritisch: Lettland sei ein guten Beispiel für demokratieabträgliche Diskriminierung und den Ausschluß der Russen von sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rechten.
Dieser Vorwurf ist teilweise einfach unzutreffend. Jeder russische Rentner, auch wenn er kein Wort in der Landessprache spricht, erhält natürlich seine Rente. Auch die wirtschaftliche Aktivität, etwa eine Unternehmensgründung, ist nicht an die Staatsbürgerschaft gebunden. Und besonders in Lettland pfeifen es die Spatzen von den Dächern, daß die Erwartungen an Hilfe vom Staat besonders unter Letten groß ist, die auch Beamte sein können. Die Vertreter der Minderheiten hingegen sind der wirtschaftlich aktivere Teil der Bevölkerung.
Einzig sind die Russen tatsächlich von der politischen Partizipation ausgeschlossen, was angesichts allgemeiner Politikverdrossenheit (siehe entsprechender Blog) für viele Einwohner ein vernachlässigbares Problem ist. Genügend Staatsbürger gehen sowieso nicht zur Wahl. Da die Russen in Estland an einigen Orten sehr konzentriert leben, genießen die Nichtbürger dort das kommunale Wahlrecht, was sich bis zu einigen Brüsseler Offiziellen bis heute nicht herumgesprochen hatte. 2007 hatte der Präsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, René van der Linden, anläßlich eines Besuches Estland in diesem Punkt kritisiert, woraufhin die estnische Parlamentspräsidentin, Ene Ergmaa, offiziell und schriftlich protestierte.
Trotz dieser Umstände und auch trotz des Umstandes, daß unmittelbar nach der Unabhängigkeit das Russische für eine Weile bei den Titularnationen der Baltischen Staaten unbeliebt war, kann nicht behauptet werden, daß die Durchschnittbevölkerung gegenüber einem einzelnen Russen die Rechnung der historischen Verbrechen der Sowjetunion aufmache. Nichts wird so heiß gegessen wie es gekocht wird. Und so gab im Baltikum es im Gegenteil zu Deutschland kein Hoyerswerda, Mölln oder Solingen. Die Ereignisse in Tallinn 2007 als Protest gegen die Versetzung eines Denkmals sind die einzigen ethnisch motivierten Ausschreitungen gewesen.
2004 befürchteten viele Ausschreitungen in Lettland am 1. September, der traditionell der erste Schultag ist. Damals trat ein neues Bildungsgesetz in Kraft, nach dem die russischen Schüler einen Teil der Fächer auf Lettisch unterrichtet bekommen. Eine diffizile Frage, geht es doch sowohl darum, daß Schüler den Stoff benötigen, aber die Sprache sollten sie auch gut erlernen.
Die meisten Vertreter der Russen sind zwar während der Sowjetzeit zugewandert, ein großer Teil der ethnischen Minderheiten lebt in Lettland aber schon viel länger. Lettland hat von 1629 bis 1918 eine territoriale Trennung mit wechselnden Herrschaften erfahren, was vorwiegend auf den Livländischen Krieg im 16. Jahrhundert und den großen Nordischen Krieg im 18. Jahrhundert zurückgeht, in denen Schweden, Rußland und Polen-Litauen um die Vorherrschaft im Baltikum rangen.
So geriet Lettland nach dem Zerfall des Livländischen Ordens unter schwedische und polnisch-litauische Herrschaft und selbst nach der dritten polnischen Teilung 1795, als das gesamte Baltikum an das Zarenreich fiel, blieb der Osten des Landes, Lettgallen, Teil des Gouvernements Vitebsk. Dies ist ein wesentlicher Grund dafür, warum gerade im an Weißrußland grenzenden Osten des Landes heute viele Weißrussen und Polen leben. Allerdings war auch Riga im ausgehenden 19. Jahrhundert ein Magnet, die viertgrößte Metropole des Zarenreiches war damals de facto wenigstens dreisprachig, Lettisch, Russisch und Deutsch.
Ein Teil dieser historisch im Baltikum siedelnden Minderheiten ist durch die tragischen Ereignisse vor und während des Zweiten Weltkrieges verschwunden. Die – nur in Estland und Lettland lebenden – Deutschbalten, die Nachfahren der im Mittelalter eingewanderten Ordensritter und Händler, die in den Städten wie auch durch Großgrundbesitz auf dem Lande über Jahrhunderte die Oberschicht bildeten, übersiedelten zum größten Teil 1939 „heim ins Reich“. Nur wenige Menschen blieben freiwillig im Baltikum. Die ehemals besonders in Lettgallen ansässige jüdische Bevölkerung wurde während des Zweiten Weltkrieges von den Nationalsozialisten ermordet. Unter der polnisch-litauische Herrschaft war die Gegend und Vionius vorher ein Zentrum der jiddischen Kultur.
Nichtsdestotrotz war die ethnische Zusammensetzung bis zum Zweiten Weltkrieg, also bis zur Okkupation der baltischen Staaten durch die Sowjetunion eine andere als gegenwärtig. In Estland waren annähernd 90% der Bevölkerung estnisch, in Lettland etwa 80%. Die Deutschbalten haben immer nur eine sehr kleine Oberschicht gestellt. Inklusive der zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der Sowjetunion noch stationierten Militärs war bis zu diesem Zeitpunkt in Lettland fast die Hälfte der Einwohner keine Letten. Dies ist zurückzuführen auf eine starke Migration in Richtung der baltischen Republiken. Nach dem Abzug 1994 ist der Anteil der lettischen Bevölkerung bei etwa 60%, dabei darf nicht vergessen werden, daß solche Zahlen auch immer davon abhängig sind, als was sich die Menschen, unabhängig von ihren Vorfahren, selbst fühlen.
Nun ist es umstritten, inwiefern von einer bewußten Russifizierungspolitik der sowjetischen Behörden gesprochen werden darf. Sicher ist, daß während der Sowjetzeit Esten und Letten sich politisch so weit zurückhielten, daß die Parteichefs ihrer Republiken im Gegenteil zu Litauen keine Einheimischen waren – respektive der Landessprache nicht mächtige, aus Rußland reimportierte Funktionäre. Während die Litauer den Bau neuer Fabriken immer wieder abwehrten, wurden in Estland und Lettland Werke dort errichtet, wo entsprechende Arbeitskräfte nicht ansässig waren und die dann einfach aus anderen Republiken angesiedelt wurden.
Darüber hinaus ist es richtig, daß noch unter Stalin viele Kriegsrückkehrer, und darunter nicht nur die Soldaten, sich zwar nicht mehr aussuchen durften, wo sie sich niederließen, die Rückkehr in ihre Heimat aber verwehrt wurde. Später jedoch gingen viele Russen gerne ins Baltikum, da dies in der Sowjetunion mit einer besseren Versorgungslage als der „Westen“ galt. Hinzu kam der Freizeitwert an der Ostseeküste.
Als die baltischen Staaten 1991 ihre Unabhängigkeit erlangten, hatte Litauen im Unterschied zu Estland und Lettland einen etwa der polnischen Minderheit entsprechenden russischen Bevölkerungsanteil von unter 10%. Betrachtet man die Zustimmungsrate bei den vorangegangenen Unabhängigkeitsreferenden, an denen noch alle Einwohner hatten teilnehmen dürfen, also auch die Russen, so kann konstatiert werden, daß dieser Bevölkerungsanteil sich ebenso von der Abkehr von Rußland ein besseres Leben versprach. Während sich Litauen in der Frage der Staatsbürgerschaft für eine Null-Lösung entscheiden konnte, das heißt jeder Einwohner konnte sie beantragen, erhielten in Lettland und Estland nicht alle Menschen automatisch einen Paß der nunmehr unabhängigen Republiken. Und dies stieß international auf harsche Kritik.
Hintergrund dieser Politik ist, daß sich Estland, Lettland und Litauen als die Fortsetzung der 1918 gegründeten Staaten verstehen, die nur ein halbes Jahrhundert nicht handlungsfähig waren. Somit erhielten zunächst einmal nur jene Personen, die vor 1940 Staatsbürger waren inklusive deren Nachfahren automatisch einen estnischen respektive lettischen Paß.
Das junge Sowjetrußland hatte in den Friedensverträgen von 1920 für alle Ewigkeit auf das Baltikum verzichtet, und die Aufnahme in die Sowjetunion 1940 wurde von kurz zuvor aus unfreien Wahlen hervorgegangenen Parlamenten beantragt. Diese Inkorporation in die Sowjetunion war international nie anerkannt worden.
Somit fanden sich die zur Unabhängigkeit positiv eingestellten Russen in einem fremden Nationalstaat wieder, was viele nicht erwartet hatten und dann eben auch ablehnten. Diese Menschen als Staatsbürger das Schicksal des neuen Staates mitgestalten zu lassen, hätte Instabilität nach sich ziehen können, denn Themen wie offizielle Staatssprache als Status für das Russische kämen einer Zementierung der Folgen von 50 Jahren Okkupation gleich.
Immerhin machten Estland und Lettland das Schicksal der Staatenlosigkeit nicht unausweichlich. Die ethnischen Russen konnten selbstverständlich die russische Staatsbürgerschaft erhalten. In beiden Fällen erhielten alle Menschen, die in den Jahren zuvor dauerhaft in Estland oder Lettland gelebt hatten eine Daueraufenthaltsgenehmigung. Niemand wurde also aus dem Land gedrängt und mit den Staatenlosen-Dokumenten war einzig je nach Staat die Reise ins Ausland mit einem häufigeren Erfordernis eines Visums verbunden.
Darüber hinaus gibt es die Möglichkeit, sich in Estland und Lettland einbürgern zu lassen, was mit Prüfungen der Sprach- und Geschichtskenntnisse verbunden ist, der nächste Punkt heftiger Kritik insbesondere aus dem westlichen Ausland. In der Tat sind beide Prüfungen insofern ein Problem, als der Geschichtsunterricht in der Sowjetzeit nicht ideologisch unbelastet war. Schlimmer noch aber wurden Fremdsprachen so gut wie nicht unterrichtet und eine Notwendigkeit oder auch nur Wünschbarkeit, die Sprachen der baltischen Republiken zu erlernen, wurde den dort angesiedelten Russen ausgeredet.
Auf der anderen Seite sind regelmäßig auftauchende Behauptungen, diese Prüfungen seien furchtbar schwierig, unzutreffend. In beiden Ländern müssen die Prüflinge vor einer Kommission von etwa fünf Damen in der Lage sein zu erklären, wie sie heißen, woher sie kommen, was sie beruflich machen etc. Dies muß nicht fehlerfrei sein, sondern halbwegs fließend und verständlich. Danach folgte in Estland ein Diktat von 100 Wörtern, in Lettland ein kleiner Aufsatz. Das entspricht einer halben DIN A4 Seite. Der Text lautete wie folgt: „Nach Tallinn kommen viele Touristen, viele Touristen wohnen in Hotel Viru, von Hotel Viru hat man einen schönen Blick auf die Altstadt“ und in diesem Stil weiter.
Wenn heute in der Presse von Diskriminierung der Russen in den baltischen Staaten die Rede ist, muß darauf hingewiesen werden, daß die wenigsten vor Ort lebenden Russen dies selbst so sehen – von einigen Verbandsfunktionären einmal abgesehen, die z.B. MdB Ulla Jelpke im Oktober 2007 gesprochen hat (siehe entsprechende Posts Jelpke 1 und Jelpke 2). Die meisten Russen wissen sehr genau, daß es ihnen im Baltikum besser geht als im Heimatland. Von Diskriminierung spricht vorwiegend Rußland selbst, diskriminiert aber die eigenen Leute bei der Visavergabe, wenn diese eine Staatsbürgerschaft des Baltikums haben.
Diese Friktionen haben in den letzten Jahren immer mehr nachgelassen. Und seit das Territorialprinzip der Staatsbürgerschaft gilt, das Deutschland übrigens auch erst im Jahr 2000 eingeführt hat, lösen sich die erwähnten Probleme biologisch.

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