Samstag, 30. Oktober 2010

Einmal Lette immer Lette?

Die Staatsbürgerschaft ist ein heißes Eisen in Lettland – immer gewesen seit der Unabhängigkeit 1991. 1998 gab es die letzte Änderung, überdies quasi per Referendum mit einer so komplizierten Frage einer doppelten Negation, daß kaum ein Wähler das wohl so richtig verstanden hat damals. Inzwischen ist Lettland Mitglied er europäischen Union, in deren andere Mitgliedsstaaten viele lettische Staatsbürger „ausgewandert“ sind. Damit stellt sich die Frage nach der doppelten Staatsbürgerschaft inzwischen ganz anders.


Ging es früher darum, ob im Exil aufgewachsene Letten darauf ein Recht haben sollen und wie es mit den Migranten der Sowjetzeit im Inland aussieht, so geht es heute darum, die im Ausland lebenden Letten an ihre Heimat in irgendeiner Form zu binden.


Für die doppelte Staatsbürgerschaft sind somit gerade einige Ältere, die sich als Beispiel für Rückkehrer nennen, wie der Abgeordnete der Einigkeit Uldis Grava. Die zuständige Behörde weist darauf hin, daß schon jetzt Kinder die lettische Staatsbürgerschaft erhalten ungeachtet der Frage, ob sie im Ausland lebend noch eine andere Staatsbürgerschaft zuerkannt bekommen. Die ehemalige Chefin der Einbürgerungsbehörde wehrt sich jedoch dagegen, im Ausland geborenen Personen die Staatsangehörigkeit zu gewähren, die selbst oder deren Eltern diese nicht direkt nach der Unabhängigkeit beantragt haben mit dem Vorwurf, dieser Personenkreis verfüge über keinerlei echte Bindung an Lettland, spreche die Sprache nicht und wisse mitunter nicht einmal, wo sich das Land befindet. Diese Personen benötigten nach ihrer Ansicht in Wahrheit nur irgendeine Staatsbürgerschaft eines EU-Mitgliedslandes. Der Gesetzentwurf verlangt keine Kenntnisse des Lettischen. Sie hält dies für ungerecht gegenüber über 70järhigen Menschen, die in Lettland geboren wurden, für die Einbürgerung einen Sprachtext aufzuerlegen.


Nach Auskunft der Behörden gibt es zur Zeit 30.000 Menschen mit lettischer Staatsangehörigkeit, die im Ausland leben und auch die Staatsbürgerschaft ihres Aufenthaltslandes besitzen. Dabei handelt es sich überwiegend um Flüchtlinge und deren Kinder, die während des Zweiten Weltkrieges Lettland verlassen und bis zum Stichtag 1995 die lettische Staatsbürgerschaft beantragt haben. Wer diesen Termin hat verstreichen lassen, kann zwar nach wie vor lettischer Staatsangehöriger werden, jedoch nur unter Verlust seiner bisherigen Staatszugehörigkeit. Dies würde die Novelle abschaffen.


Die Behörde gibt jedoch zu bedenken, daß noch 1998 die Praxis nur einer Staatsangehörigkeit weltweit der Standard war, aber angesichts einer höheren Mobilität und zahlreicher Mischehen mehr und mehr Staaten nicht nur die Doppelstaatsbürgerschaft, sondern sogar eine Mehrfachstaatsbürgerschaft tolerieren. Natürlich wirft dies zahlreiche Fragen auf. Niemand kann selbst entscheiden, ob er etwa mal Lette oder mal Kanadier sein möchte. Dies wäre im Falle von Straftaten und einer Verurteilung von Interesse, wenn es darum geht, wo die Haftstrafe anzutreten ist. Natürlich könne im Einzelfall ein Staat seine Bereitschaft erklären, einen Häftling bei sich aufzunehmen. Ein weiteres Thema wäre der Wehrdienst, der jedoch in Lettland vor knapp vier Jahren abgeschafft worden ist. Die Frage von kriegerischen Auseinandersetzung stellt sich einstweilen für lettische Bürger nicht – und das werde hoffentlich auch so bleiben im 21. Jahrhundert, so die Behörde.


Innerhalb der europäischen Union muß es jedoch inzwischen Möglich sein, die Staatsbürgerschaft des Aufenthaltlandes anzunehmen, so man die Bedingungen erfüllt, ohne auf diejenige des Herkunftslandes zu verzichten.

Schwierige Regierungsbildung

Obwohl die beiden größeren Parteien der bisherigen Minderheitskoalition von Valdis Dombrovskis in Lettland mit 55 von 100 Mandaten eine klare Mehrheit errungen haben, wird seit dem 2. Oktober in Lettland um die Bildung einer neuen Regierung gefeilscht.

Hierzulande sind Gentlemen Abkommen unbekannt, nach denen bei Abwesenheit von Koalitionsabgeordneten die Opposition Zufallsminderheiten verhindert. Statt die Opposition in die parlamentarische Arbeit mit einzubinden, wurden bislang auch hier die Posten von den Koalitionsfraktionen monopolisiert.

Angebote an das russisch dominierte Harmoniezentrum sorgten für Diskussionen und Spekulationen in der Regierungsbildung die vorwiegend auf die Uneinigkeit der Listenkoalition Einigkeit des Regierungschefs zurückgingen. Die einen stellten sich gegen die Einbeziehung der Russen quer und die anderen legten ihr Veto gegen die Beteiligung der Nationalisten erst im letzten Augenblick ein.

Die gleichen Animositäten sorgten für Schwierigkeiten bei der Ressortvergabe. Nicht nur, daß die Union der Grünen und Bauern offensichtlich alle schwierigen Ministerien etwa im Sozialbereich übernehmen sollten, sondern die Kräfte der Einigkeit konnten sich nicht einigen. Das führte zu einigen doch etwas überraschenden Entscheiden.

So kam es schließlich zum Vorschlag, den früheren Außenminister Artis Pabriks von der verhältnismäßig kleinen Gesellschaft für eine andere Politik mit dem Verteidigungsministerium zu betrauen und mit dem Titel des stellvertretenden Ministerpräsidenten zu entschädigen, während der frühere Verteidigungsminister Ģirts Valdis Kristovskis Außenminister werden soll.

Diese ehemalige Minister verschiedener Regierungen und EU-Abgeordneter war in den vergangenen zwanzig Jahren ein typisches Beispiel für Fraktionsnomadentum, zuletzt trat er aus der nun dramatisch reduzierten nationalistischen Partei Für Vaterland und Freiheit aus, nachdem man ihn dort nicht zum Vorsitzenden gewählt hatte.

Ihre Arbeit fortsetzen soll auch Innenministerin Linda Mūrniece, die von den Wählern nicht mit einem Parlamentsmandat ausgestattet worden war. Mūrniece ist in ihrer Amtszeit regelmäßig mit Positionen aufgefallen, die eher nicht im Einklang mit europäischen Werten stehen, so ihre drakonische Reaktion auf die Besetzung einer Brücke in Bauska als Protest gegen die Schließung des dortigen Krankenhauses.

Sonntag, 24. Oktober 2010

Da haben wir den Salat! II Geld für Vergewaltiger

Könnte einem noch einmal auf der Zunge liegen. Lettland wird 11.700 Euro an einen „Kinderschänder“ zahlen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteile Lettland zur Zahlung einer Entschädigung in dieser Höhe an einen ehemaligen Häftling des Gefängnisses in Daugavpils, der ein minderjähriges Mädchen mindestens drei Mal vergewaltigt hatte. Der Gerichtshof sieht es als erwiesen an, daß die Haftumstände unmenschlich waren und Lettland damit gegen die Menschenrechtskonvention verstoßen hat in Punkt 3. über eine menschliche Haft und Punkt 13. über medizinische Hilfe.

Der Leiter des im Volksmund als weißer Schwan bezeichneten Gefängnisses erklärte, es gehe hier vor allem darum, daß die Zellen überfüllt seien und die Gefangenen ihre Notdurft nicht allein verrichten könnten.

11.700 Euro sind für einen Durchschnittseinwohner in Lettland ziemlich viel Geld. Es wird der Bevölkerung schwer zu vermitteln sein, warum gerade ein Verbrecher eine so hohe Summe vom Staat erhält, zumal es sich um jemanden handelt, der sich an einem Kind vergangenen hat. Solche Verbrechen sind auch andernorts geeignet, Stammtische zur Befürwortung der Todesstrafe oder sogar Forderungen nach Lynchjustiz zu animieren.

Die lettische Presse erklärt, daß der Gerichtshof mit diesem Urteil keine Bewertung des Betroffenen abgegeben habe. Das Verbrechen hatte sich vor vielen Jahren in Ventspils ereignet. Der Vater des Mädchen hatte sie zu einem Besuch bei einem Bekannten – wohl dem Täter – mitgenommen und dort mit diesem gemeinsam Alkohol konsumiert. Als er später nach Hause ging, ließ er das Mädchen alleine zurück und warf sich vor einen Zug, nachdem er später aus der Zeitung von der Tat erfahren hatte. Der Täter hatte zwar vor Gericht geleugnet, doch das glaubte dem traumatisierten Teenager und verurteilte den Mann zu zehn Jahren Haft. Seit zwei Jahren ist er wieder auf freiem Fuß.

Theoretisch ließe sich gegen das Urteil in Berufung gehen, doch der Vergewaltiger wird daran wenig Interesse haben. Eine Vertreterin der Regierung erklärte einen eventuellen derartigen Schritt des Staates für aussichtslos, da die Gefängnisse in Lettland über Jahrzehnte nicht renoviert worden seien. Eine Mitarbeiterin des Ombudsmannbüros kommentierte, man lebe schließlich nicht mehr im Mittelalter, wo die Folter in feuchten Räumlichkeiten dazu führe, daß sich die Gefangenen die Tuberkulose einfangen. Ganz im Gegenteil wird von Regierungsseite zugegeben, daß es eine falsche Strategie war, die klagenden Ex-Häftlinge zu entschädigen, statt das Geld in die Renovierung der Gefängnisse zu stecken. Es gebe bereits mehrere ehemalige Häftlinge, die eine entsprechende Klage in Straßburg eingereicht haben.

Da haben wir den Salat! I Machtteilhabe für Nationalisten

Das könnte einem auf der Zunge liegen. Daß sieben von acht Abgeordneten der sich selbst Nationale Vereinigung nennenden künftigen Fraktion der 10. Saeima mit dem unsäglichen Namen „Alles für Lettland! Für Vaterland und Freiheit / LNNK“ – letztere Abkürzung stammt ursprünglich von der nationalen Unabhängigkeitsbewegung, was schon seit Jahren auch in der lettischen Innenpolitik nicht mehr atschiffriert wird – stammen, hat sich in der internationalen Presse herumgesprochen. Selbst die Süddeutsche Zeitung spricht von der Einbeziehung von Rechtsextremen in die Regierung und einem Rechtsruck in Lettland.

Daß der erste Satz des vorangegangenen Absatzes schwer verständlich ist, ist Absicht.

Eigentlich braucht Dombrovskis die Nationalisten nicht, seine Koalition käme auch ohne auf 55 von 100 Mandaten. Insofern ist es unverständlich, warum die Nationalisten nach langen Diskussionen über andere Modelle der Kooperation zwischen den im Parlament vertretenen Kräften berücksichtigt werden. Gewiß, 55 von 100 Sitzen gilt im instabilen lettischen Parteiensystem als zu wenig und die gezimmerte Koalition sieht auf den ersten Blick aus wie die Fortsetzung der Minderheitsregierung vor den Wahlen. Aber es sieht eben nur so aus, denn die nationalistische Fraktion ist nicht mehr das gleich wie zuvor.

Dombrovskis hatte den Nationalisten darum Forderungen gestellt: Sie dürfen ihrerseits keine Forderungen nach Repatriierung der Migranten aus der Sowjetzeit und Motionen bezüglich der Unterrichtssprache an Schulen einbringen. Der stellvertretende Chef der Nationalisten, Imants Paradnieks, fügte sich dem unter Hinweis, in einem Staat mit Meinungsfreiheit bedeute dies schließlich nicht, daß er künftig persönlich seine Ansichten nicht mehr äußern dürfe.

Darum überrascht es nicht, daß der Listenkoalition nur ein Ministerium angeboten wird und dann auch noch ausgerechtnet das Justizministerium. Dzintars Rasnačs, ein früherer Amtsinhaber, ist der letzte verbliebene Abgeordnete der alten politischen Kraft.

Donnerstag, 21. Oktober 2010

Diskriminierung der Russen im Baltikum – alte Kamellen?

Der Uno-Ausschuß gegen Rassendiskriminierung hat Estland aufgefordert, öffentliche Dienstleistungen zweisprachig anzubieten und auf die Bestrafung der Nichteinhaltung des Sprachgesetzes zu verzichten. Gleichzeitig sollten mehr kostenlose Sprachkurse angeboten werden. Es wird empfohlen, im kommenden Jahr die Aufgaben der Sprachkommission zu überprüfen, denn die bisherige Praxis könne als Diskriminierung verstanden werden und negative Gegenreaktionen auslösen. Der Ausschuß regt außerdem eine Vereinfachung der Einbürgerung an.


Darüber informierte sich eine estnische Delegation nach der 61. Sitzung des Ausschusses in Genf.


Die Bewertung der Situation der in Estland und Lettland lebenden Russen wird seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 im „Westen” kritisch gesehen. Beide Staaten gewährten nicht allen Einwohnern die Staatsbürgerschaft und verlangen für Berufe mit Kundenkontakt entsprechende Kenntnisse der Landessprache. Von 1993 bis 2001 berieten Missionen der OSZE die Regierungen in Tallinn und Riga.


Von Journalisten befragte Kursteilnehmer im Tallinner Kulturzentrum Lindakivi, berichtet die Zeitung Postimees, zeigten sich erfreut, Kurse gebe es viele, aber eben nicht kostenlos. Außerdem empfände man es tatsächlich als Diskriminierung, mit der Polizei im Bedarfsfall auf Estnisch über technische Dinge sprechen zu müssen.


Das Bildungsministerium plant jedoch keine wesentlichen Änderungen, wenn auch an eine weniger scharfe Anwendung der Bestrafungsmethoden gedacht werde. Kassierte Estland noch 2007 349.890 Kronen, so verringerte sich die Zahl der Fälle um 233 und um insgesamt mehr als 250.000 Kronen, knapp 16.000 Euro.


Der Ausschuß bemängelte ebenfalls, daß einstweilen wenige Vertreter der ethnischen Minderheiten in öffentlichen Ämtern arbeiteten und ist der Ansicht, der estnische Staat müsse alle Anstrengungen unternehmen, diese Situation zu verbessern. Da es in den vergangenen Jahren nur wenige Beschwerden wegen Rassendiskriminierung gegeben habe, soll nun Estland beweisen, daß dies nicht durch fehlenden Kenntnisse der Betroffenen über ihre Rechte begründet ist.


Dem erwidert das Bildungsministerium, daß in Tallinn und Ida Virumaa die Angestellten der öffentlichen Hand in aller Regel hinreichend Russisch sprächen, eine große Anzahl in Ida Virumaa aber nicht unbedingt Estnisch.


Daß Außenministerium weist darauf hin, daß der Ausschuß letztlich keine Rechte habe, gegen eine Nichtbeachtung der Empfehlungen Sanktionen zu verhängen, doch Estland habe mit der Ratifizierung der Internationalen Konvention die Aufgabe übernommen, Diskriminierung zu verhindern.


Die Internationale Konvention gegen Rassendiskriminierung wurde 1965 in New York verfaßt. Estland trat ihr 1991 bei. Alle Mitgliedsstaaten müssen regelmäßig Berichte über die Situation in ihrem Land vorlegen. Artikel 1 lautet: „In diesem Übereinkommen bezeichnet der Ausdruck «Rassendiskriminierung» jede auf der Rasse, der Hautfarbe, der Abstammung, dem nationalen Ursprung oder dem Volkstum beruhende Unterscheidung, Ausschließung, Beschränkung oder Bevorzugung, die zum Ziel oder zur Folge hat, daß dadurch ein gleichberechtigtes Anerkennen, Genießen oder Ausüben von Menschenrechten und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder jedem sonstigen Bereich des öffentlichen Lebens vereitelt oder beeinträchtigt wird.“


Nun ist es gewiß zutreffend, daß eine Situation, in welcher eine beachtliche Zahl von Staatenlosen in einem Land leben, wie dies in Estland und Lettland der Fall ist, in keiner Weise erstrebenswert ist, zumal die Idee des Nationalstaates aus dem 19. Jahrhundert stammt und im Zeitalter der Globalisierung zunehmend an Bedeutung verliert. Verständlich wird dies in den genannten Fällen durch die Sorge, auf dem eigenen Territorium zur Minderheit zu werden. Andererseits müssen sich die Estland und Lettland vorwerfen lassen, in den vergangenen 20 Jahren nach einer anfänglichen Ausgrenzung von der Staatsbürgerschaft – und nur von dieser (!) – nicht genug zur Integration unternommen und die Ausbildung von Parallelgesellschaften geflissentlich toleriert zu haben.


Gerade gegenüber deutschen Besuchern wird in Ablehnung gern mit „den Türken“ verglichen, obwohl schon zahlenmäßig der Vergleich hinkt und der Unterschied zwischen einem „Okkupationsvolk“ und angeworbenen Gastarbeitern auf der Hand liegt. Daß Estland und Lettland nach 1991 angesichts einer tragischen Geschichte zunächst einmal die Konsolidierung des eigenen Volkes wichtig war, ist verständlich. Die Vernachlässigung einer Lösung der ethnischen Spaltung fällt den Staaten jedoch nun auf die Füße, wie auch das Wahlergebnis in Lettland jüngst zeigt. Die von den lettischen Nationalisten 1993 ausgerufene Parole, alle Sowjetmigranten müßten das Land verlassen, wäre ein Verstoß gegen die Menschenrechte. Die Altkommunisten warben damals mit der Losung, das Rad der Geschichte ließe sich nicht zurückdrehen.


Diskriminierung scheint seit 1991 in Estland und Lettland immer das falsche Wort gewesen zu sein, denn es ist ja nicht so, daß jemand an sozialem, wirtschaftlichem und politischem Handeln gehindert worden wäre. Viele Russen gehören zu den Reichen im Land. Ausgrenzung trifft es besser.

Donnerstag, 14. Oktober 2010

Nicht wählen und falsch parken verboten

40 von 141 Abgeordneten des litauischen Parlament (Seimas) sind dafür, daß die Bürger ihres Staates künftig wie in der EU in Belgien, Griechenland, Zypern und Luxemburg an die Urne gezwungen werden sollen. Die Türkei und Australien kennen eine solche Regelung ebenfalls. Auf diese Weise, so meinen die Vertreter verschiedener politischer Kräfte, werde die politische Partizipation erhöht.


Welche Vor- und Nachteile eine Wahlpflicht mit sich bringt, ist seit langem umstritten. Es kann kein Zweifel bestehen, daß ein Parlament, welches von einer überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung gewählt worden ist, eine höhere Legitimität besitzt. Eine geringe Wahlbeteiligung ihrerseits kann Ausdruck einer allgemeinen Zufriedenheit sein wie der lettisch-estnische Politologe Veiko Spolītis für den Fall Estland zu bedenken gibt, es kann aber auch ganz im Gegenteil Hoffnungslosigkeit ausdrücken, mit der eigenen Stimme etwas beeinflussen oder gar verändern zu können, wie Dorothée de Nève in ihrem Buch über Nichtwähler beschreibt.


Unabhängig davon sind in Litauen mit 48,6% bei den letzten Parlamentswahlen weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten an die Urnen gegangen. Zum Vergleich: Im benachbarten Lettland waren es diesen Oktober wie schon 2006 immerhin 62%. Freilich ist eine deutlich geringere Wahlbeteiligung als in Deutschland, wo viele Menschen ganz ohne Vorschriften Wählen als Bürgerpflicht empfinden, in demokratischen Staaten nichts Ungewöhnliches.


Die geringe Beteiligung hat in Litauen nach der Unabhängigkeit 1991 aber regelmäßig zu Problemen geführt. Das hiesige Grabenwahlsystem sieht vor, daß 71 Abgeordnete in Einmannwahlkreisen gewählt werden. Einst war eine Mindestbeteiligung von 40% vorgesehen, damit das Ergebnis überhaupt Gültigkeit erlangt und ein Kandidat als gewählt gilt. Da dies gelegentlich nicht erreicht wurde, blieben teilweise Mandate im Parlament unvergeben, weshalb das Wahlgesetz nicht nur einmal geändert wurde.


Ein post-sozialistisches Land mit Wahlpflicht könnte jedenfalls eine interessante neue Erfahrung für die Politikwissenschaft liefern.

Rund wie eine Münze und eckig wie eine Karte ...

… waren Telefonzellentelefone in Deutschland nicht, sondern umgekehrt, als das Bargeld beim Telefonieren aus Zellen verdrängt wurde. Mit der mobilen Telefonie kamen die Münzfernsprecher zurück. In Estland sieht das ganz anders aus.


Seit vielen Jahren schon kann man mit dem “Handy”, um diesen pseudo-Anglizismus zu verwenden, in Estland etwa die Parkgebühr bezahlen. Das Land der Skype-Erfinder hat sich im IT-Bereich und rund um das Mobiltelefon immer gerne als Vorreiter geriert. Jetzt zieht sich die estnische Telekom, die seit Jahren Elion heißt, aus dem Geschäft mit der Telefonzelle, die hierzulande schon ewig keine Zelle mehr ist, zurück, und zwar bereits in Kürze, zum ersten Dezember 2010.


Elion begründet den Schritt mit den hohen Kosten für den Unterhalt der auch als Taksofon bezeichneten Fernsprecher. Dem gegeüber stehe eine durchschnittliche tägliche Nutzung von nur einer Minute. Die Kundschaft nutze im Vergleich zu 2004 die öffentlichen Telefone 30 Mal seltener.


Die Besitzer von Telefonkarten können noch bis zum 30. November mit den Apparaten telefonieren und sich später die restsumme auszahlen lassen.

Mittwoch, 13. Oktober 2010

Regierungsbildung im Dickicht von Anspruch und Möglichkeit

Obwohl das Wahlergebnis in Lettland eigentlich gleich mehrere Kombinationen einer Koalitionsbildung ermöglicht und sogar die bisherige in Minderheit regierende Koalition eine deutliche Mehrheit erhalten hat, ist die Regierungsbildung nicht einfach. Ursächlich dafür ist das Wahlergebnis im Detail.

Dank des Wahlsystems mit lose gebundenen Listen stimmt das Wahlvolk nicht nur ab, welche Parteien in das Parlament einziehen, sondern bestimmen auch die Zusammensetzung der Fraktionen. Alle fünf politischen Kräfte, welche die 5%-Hürde überwunden haben, sind Parteikoalitionen, innerhalb derer durch die Wähler die Kräfte gründlich neu veteilt wurden.

Die konservativ-nationale Alles für Lettland / Für Vaterland und Freiheit / LNNK wird nun von ersterer Partei mit sieben der acht Abgeordneten dominiert. Obwohl Ministerpräsident Dombrovskis anfangs vorgab, darin kein Problem zu sehen und die Reputation der Liste in Europa als deren eigene Aufgabe bezeichnete, scheint es hinter den Kullissen sowohl aus der Rigaer Burg vom Präsidenten als auch durch Botschaften westlicher Länder Widerstand gegen eine Regierungsbeteiligung zu geben, zumal die beiden anderen Partner auch ohne die Nationalisten 55 von 100 Sitzen im Parlament halten.

Aus eben denselben Quellen scheint die Empfehlung erfolgt zu sein, das russische Harmoniezentrum nicht mehr wie während der letzten 20 Jahre auszugrenzen, sondern in den politischen Alltag mehr einzubeziehen. Dombrovskis war anfangs ja auch mit dem Vorschlag vorgeprescht, neben der Zusammenarbeit im Parlament der Partei auch ein Ministerium anzubieten.

Abgesehen davon, daß dieser Schritt für die Nationalisten nicht in Frage kommt, ist auch in der Einigkeit nicht mehr die Neue Zeit tonangebend, sondern die eindeutig konservativere Bürgerliche Union aus der heraus Ablehnung verlautbart wurde.

Es ist darum kein Wunder, daß seit dem Wahlsamstag aus den verschienenen Parteizentralen wie auch von einzelnen Politiker ein Hin und Her zu hören ist über eventuelle Kombinationen, Ausschußvorsitze und das Parlamentspräsidium. Schon innerhalb der Einigkeit des Regierungschefs gibt es Streit um die Ressortverteilung.

Während also offensichtlich von verschiedenen Seiten Ablehnung zu vernehmen ist, Alles Für Lettland ein Ministerium anzuvertrauen, leidet wiederum das Harmoniezentrum an einem Mangel an kompetentem politischen Personal.

Diese Umstände sprechen insgesamt nicht dafür, daß die nächste Regierung, voraussitchtlich wieder unter der Führung von Valdis Dombrovskis, sehr stabil und lange im Amt sein wird.

Letten sitzen im Kalten auf Schulden

Über die Krise und die wirtschaftliche und soziale Situation in Lettland wurde bereits bereichtet. Es gibt inzwischen Tafeln wie in Deutschland und es gibt “soziale Werbung”, etwa eine Plakataktion mit einem halb mit Lebensmitteln bedeckten und halb leeren Teller nebst der Aufschrift, man möge nicht halb Lettland hungrig zu Bett gehen lassen.


Die Probleme der Privathaushalte lassen sich jedoch nicht nur daran und an wieder steigenden Auswanderungszahlen erkennen; vor Beginn des Winters machen sich die Schulden einzelner Mieter auch für deren Nachbarn unangenehm bemerkbar.


Es ist Mitte Oktober und in Riga wird es langsam so kühl, daß sich abendlich der Wunsch einstellt, die Heizung einzuschalten. In vielen Merhfamilienhäusern und vor allem in den Blockhäusern aus der Sowjetzeit wurde die Heizperiode allerdings schon früher von der Stadtverwaltung festgelegt. Nun aber gibt es zahlreiche Mieter, die noch aus dem Vorjahr Schulden bei den Heizkosten haben. Und darunter leiden alle Mitbewohner, denn auch wenn die Stadtverwaltung versprochen hat, kein Gebäude im Winter unbeheizt zu lassen, bedeutet die Nachbarschaft zu einem Schuldner, daß das eigene Haus erst später berücksichtigt wird und auf dem Lande, wie das lettische Radio jüngst berichtete, möglicherweise mancherorts überhaupt nicht berücksichtigt wird.


Nun hat das Radio als weiteres Beispiel die Mieter eines Hauses in der Valdemāra Straße besucht. Von 50 Parteien haben in dem Gebäude zwei ihre Heizkosten des letzten Winters nicht beglichen; bei einem beläuft sich die Summe auf mehr als anderthalb Tausend Lat, das sind deutlich mehr als zweitausend Euro. In Anwesenheit der Journalisten wurde versucht, den Schuldner zur Rede zu stellen, doch der öffnete die Wohnungstür nicht.


Auch beim Besuch im Büro der Hausverwaltung in einem anderen Gebäude konstatieren die Reporter, daß es wegen Schuldner im selben Haus nach wie vor kalt ist. Die Hausverwaltung will nun endlich juristisch gegen die Schuldner vorgehen, doch ein Gerichtstermin stehe noch nicht fest. Einstweilen würde die Verwaltung gerne selbst einen Kredit aufnehmen, um die Schulde zu begleichen, doch ob dies gestattet wird, hat die Stadtverwaltung noch nicht bestätigt. Rücklagen für einen solchen Fall wurden nicht gebildet.


Hier macht sich bemerkbar, daß die Privatisierung in Lettland nicht konsequent durchgeführt werde. Die Wohnungen wurden durch Vpucher nach der Unabhängigkeit privatisiert, aber es sind keine Wohnungseigentümergemeinschaften der Parteien eines konkreten Gebäudes entstanden. Vielfach verwaltet eine in kommunaler Hand befindliche Institution gleich ganze Stadtviertel.

Letten in Afghanistan

Am Dienstag hat der Regierung hinter verschlossenen Türen beschlossen, einer Verlängerung des Afghanistan-Mandates im bisherigen Umfang von 175 Soldaten zuzustimmen. Verteidigungsminister Imants Lieģis von der Bürgerlichen Union erklärte, dies sei der Beitrag seines Landes zur Stärkung der nationalen und internationalen Sicherheit. Am Donnerstag wird der Beschluß dem Parlament vorgelegt.


In der lettischen Bevölkerung ist die Mission in Afghanistan kein wichtiges Thema. Militärisches hat schon vor der Einführung der Berufsarmee im Jahre 2007 keine Diskussionen provoziert. Überhaupt gtib es wenig durch die Medien ausgetragene öffentliche Dispute im Lande, die dann auch an (an solchen kaum existierenden) Stammtischen, im Freundes- und Familienkreis ihre Forsetzung fänden.


Im engerem Umkreis der entsandten Soldaten ist der Einsatz in Afghanistan natürlich sehr wohl ein Thema. Dabei geht es unter anderem um den guten Sold, der die Soldaten in die Lage versetzt, ihre Kredite auf einen Schlag zurückzuzahlen.


Die an der Regieung beteiligte Union von Grünen und Bauern hatte sehr wohl im Wahlkampf unter anderem damit geworben, die Soldaten in nächster Zeit abzuziehen. Doch das ist ein natürlich dehnbarer Begriff. Eigentlich könnte die Partei eventuell auf die Unterstützung der russischen Kräfte Harmoniezentrum und der im nächsten Parlament nicht mehr vertrenen Für die Rechte des Menschen in einem integrierten Lettland im Parlament hoffen. Der Partei- und Fraktionsvorsitzende Augusts Brigmanis wies jedoch darauf hin, daß Lettland internationale Verpflichtungen eingegangen sei und seine Partei darum bei dieser Abstimmung gegen eine Verlängerung des Mandats nicht stimmen werde.

Mittwoch, 6. Oktober 2010

Die Grenzen der repräsentativen Demokratie

Über Politikverdrossenheit wird nicht erst seit gestern gesprochen. Dabei erheben viele Bürger regelmäßig Einspruch, sie sehen sich nicht als politk-, sondern als parteienverdrossen oder auch politikerverdrossen. Die politische Elite sei abgehoben und höre nicht auf das Volk und verstehe es auch oft nicht.


Wenn es dann in einem Land, das Rechtsstaat und repräsentativen Demokratie ist, zu Protesten des Ausmaßes von Stuttgart kommt, dann ist innehalten angesagt. Was ist jetzt plötzlich los? Wie konnte es dazu kommen?


Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg hat Recht, wenn er auf das rechtsstaatliche Verfahren hinweist, in dem über Jahre hinweg Stuttgart 21 beschlossen wurde und hinzufügt, es habe vorher nie Proteste dieses Ausmaßes gegeben. Von der Logik aus betrachtet ist es verständlich, daß die Politik im Ländle die Beschlüsse schließlich auch mit Polizeigewalt umsetzt. Auch das ist alles im Rahmen des Rechtsstaates.


Doch an dieser Stelle argumentieren andere, man könnte nicht mit solcher Aggressivität gegen friedliche Demonstranten vorgehen. Hier sei zunächst einmal dahingestellt, ob einzelne Teilnehmer der Demonstration das Pfefferspray vor der Polizei eingesetzt haben. Fest steht vielmehr, daß die Politik auf dem vorgesehenen Weg über Jahre hin eine Entscheidung vorangetrieben hat, die viele Menschen aus den verschiedensten Bevölkerungskreise für falsch halten.


Aber warum wachen sie erst jetzt auf? Nicht jeder Bürger verfolgt den administrativen Prozeß im Detail, was wann entschieden wird. Es ist verständlich, daß der Durchschnittsmensch ein Projekt erst dann so richtig zur Kenntnis nimmt, wenn die Entscheidung realisiert wird. Dagegen wäre viele, hätten sie die Pläne im Detail gekannt, vielleicht früher schon gewesen.


Ließe sich von Seiten der Politik nicht eine Parallele zur Jugendkriminalität ziehen? Der Vergleich scheint weit hergeholt, doch auch hier wird immer diskutiert, daß zur Disziplinierung jugendlicher Delinquenten die Strafe möglichst zügig auf die Tat folgen müßte. Folglich muß sich die Politik den Vorwurf gefallen lassen, daß sie das Projekt über Jahre hinweg vielleicht auch nicht deutlich genug kommuniziert hat.


Freilich, im konkreten Fall kommt erschwerend hinzu, daß es keinen Kompromiß zwischen Befürwortern und Gegnern geben kann, der Bahnhof kann ja nur entweder gebaut oder nicht gebaut werden. Aber gerade deshalb bleibt das Beispiel ein Lehrstück dafür, daß die Kommunikation zwischen Bevölkerung und Politik zu wünschen übrig läßt. Und auch wenn Deutschland ein politisches System hätte wie die Schweiz, in der regelmäßig über alle möglichen Frage direkt abgestimmt wird, würde die Lösung auf diesem Wege auch wieder voraussetzen, daß wenigstens einige Aktivisten sich ständig auf dem laufenden halten, um dann als Multiplikatoren die Bevölkerung zur Beteiligung zu motivieren.