Samstag, 20. Juli 2013

Esten machen Ernst mit Demokratie

Demokratie heißt Volksherrschaft. Und wenn das in vielen Demokratien vorwiegend bedeutet, einmal in vier Jahren zur Wahl zu gehen, dann haben die Esten im letzten Herbst Ernst gemacht mit der Einberufung eines rundes Tisches aus Ottos Normalverbrauchern, also durchaus auch nicht organisierten Menschen.

Grund für diesen Schritt war eine weit verbreitete Stimmung, die in Deutschland unter dem Begriff Politikverdrossenheit bekannt ist. Und das vor einem überraschenden Hintergrund. Estland gilt als baltischer Tiger unter den postsozialistischen Ländern, hat 2011 den Euro eingeführt und mit Ministerpräsident Andrus Ansip einen liberalen Regierungschef, der seit 2005 im Amt ist – ein einsamer Rekord unter den Transformationsstaaten im Osten Europas. Und obwohl er nun in den vergangenen Jahren immer wieder gewählt worden war, regte sich seit 2012 mehr und mehr Unmut über einsame Entscheidungen der politischen Elite und den Regierungsstil Ansips.

Ins Rollen kamen die Proteste durch den ehemaligen generalsekretär der Reformpartei, Silver Meikar, der vergangenes Jahr an Die Öffentlichkeit ging und berichtete, er habe über Jahre geld aus anonymen Quellen erhalten und wie ihm geheißen an die Partei weitergeleitet. Zunächst reagierte diese darauf mit einer generellen Leugnung und schmiß den Politiker aus ihren Reihen. Doch der Skandal zog schnell weitere Kreise und schließlich mußte Justizminister Kristen Michal zurücktreten.

Das führte im Herbst 2012 zu Massendemonstrationen, weldeh die Hauptstadt Tallinn lange nicht gesehen hatte. Intellektuelle verfaßten eine Charte, in der sie vom Zerbröseln der Demokratie im Lande sprachen, die inzwischen von fast 20.000 Menschen online im Internet unterzeichnet worden ist. An der Spitze der bewegung stand Marju Lauristin, eine Aktivistin aus der Umbruchszeit zum Ende der Sowjetunion, die in den 90er Jahren einmal Ministerin war und den Sozialdemokraten angehörte, im Hauptberuf jedoch als Universiotätsprofessorin wirkte.

Die Politik mußte schließlich handeln. An die Spitze setzte sich Präsident Toomas Hendrik Ilves , der im November Vertreter der Zivilgesellschaft in den alten Eiskeller des Schlosses Kadriorg, dem alten Amtssitz einlud. Nicht ganz unerwartet für ein Land, das sich gerne auch E-stonia nennt, wurde die Protestbewegung weitgehend über das Internet organisiert. Über eine eigens eingerichtete Seite konnte jeder Einwohner Estlands Vorschläge unterbreiten, womit sich die Politik dringend einmal beschäftigen müsse. Diese wurden dann von Experten gesichtet und strukturiert, so daß am Ende 18 Arbeitspunkte dem vom Präsidenten einberufenen Runden Tisch zur Diskussion vorgelegt.

Dieser Runde Tisch bestand aus ca. 300 Personen von mehr als 500 ausgewählten, welche sich dann tatsächlich die Mühe machten, in die Hauptstadt zu fahren. Ausgewählt wurden sie weitgehend nach dem Zufallsprinzip. Es handelte sich also nicht um ein Gremium von Vertretern der organisierten Zivilgesellschaft. Gerade aus den ländlichen Gebieten waren zahlreiche Kandidaten nicht angereist, wofür es vermutlich vesrchiedene Gründe gibt. Neben Zeit- und Geldmangel mag es sicher auch der Respekt vor der Öffentlichkeit gewesen sein. Die Politik vor dem Fernseher zu kritisieren ist schließlich einfacher, als in der Hauptstadt seine Themen persönlich vor einem großen Publikum vortragen zu müssen. Auf diese Weise fehlten besonders Vertreter der russischen Minderheit wie auch von Bürgern mit geringerem Bildungsniveau.

Der Runde Tisch erwies sich schließlich als weniger poulistisch als man hätte erwarten können. So wurde etwa die auch in anderen parlamentarischen Demokratien gerne geforderte Direktwahl des Präsidenten abgelehnt. Alle weiteren Vorschläge wurden via Präsident Ilves an das Parlament weitergeleitet, wo die Beratungen erst ergeben müssen, welche Ideen aus dem Volk auch dort eine Mehrheit finden. In jedem Fall sind zahlreiche Intellektuelle hier noch skeptisch.

Kindertausch

Die russische Minderheit in Lettland ist zahlreich. Viele dieser Menschen sind in der Sowjetzeit zugewandert und leben in den Städten in ihren Vierteln, in denen sie im Alltag die lettische Sprache nicht brauchen und deshalb trotz aller politischen Daumenschrauben seit der Unabhängigkeit des Landes vor mehr als 20 Jahren nicht erlernt haben. Die Parallelwelten haben sich damit während der letzten Jahre erhalten.

Der Parlamentsabgeordnete der regierenden Partei Einigkeit, Andrejs Judins kam deshalb auf die Idee, im Interesse der Integration Familien einfach mal ihre Kinder tauschen zu lassen, damit der Nachwuchs im Alltag Vertreter der jeweils anderen Volksgruppe kennelernt. Er meinte, um etwas beim Kontakt zu verbessern, müsse man allem voran erst einmal miteinander reden.

Der Vorschlag wurde vielerseits begrüßt, stieß jedoch wie nicht anders zu erwarten auch auf Bednken. In der russischen Presse wurde teilweise sogar kolpotiert, auf diese Weise wolle die Politik junge Russen in lettischen Familien indoktrinieren lassen und ihren ihre Identität nehmen. Dennoch nahm sich der Staat des Projektes an und finanzierte den Plan. Einbezogen wurden Lehrer und Eltern sowie Verbände, damit letztlich 100 Kinder für einige Tage in einer anderen Familie verbringen konnten. Selbstverständlich machten sich die Organisatoren die Mühe, Familien, die sich beworben hatten für das Projekt, erst einmal unter die Lupe zu nehmen. Teilnehmen konnte schließlich nur, wer zu Hause in der Lage war, den Kindern ein entsprechendes Umfeld bis hin zu einem eigenen Zimmer bieten zu können. Als Kompensation erhielten die Familien aus den bereitsgestellten Mitteln knapp 10 Euro pro Tag pl;us Eintrittsgelder für gemeinsam besuchte Veranstaltungen. Außerdem gab es einen kleinen Crashkurs über die jeweils andere Volksgruppe, damit es nicht zu unvermuteten Mißverständnissen kommen konnte. Die ausgewählten Familien, besuchten sich erst einmal vor Beginn des Projekts gegenseitig, um sich kennenzulernen und davon zu überzeugen, wohin sie ihre Kinder zu schicken bereit sind.

Teilnehmen konnten schließlich Schüler der Klassen 5 bis 9 und mit einem konkreten Fall in der Kleinstadt Ikšķīle (Üxküll) beschäftige sich sogar der WDR. Hier berichtet die Mutter eines zehnjährogen Letten, dessen Vorurteile gegen die Russen hätten sich komplett verflüchtigt. Habe er früher gedacht, am besten gäbe es an der Schule überhaupt keine Russen, hat er in einem Austausch-Russen seinen neuen besten Freund gefunden und alle bisherigen Vorurteile über Bord geworfen. Aber auch für die Rigenser russischen Kinder gab es neue Erfahrungen. Im gegenteil uz lettischen Familien, die in aller Regel irgendwo auf dem Land Verwandte haben oder eine Datscha, wo sich gerade während des Sommers regelmäßig aufgehalten haben, gilt das für viele Russen nicht. Mit dem Projekt kommen also manche russische Kinder, die in Plattenbauten der Vortorte Pļavnieki oder Imanta wohnen auf dem Lande erstmal ins Kontakt mit einem ganz anderen Lettland.

Die Familien des russischen und des lettischen Jungen aus Ikšķīle wollen auf jeden Fall auch ēeiterhin in Kontakt bleiben und sich besuchen. Die Jungs unternehmen jetzt immer noch viel gemeinsam.

Donnerstag, 30. Mai 2013

Lettland macht Ernst mit Kinderschutz

Gewalt gegen Kinder ist ein Verbrechen - fraglos. Jugendliche sollen auch unter 18 Jahren keinen Alkohol trinken oder rauchen. Auch dagegen gibt es Gesetze, die den Verkauf entsprechender Waren an Minderjährige verhindern sollen. Das alles weiß jedes Kind. Und die Mäßigkeit des Erfolges ist auch hinlänglich bekannt.

Seit Kameraüberwachung und elektronischen Kassen ist es aber durchaus möglich, so manche Verletzungen dieser Gesetze zu verhindern.

Lettland arbeitet nun an einem Gesetzesvorschlag, den Schutz der Kinder noch grundlegend zu erweitern und will Erwachsenen verbieten, in der Gegenwart von Kindern zu rauchen.

Von der Idee her mag es gut sein zu verhindern, daß so viele Kinder in verrauchten Elternhäusern aufwachsen müssen, und da bekamen gleich einige Leute Angst, Eltern, die schlimmstenfalls noch beide Raucher sind, plane das neue Gesetz, die Kinder abzunehmen. So weit will aber der lettische Gesetzgeber denn gewiß nicht gehen.

Dennoch bleibt die unbeantwortete Frage, wie man das überwachen will. Die Polizei kann sicher nicht in allen Kneipen und Restaurants gleichzeitig anwesend sein, aber jedem dieser Etablissements kann jederzeit eine Kontrolle drohen, und die offenbart auch dann, daß vor Ort regelmäßig geraucht wird, wenn zum konkreten Zeitpunkt der Kontrolle kein Glimmstengel glüht. Aber wie bitte soll das in Privatwohnungen aussehen? Rauchrazzia im Wohnzimmer als neue Aufgabe für die lettische Polizei?

Mittwoch, 17. April 2013

Euro-Einfuhrung in Lettland

Anfang Februar hat das lettische Parlament das Gesetz zur Einführung des Euros verabschiedet. Damit sprach sich zwar eine Mehrheit der Angeordneten für den Plan der Regierung aus, am 1. Januar 2014 den Lats durch den Euro zu ersetzen, aber eine nennenswerte Minderheit unter den Abgeordneten ist bereit, sich auf die Seite der Gegner zu schlagen und die Anstrengungen für ein separates Referendum zum Thema zu unterstützen.

Der Euro ist in den Staaten, die ihn bereits nutzen ein emotionales Thema und noch viel mehr in Lettland, wo viele Menschen ihre nationale Währung mit der nationalen Unabhängigkeit verbinden.

Währungen haben immer etwas mit Psychologie zu tun, mit dem Vertrauen, daß die Bevölkerung in sie setzt. Daneben sollten aber ökonomische Argumente nicht vernachlässigt werden.

Auch in Deutschland gab es nach der Einführung des Euro schnell Enttäuschungen, weil viele ihn wenigstens subjektiv als „teuro“ empfanden. Estland hat die Gemeinschaftswährung zu Beginn des Jahres 2011 trotz aller Bedenken zu Beginn der Euro-Krise eingeführt und ebenfalls anschließend eine Inflationserfahrung damit verbunden, so daß es dort heute nicht schwierig ist Menschen zu finden, die meinen, man wäre besser bei der estnischen Krone geblieben. Die Slowakei und Slowenien gehören ebenfalls zu den neuen Mitgliedsstaaten, in denen die Bevölkerung mäßig überzeugt ist.

Dem steht entgegen, daß alle 2004 der EU beigetretenen Staaten rein juristisch betrachtet mit ihrem positiven Referendum über den Beitritt auch „ja“ zum Euro gesagt haben. Darauf pocht der lettische Ministerpräsident Valdis Dombrovskis, dessen Regierung es sich zum Ziel gesetzt hat, 2014 den Euro einzuführen. Das stößt derzeit nicht nur in der Bevölkerung eher auf Ablehnung, dagegen wehren sich auch zahlreiche Journalisten, allen voran der Ökonom Juris Paiders, der schon 2003 mit einer kritischen Bewertung des EU-Beitritts aufgefallen war. Er wollte mit seiner Analyse damals so wenig den Beitritt ablehnen, wie er dies jetzt zu tun beteuert. Wie er meint, sei es für die Gemeinschaftswährung einfach zu früh, Lettland nicht reif.

Freilich darf die Gemeinschaftswährung erst eingeführt werden, wenn die sogenannten Maastricht-Kriterien erfüllt werden. Zur Erinnerung: Das Defizit des Haushaltes darf nicht mehr als 60% der jährlichen Wirtschaftsleistung betragen und die Neuverschuldung nicht mehr als 3%, während die Inflationsrate nicht um mehr als 1,5% vom Durchschnitt der niedrigsten Inflationsraten in der EU abweichen darf. Das sind alles trockene Zahlen, die dem einfachen Bürger nicht unbedingt auf Anhieb verständlich sind. Was aber jeder versteht ist, daß unter den Staaten der Eurozone kaum ein Land diese Ķriterien derzeit einhält. Und es ist für viele nicht vergessen, daß ausgerechnet Deutschland und Frankreich als erste verstießen, ganz abgesehen davon, daß Griechenland seine Zahlen frisierte.

Während sich die Befürworter des Euro mit den altbekannten Argumenten von stabileren Verhältnissen ohne Wechselkurse und folglich höheren Investitionen zu Wort melden, fragen andere Kommentatoren, warum man auf ein sinkendes Schiff aufspringen sollte. Der einfache Bürger hat in Unkenntnis der makroökonomischen Zusammenhänge vor dem Hintergrund der ständig dramatischer klingenden Meldungen über die Eurokrise schlicht Angst davor, sich von seinem guten alten Lats zu verabschieden.

Aber was bringt den Letten eigentlich ihre eigene Währung? Zunächst einmal war die Einführung 1993 nach der Übergangswährung des lettischen Rubels, der nach dem Namen des damaligen Nationalbankpräsidenten Einars Repše gerne auch als „Repši“ bezeichnet wurde, ein Symbol für die nach einem halben Jahrhundert wiedergewonnene Unabhängigkeit. Viele Ausländer wunderten sich damals an den Wechselstuben, daß sie für Ihre Dollar, Mark oder Schweizer Franken der Nennsumme nach weniger Lat über den Tresen geschoben bekamen. Historisch war der Wert des Lats immer hoch, damit auch die kleinste Münze noch einen Wert hat.

Die Kaufkraft einer Währung mißt sich jedoch nicht an ihrem Nennwert, sondern an der Relation zwischen Verdienst und Preisen. Bei einem staatlichen Mindestlohn von 200 Lats sind 2 Lats als Preis genauso teuer wie bei einem Einkommen von 1.000 Euro 10. Darüber hinaus bedeutet eine nationale Währung zu haben, daß diese auch nur national ausgegeben werden kann. Der Auslandsreisende aus Lettland wird seinen Lats in einer Wechselstube auswärts also nur dann los, wenn dort jemand bereit ist, ihm dafür eine andere Währung zu geben. Und das wird nur der Fall sein, wenn er mit den entgegengenommenen Lats etwas anfangen kann. Was aber kann der Wechsler in Lettland für die eingetauschten Lats erwerben?

Damit aber nicht genug. Seit dem Beitritt zu EU 2004 ist der Lats fest zum Kurs von 1:0,7 an den Euro gebunden, also nur noch sehr bedingt eine nationale Währung. Das bedeutet zwar nach wie vor, daß man für 20 Euro in der Wechselstube eben nur 13 Lati bekommt. Dennoch ist der Lats de facto nichts anders als ein etwas anders aussehender Euro. Nicht einmal abwerten könnte die lettische Nationalbank ohne Genehmigung von der EZB.

Sollte also Lettland bis 2014 die Maastricht-Kriterien einhalten und die Eurokrise bis dahin die Gemeinschaftswährung nicht zur Vergangenheit gemacht haben, dann wird das Land den Euro wohl einführen und wohl ähnliche Erfahrungen machen wie alle anderen Mitgliedsländer der Eurozone auch. Den Untergang Lettlands wird das nicht bedeuten und ob die optimistischen Hoffnungen der Euro-Befürworter eintreten, hängt ganz gewiß nicht nur von der Währung ab, sondern auch von anderen politischen und ökonomischen Umständen. Und da hatte Lettland im Vergleich zu Estland schon während der vergangenen 20 Jahre erhebliche Nachteile aufzuweisen.

Mittwoch, 6. Februar 2013

Who the hell are „Depardjē“ and „Olands“?

Auf Lettisch muß man ja noch aussprechen Ualands für den zweiten. Wer Rēcs, Rēts, Rētcs oder Rētss sein könnte, mag dem Leser sich schneller eröffnen. In den 90ern gab es eine amerikanische Fernsehserie, die in Lettland „Beverlihilsa“ hieß. Noch ein bißchen einfacher. Und wie steht es mit „Klāra Šūmane-Wīka“?

Wem nicht gleich klar ist, von welchen Personen und Orten hier die Rede ist, möge ein wenig knobeln.

Worum geht es? In der lettischen Sprache werden Eigennamen nicht einfach übernommen, sie werden transkribiert. Die Letten sollen sie anschließend in ihrer Schreibweise so aussprechen können, wie im Original. Das natürlich ist schwer möglich, da es für viele Laute gar keinen lateinischen Buchstaben gibt und man auch erst einmal über Philologen aller Sprachen der Welt verfügen müßte, um die unzähligen Diphthonge zu kennen. Darum heißt die Iron Lady im Lettischen eben „Tečere“ und der frühere französische Präsident ist der mittlere Rand oder eben „Miterands“.

Was hier so lustig daher kommt, hat durchaus auch juristische Folgen. Vor einigen Jahren klagte eine Lettin nach ihrer Hochzeit mit einem Deutschen namens Mentzen vor dem europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und bekam dort nicht Recht. Den Richtern genügte das Angebot der lettischen Behörden, die Originalschreibweise in ihrem Paß wenigstens in Klammern hinzuzufügen.

Der Autor dieser Zeilen wird in sämtlichen Verträgen – also juristischen Dokumenten – ebenfalls nur im Original genannt. Da er über keinen lettischen Paß verfügt wäre es sonst auch nicht ganz einfach zu beweisen, daß mit einer der eingangs genannten Schreibweisen in einem Dokument tatsächlich er gemeint ist.

Nichtsdestotrotz ist Anlaß für diese neuerliche Erwähnung des Themas ganz gewiß der Umstand, daß man ja meistens wie bei „Rihards Vāgners“ und im Genitiv der „Riharda Vāgnera iela“ noch halbwegs darauf kommt, wer gemeint sein könnte. „Olands“ hingegen stellt nun wirklich auch gegenüber mittleren Rändern eine neue Dimension dar.

Einzige Entschuldigung ist, daß die vielen vom lateinischen Alphabet abgeleiteten Sonderzeichen der slawischen und auch baltischen Sprachen denn auch in der deutschen oder englischen Presse ignoriert werden. Aber wer verlangt, jedweden fremdsprachigen Namen in jedwedem Land richtig auszusprechen?

Ist der deutsche Wähler schizophren?

2009 versprach die FDP vor der Bundestagswahl Steuersenkungen und erzielte beim Urnengang das beste Ergebnis ihrer Geschichte, fast 15%, obwohl nicht nur die Medien, sondern auch Umfragen belegten, daß unter den Wählern kaum jemand glaubte, ein solches Versprechen könne realistisch sein. Das Versprechen wurde nicht eingelöst und man könnte jetzt einfach mal behaupten, die übliche Wut der Wähler über nicht eingelöste Wahlversprechen sei der Grund, warum die Partei in den Umfragen um 10% abstürzte und jetzt um den Einzug in den Bundestag im Herbst bangen muß.

Quintessenz: Der Wähler entscheidet sich also für Versprechungen, denen er selber keinen Glauben schenkt und ist anschließend trotzdem beleidigt?

Naja, ganz so schlimm wird es nicht sein. Ähnlich wie in Niedersachsen, wo die FDP vergangenen Monat auf 10% und ihr damit ebenfalls bestes Ergebnis kam, liegt es auf der Hand, daß 2009 viele (Unions-)Wähler aus der großen Koalition heraus in das über 16 Jahre unter Kohl bewährte Bündnis von Union zurück wollten wie sie auch in Niedersachsen ihren Regierungschef behalten wollten.

Aber auch so einfach kann man es sich nicht machen. Es ist noch nicht lange her, da war Peer Steinbrück im ZDF-Politbarometer der beliebteste Politiker Deutschlands. Politiker? Das fragt man sich da. Ja sicher, der Mann war auch damals Bundestagsabgeordneter, sonst aber in keinen Funktionen und im Alter von Mitte 60 gewiß einer der bekanntesten Sozialdemokraten, aber mehr auch nicht.

Dann wurde er aus den bekannten Gründen als Kanzlerkandidat nominiert und plötzlich stürzten sich die Medien auf seine Nebentätigkeiten, die zugegeben viel Geld gebracht haben. Wer kann schon von sich sagen, mit einer spitzen Zunge im Feindesterritorium innerhalb von vielleicht 90 Minuten fünfstellige Summen zu verdienen?

Steinbrück stürzte in den Umfragen ab und es wurde Fragen gestellt, wieviel überhaupt ein Mandatsträger nicht nebenbei verdienen darf, und ob er überhaupt etwas anderes machen darf als das Volk zu vertreten – Geld hin oder her.

Das ist alles ein bißchen komisch und zeigt, wie wenig mancher Volkesvertretene die Politik mißverstanden hat. Volksvertreter sein ist oft ein Beruf. Beispiele wie Guido Westerwelle lassen grüßen. Aber das ist bei weitem kein Vorteil, auch die Volksvertretenen selbst beschwerden sich schließlich regelmäßig darüber, wie entfernt die Volksvertreter von ihnen seien. Dann aber muß man auch zulassen, daß jemand aus seinem erlernten und ausgeübten Beruf auf Zeit hinausgehender sich dieses Standbein erhält. Ganz abgesehen davon, daß mehr Stunden in die Lektüre von Akten zu investieren nicht unbedingt bedeuten muß, die Materie besser zu verstehen. Bekanntlich unterscheiden sich auch die Intellekte und die Auffassungsgabe. Je mehr Vorkenntnisse, desto schneller die Aktenlektüre.

Und daß Peer Steinbrück vielleicht auch ohne große Aktenlektüre schneller im Thema ist als ein junger Frank Schäffler ... , wer wollte das aus der Ferne beurteilen? Klar, da kommt der Neideffekt auch noch hinzu. Steinbrück ist ein Mann, der vielleicht in anderen Funktionen mehr Geld hätte verdienen und weniger in der dauernden öffentlichen Beobachtung und Kritik stehen können. Klar können andere Menschen auch mit spitzer Zunge wortgewnadt irgendwo auftreten. Aber die waren vielleicht nicht jahrelang Finanzminister, genießen nicht denselben Bekanntheitsgrad und damit Marktwert und sind als spitzzüngige Angreifer eben weniger nachgefragt.

Da wird also eine als Kandidat vorgeschickt, dem man intellektuelle Fähigkeiten ebenso wenig absprechen kann wie die Bereitschaft, mal Klartext zu reden. Und wegen 200.000 Euro schaltet ein 80 Millionen-Volk wieder um auf Angela Merkel als beliebteste Politikerin, die als eine ihrer wenigen deutlichen Formulierungen mal gesagt hat, sie habe zu Guttenberg als Minister und nicht als wissenschaftlichen Mitarbeiter eingestellt.

Na schön. Wenn die Volksvertretenen das so wollen, dann sollen sie es so machen, aber bitte nicht wieder anschließend beschweren.

Samstag, 26. Januar 2013

Hausmitteilung

Unter dem Namen AxelReetz bin ich seit neuestem auch bei Twitter registriert. Je nach Ansprache werden die Posts dort Englisch, Deutsch oder auch Lettisch sein.
Reģistrējos nesen arī Twitterī kā AxelReetz. Posts tajā būs atkarībā no uzrunātās auditorijas angliski, vāciski vai arī latviski.

Umfragen sehen Opposition in Estland vorn

Das demoskopische Institut Emor hat gerade seine aktuellen Zahlen veröffentlicht. Die Unterstützung der Parteien hat sich dabei grundlegend verändert. Es gibt erstmalig eine deutlich Mehrheit für Parteien, die man als mehr oder weniger links bezeichnen könnte. Nach den diversen Skandalen rund um die Parteienfinanzierung und dem Rücktritt des Justizministers ist die Unterstützung des bisher stärksten politischen Kraft in der Regierung, der liberalen Reformpartei, auf nurmehr 20% gesunken. Der Koalitionspartner, die konservative Vaterlandsunion / Res Publica kommt gar nur auf 16%. Die oppositionellen Sozialdemokraten hingegen, die bereits im Frühjahr 2011 ein überraschend gutes Ergebnis bei den Parlamentswahlen erzielt hatten, werden inzwischen von 27% der Wähler unterstützt und die Zentrumspartei des enfant terrible der estnischen Politik, Edgar Savisaar, liegt mit einem Prozentpunkt darüber bei 28%. Tatsächlich stehen Wahlen erst wieder 2015 an, und freilich kann sich bis dahin viel ändern und immerhin 38% haben Emor gegenüber geäußert, daß sie sich einstweilen nicht entscheiden können. Sicher aber scheint, daß die estnischen Wähler der politischen Stabilität überdrüssig sind. Ministerpräsident Andrus Ansip ist immerhin schon seit 2005 im Amt, ein einsamer Rekord für baltische Verhältnisse.

Donnerstag, 24. Januar 2013

Sozialdemokraten in Litauen zurück an der Macht

Litauen hat im Oktober 2012 ein neues Parlament gewählt und eine neue Regierung kam im November ins Amt. Die Sozialdemokraten, die einst aus den gewendeten Kommunisten hervorgingen, übernehmen das Ruder von den Konservativen, die aus der Oppositionsbewegung Sąjūdis entstanden waren. Ministerpräsident ist Algirdas Butkevičius mit der Unterstützung von 90 von 14r1 Abgeordneten im Seimas. Seit der Unabhängigkeit 1991 bleibt es somit dabei, daß sich im wesentlichen diese beiden politischen Kräfte an der Macht abwechseln.

Seit den Wahlen im Jahre 2000 gibt es allerdings auch noch eine Reihe von anderen nicht unbedeutenden Parteien, zu denen die Partei Recht und Ordnung gehören, die der vormalige und in einem Impeachment abgesetzte Präsident Rolandas Paksas gegründet hatte wie auch die Partei der Arbeit des russischen Reichen Viktor Uspaskich, der aus Litauen zwischenzeitlich vor juristischer Verfolgung geflohen war. Beide Personen verbindet, daß Paksas Uspaskich, wie später von Gerichten festegestellt, die Staatsbürgerschaft Litauens unrechtmäßig zugeschachert hatte.

Algirdas Butkevičius wollte nun nach der Wahl eine Regierung mit genau diesen Partnern bilden. Man war sich zügig einig. Doch die aus dem konservativen Lager stammende Präsidentin Dailia Grybauskaitė legte zunächst Widerspruch ein und wollte eine Koalition unter Beteiligung von Uspaskich und seiner Arbeitspartei nicht akzeptieren. Sie konnte als einstweilen noch sehr populäre Politikern – die in Litauen auch durch eine Volkswahl ins Amt gekommen ist – eine guten Teil der Bevölkerung hinter sich wissen. Grybauskaitė mußte schließlich den Mehrheitsverhältnissen im Parlament nachgeben.

Undurchsichtige Personalpolitik

Vergangenen Donnerstag hat das Parlament, die Saeima, eine neue Chefin des Rechnungshofes bestätigt: Elita Krūmiņa. Die häufig in den Medien präsente und auch ziemlich beliebte bisherige Amtsinhaberin, Inguna Sudraba, hat über zwei Amtszeiten auf diesem Posten gewirkt, und konnte nicht wiedergewählt werden. Es wird darüber spekuliert, ob sie in die Politik geht – nicht erst seit gestern.

Zwei Probleme verbinden sich damit, ein juristisches und ein politisches.

Elita Krūmiņa saß bereits zwei Amtsperioden im Beirat des Rechnungshofes und wird dies nun als Chefin der Behörde für vier weitere Jahre tun. Politiker der größten Regierungspartei, der Einigkeit, haben ihre Zweifel geäußert, ob das nicht ein Verstoß gegen geltende Gesetze ist. Politiker der Einigkeit schlossen nicht aus, diese Frage vor das Verfassungsgericht zu tragen.

Diese juristische Frage ist besonders deshalb pikant, weil dieselbe größte Regierungspartei von Ministerpräsident Valdis Dombrovskis Krūmiņa auch gar nicht mitgewählt hat. Die Koalitionspartner von der Zatlers Reformpartei haben die Kandidatur gemeinsam mit dem Partner von der Nationalen Vereinigung aus mehreren nationalistischen Parteien durchgewunken und dabei gemeinsame Sache ausgerechnet mit dem oppositionellen Harmoniezentrum (gerne auch als Russenpartei bezeichnet) gemacht. Ein absolutes Novum. Das weckt Erinnerungen an die Wahl des Ombudsmanns Juris Jansons 2011, als ebenfalls die mit der Einigkeit in Koalition befindliche Union aus Grünen und Bauern die Kandidatur des Harmoniezentrums unterstützt hatte, anstatt sich mit dem Koalitionspartner zu einigen, der damals allerdings in der Tat mit einem eigenen Vorschlag lange zugewartet hatte.

Großbritannien als Paradies?

Eine in Großbritannien lebende Lettin mit zehn (!) Kindern sorgt für Aufmerksamkeit nicht nur unter den Nachbarn, sondern auch der Presse. Vor dem Hintergrund der HARTZ-Reformen in Deutschland kann man sich angesichts von 34.000 Britischen Pfund Jahreseinkommen, ohne dafür einen Finger zu krümmen, nur ein bißchen die Augen reiben. In den 70er Jahren wäre so manchem das Wort asozial wahrscheinlich schnell über die Lippen gekommen.

Dienstag, 15. Januar 2013

Eurozonen-Beitritt in Lettland umstritten


Nach der Einführung des Euro gab es in Deutschland schnell auch Enttäuschungen, weil viele ihn wenigstens subjektiv als „teuro“ empfanden. Estland hat die Gemeinschaftswährung zu Beginn des vergangenen Jahres eingeführt und ebenfalls anschließend eine Inflationserfahrung damit verbunden, so daß es dort heute nicht schwierig ist Menschen zu finden, die meinen, man wäre besser bei der estnischen Krone geblieben.

Dem steht entgegen, daß alle 2004 der EU beigetretenen Staaten rein juristisch betrachtet mit ihrem Beitritt auch ja zum Euro gesagt haben. Darauf pocht derzeit der lettische Ministerpräsident Valdis Dombrovskis, dessen Regierung es sich zum Ziel gesetzt hat, 2014 – also in gut einem Jahr – den Euro einzuführen. Das stößt derzeit nicht nur in der Bevölkerung eher auf Ablehnung, dagegen wehren sich auch zahlreiche Journalisten.

Freilich darf die Gemeinschaftswährung erst eingeführt werden, wenn die sogenannten Maastricht-Kriterien erfüllt werden. Zur Erinnerung: Das Defizit darf nicht mehr als 60% der jährlichen Wirtschaftsleistung betragen und die Neuverschuldung nicht mehr als 3%, während die Inflationsrate nicht um mehr als 1,5% vom Durchschnitt der niedrigsten Inflationsraten in der EU abweichen darf. Das sind alles trockene Zahlen, die dem einfachen Bürger nicht unbedingt auf Anhieb verständlich sind. Was aber jeder versteht ist, daß unter den Staaten der Eurozone kaum ein Land diese Ķriterien derzeit einhält. Und es ist für viele nicht vergessen, daß ausgerechnet Deutschland und Frankreich als erste verstießen.

Während sich die Befürworter des Euro mit den altbekannten Argumenten von stabileren Verhältnissen ohne Wechselkurse und folglich höheren Investitionen zu Wort melden, fragen andere Kommentatoren, warum man auf ein sinkendes Schiff aufspringen sollte. Der einfache Bürger hat in Unkenntnis der makroökonomischen Zusammenhänge vor dem Hintergrund der ständig dramatischer klingenden Meldungen über die Eurokrise schlicht Angst dafür, sich von seinem guten alten Lats zu verabschieden.

Aber was bringt den Letten eigentlich ihre eigene Währung. Zunächst einmal war die Einführung 1993 nach der Übergangswährung des lettischen Rubels, der nach dem Namen des damaligen Nationalbankpräsidenten Einars Repše gerne auch als „Repši“ bezeichnet wurde, ein Symbol für die nach einem halben Jahrhundert wiedergewonnene Unabhängigkeit. Viele Ausländer wunderten sich damals an den Wechselstuben, daß sie für Ihre Dollar, Mark oder Schweizer Franken der Nennsumme nach weniger Lat über den Tresen geschoben bekamen. Historisch war der Wert des Lats immer hoch, damit auch die kleinste Münze noch einen Wert hat.

Schon damals haben die Menschen ohne Kenntnisse der Hintergründe diese Währung hochgehalten und gesagt, schaut, ein Lats ist mehr als eine Mark oder ein Dollar. Das aber sagt im Grunde ja nichts über die Kaufkraft aus. Die erschließt sich erst aus dem Verhältnis zwischen Verdienst und Preisen. Eine Währung, die mit hohen Summen jongliert, muß deshalb keine weiche sein. Und so warnten auch Bankangestellte im Ausland Lettland-Reisende gerne, bloß von dort kein Bargeld mitzubringen, denn in Deutschland tauscht das niemand um. Die Letten konnten also nicht etwa mit ihrem hochwertigen Lats ins Ausland zum Einkauf fahren, sondern mußten ihre Währung gleich im eigenen Land umtauschen.

Damit aber nicht genug. Seit dem Beitritt zu EU 2004 ist der Lat fest zum Kurs von 1:0,7 an den Euro gebunden. Das bedeutet zwar nach wie vor, daß man für 20 Euro in der Wechselstube eben nur 13 Lati bekommt. Der Lats ist also de facto nichts anders als ein etwas anders aussehender Euro. Nicht einmal abwerten könnte die lettische Nationalbank ohne Genehmigung von der EZB. Eine Hartwährung ist dieser deshalb jedoch nicht. Und was die meisten Menschen nicht wissen, bereits vorher war der Lats an einem Währungskorb gebunden, was angesichts der Schwankungen des US$ gewiß zu mehr Schwankungen auch der lettischen Währung geführt hat.

Sollte also Lettland bis 2014 die Maastricht-Kriterien einhalten und die Eurokrise bis dahin die Gemeinschaftswährung nicht zur Vergangenheit gemacht haben, dann wird das Land den Euro wohl einführen und wohl ähnliche Erfahrungen machen wie alle anderen Mitgliedsländer der Eurozone auch.

Montag, 14. Januar 2013

Lettlands Präsident leugnet Armut im Lande

Lettlands Präsident Andris Bērziņš hat im Dezember mit einem Fernseh-Interview für Wirbel im Lande gesorgt. Im politischen Magazin des privaten Kanals TV3 „Nekā personīga“ (Nichts Persönliches) bestritt er mehr oder weniger, es gäbe in Lettland Armut.

Diese Äußerung und die Aufregung darüber muß vor dem persönlichen Hintergrund gesehen werden, daß Bērziņš als einer der wohlhabendsten Männer im Lande gilt. Nach der Unabhängigkeit wurde er Banker und leitete mehr als zehn Jahre die Unibanka, die später von der schwedischen SEB übernommen wurde. Darüber hinaus saß er auch in Aufsichtsräten wie etwa dem des Energiemonopolisten Latvenergo. Als er ins Amt gewählt wurde, begann angesichts eines nicht geringen Präsidentensalärs eine Diskussion darüber, ob er angesichts seiner für lettische Verhältnisse sehr üppigen Rente nicht darauf verzichten sollte oder gar müßte, obwohl er dazu juristisch natürlich nicht gezwungen ist. Eine Entscheidung, die einstweilen noch in der Luft hängt.

Neben der Einkommensfrage gibt es noch einen politischen Hintergrund: Bērziņš wurde im Frühjahr 2011 von einem Parlament zum Präsidenten gewählt, dessen Auflösung der scheidende Präsident Valdis Zatlers als eine seiner letzten Amtshandlungen initiierte, weil die Abgeordneten die von der Staatsanwaltschaft beantragte Aufhebung der Immunität eines ihrer Kollegen, des als Oligarchen angesehenen Ainārs Šlesers, abgelehnt hatten. Zwar war damals schon der derzeitigen Regierungschef Valdis Dombrovskis im Amt, jedoch noch in einer Koalition mit der Bauernunion, die ihrerseits als politisches Projekt des Oligarchen Aivars Lembergs, dem Bürgermeister der Hafenstadt Ventspils, gilt. Aus dieser Fraktion stammte auch der neue Präsident Andris Bērziņš. Ihn hievte eine Spaltung der Regierungskoalition über diese Frage ins Amt, in der die regierende Bauernunion mit der Opposition aus der „Oligarchenfraktion“ des Abgeordneten Šlesers und der sonst von den lettischen Parteien immer ignorierten Russenfraktion des Harmoniezntrums gemeisame Sache machte.

Bērziņš war eine Art Überraschungskandidat, der nach Amtsantritt zunächst nicht weiter negativ auffiel. Übel nahm ihm die Öffentlichkeit, als er am ersten September dieses Jahres seinen Sohn zum ersten Schultag begleitete, wo wenig überraschend Journalisten und Photgraphen warteten. Bērziņš reagierte unwirsch und drohte der Presse verbal mit Gewalt.

Jetzt aber forderte er mit seinen Positionen zur Armutsfrage Widerspruch heraus, obwohl nicht alles, was er in dem Gespräch im Fernsehen sagte, grundlegend von der Hand zu weisen ist. Bērziņš behauptete, es sei einstweilen schwierig, verläßliche Aussagen über den Wohlstand im Lande zu treffen, weil die vorhandenen Daten nicht belastbar seien. Er erinnerte daran, daß viele Menschen neben ihrem offiziellen Einkommen noch das sogenannte „Umschlaggeld“ erhielten. Und in der Tat ist es in Lettland in der Privatwirtschaft verbreitet, die Mitarbeiter wenigstens teilweise schwarz zu bezahlen, um die Sozialabgaben zu sparen. In Ermangelung einer gewissen Planungssicherheit im Leben gehen viele Arbeitnehmer trotz aller Anzeigenkampagnien der letzten Jahre nur zu gerne darauf ein, erhalten sie doch so vermeintlich mehr netto vom Brutto.

Zu Wort melden sich allerdings nicht nur Journalisten, sondern auch Sozialwissenschaftler, die in den letzten Jahren Studien und Untersuchungen durchgeführt haben wie nicht zuletzt das regelmäßige Monitoring der Gesellschaft, welches das UNO-Programm der UNDP (United Nation Development Programme ) finanziert. Die Wissenschaftler weisen darauf hin, daß insbesondere auf dem Land viele Menschen von gut 200 Lats (etwa 285 Euro) im Monat leben müssen, was dem staatlichen Mindestlohn entspricht.

Man darf deshalb gewiß sagen, daß die von Präsident Bērziņš vorgetragenen Zweifel alle zutreffend sind. Gleichzeitig genügt schon der alleinige Augenschein, um zu erkennen, daß es selbstverständlich in Lettland Armut gibt. Und dafür muß man nicht in eine wirtschaftlich schwache Region wie das östliche Lettgallen fahren, da genügt bereits ein Besuch in einem der Vororte von Riga.

Estlands Politikverdrossenheit

Estland erlebt derzeit eine Welle der Unzufriedenheit mit der Politik. Seit Monaten wird die Regierung öffentlich und in den Medien heftig kritisiert. Dies gipfelte nun in einer Demonstration am 17. November vor dem Parlamentsgebäude in Tallin mit der Losung: „Schluß mit der Lügenpolitik“.

Die Aufregung überrascht ein wenig, ist Estland doch politisch unter den baltischen Staaten ein Hort der Stabilität. Seit 1994 ist keine neue Partei mehr gegründet worden, die sich anschließend etabliert hätte. Seit der Wahl von 2011 gibt es nur noch vier Fraktionen im Parlament Riigikogu. Und Ministerpräsident Andrus Ansip ist nunmehr seit sieben Jahren im Amt. Das ist ein Zeitraum, der sich mit westlichen Demokratien messen kann und im Vergleich mit den baltischen Nachbarn ein einsamer Rekord.

Trotzdem sind die Esten in jüngster Zeit zunehmend unglücklich mit ihrer politischen Elite, der Selbstherrlichkeit und fehlende Kommunikation mit den Bürgern vorgeworfen wird. Entscheidungen würden einsam in Hinterzimmern getroffen wie etwa im Frühjahr im Konflikt um ACTA, dem Handelsabkommen gegen Produktpiraterie. Als Parallele zu Deutschland beschweren sich die Menschen über die Basta-Politik Ansips ebenso wie über die angebliche Alternativlosigkeit. Manche unterstellten dem Regierungschefs auch Amtsmüdigkeit. So wischte die Regierung in letzter Zeit Widerspruch mit dem Hinweis weg, sie sei nun einmal die gewählte Vertretung des Volkes, und man solle sie jetzt einfach arbeiten lassen.

Diese allgemeine Stimmung ist nur der Hintergrund eines handfesten Parteienfinanzierungsskandal der letzten Wochen mit schwarzen Kassen, der ebenfalls Parallelen zu Deutschland aufweist. Der langjährige Abgeordnete Silver Meikar von der Reformpartei des Ministerpräsidenten veröffentlichte am 22. Mai dieses Jahres in der Tageszeitung Postimees eine Selbstbezichtigung. Er habe der Partei nicht von ihm selbst stammendes Geld übergeben, das er wiederum von einem anderen Parteimitglied erhalten habe, nachdem der damalige Generalsekretär und derzeitige Justizminister ihn gefragt hatte, ob er mit dieser Prozedur einverstanden sei. Erst jetzt, drei Jahre später, kamen ihm Zweifel. Die Staatsanwaltschaft ließ den Justizminister verhaften, setzte jedoch ihn und weitere Beschuldigte bald wieder auf freien Fuß mit dem Kommentar der Ermittler, daß die Beschuldigten alle Vorwürfe bestritten und es keine ausreichenden Beweise gäbe.

Zunächst war das Echo gering. In den Umfragen verschob sich die Zustimmung zu konkreten Parteien kaum, und die Opposition versuchte auch nicht, sich den nun als Silver-Gate bezeichneten Skandal im großen Stile zu Nutzen zu machen. Dies führt der Politikwissenschaftler Tõnis Saarts zurück auf das Kartell der politischen Kräfte. Die Parteienfinanzierung ist seit jeher ein schwieriges Thema und trotz langer Debatten darüber herrsche immer noch keine Klarheit darüber, wie sich die Parteien tatsächlich finanzierten und nicht einmal darüber, wie sie sich finanzieren sollten. Und richtig, in der Vergangenheit wurde allem voran der Zentrumspartei des Tallinner Bürgermeisters Edgar Savisaar vorgeworfen, sich von Moskau finanzieren zu lassen; selbst die oppositionellen Sozialdemokraten standen in diesem Ruf. Mit einem Fragezeichen versehen ist außerdem der Verkauf des Büros des konservativen Koalitionspartners von Ansip im Zentrum der Hauptstadt für ein Mehrfaches des eigentlichen Wertes.

Im Oktober wurde dann auch auf Bestreben des Ministerpräsidenten Silver Meikar aus der Partei ausgeschlossen. Das brachte das Faß zum Überlaufen. Am 12. November demonstrierte die Bevölkerung in Tartu, der Heimatstadt von Ansip, vor dem Büro der Reformpartei. Anschließend verfaßten 17 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Intellektuelle die Charta „Harta 12“, unter ihnen so bekannte Personen wie der etwas schillernde Politiker und Publizist Ignar Fjuk, der Soziologe Juhan Kivirähk, die Politologin und ehemalige Politikerin Marju Lauristin, der Journalist Ahto Lobjakas, der Kolumnist Rein Raud, der Fernsehjournalist Indrek Tarand, der 2009 ein individuelles Mandat im Europaparlament gewonnen hatte wie auch der betroffene Silver Meikar selbst. Die Charta wurde inzwischen von vielen tausend Bürgern im Internet unterzeichnet..

Marju Lauristin und Juhan Kivirähk äußerten sich zu den wichtigsten Punkten der Charta im estnischen Radio. Sie werfen den Parteien eine Monopolisierung der Macht vor, sie kümmerten sich weniger um das Gemeinwohl als um das Wohl bestimmter einflußreicher Kreise. Gerade die Konzentration auf vier Parteien schließe so einen Teil der Bevölkerung von er Partizipation aus. Die Demokratie, so heißt es gleich im ersten Absatz, breche vor den Augen aller zusammen, weil die Macht die demokratischen Spielregeln nicht einhalte. Sie sei käuflich und im Interesse ihres Erhaltes werde gelogen. Aufgabe der Politik sei es, Verantwortung zu übernehmen. Die Bevölkerung erkenne ihre Vorstellung von Ethik in der gegenwärtigen Situation nicht wieder. Die Forderung nach mehr Transparenz bei der Finanzierung ist ebenso nachvollziehbar wie mehr Kommunikation über die Arbeit der Regierung und die Öffnung der Parteien gegenüber der Zivilgesellschaft. Für Sozialwissenschaftler und erfahrene Politiker überraschend die Forderung von Marju Lauristin nach vereinfachten Möglichkeiten für Parteineugründungen und deren Weg ins Parlament anstelle der Aufforderung an die Zivilgesellschaft, sich in den bestehenden Parteien mehr einzubringen.