Mittwoch, 18. Mai 2011

Jugend in Narva

Auch wenn die Zeiten der illegalen Referenden über eine Autonomie von Ida-Virumaa, dem vorwiegend von Russen bewohnten Landkreis im Nordosten Estlands bald 20 Jahre her sind, ist das Thema der Russen immer noch eines, wenn auch nicht im täglichen Bewußtsein. Ida-Virumaa ist von Tallinn und Tartu aus weit weg – aus den Augen aus dem Sinn. Vor Ort ist es mit dem Estnischen nach wie vor schwierig – logisch: Warum sollten plötzlich russische Muttersprachler miteinander Estnisch sprechen. Estnisch ist nun nicht gerade eine einfache Sprache, vor Ort braucht man sie nicht und warum sollte man gerade eine so kleine Fremdsprache wie das Estnische lernen. In einer EU mit Freizügigkeit sind da andere viel interessanter.


Aber das gilt nicht ausschließlich. Die Zeitung Postimees berichtete jüngst, daß sich russische Jugendliche in Narva, dem Zentrum Ida-Virumaas und immerhin drittgrößter Stadt Estlands mehr Möglichkeiten wünschen, das Estnische zu praktizieren. Das wurde auf einem Schülerforum diskutiert, in dem es unter anderem um den Übergang zu Estnisch als Unterrichtssprache im Kreenholm Gymnasium ging.


Die Motivation der Schüler ist einfach, sie wollen in der Europäischen Union studieren und da gibt es eben keine Möglichkeit, die Ausbildung auf Russisch fortzusetzen, meinen die Schüler.


Letzteres stimmt nur bedingt. In Riga gibt es mit der Internationalen Baltischen Akademie eine Hochschule mit russischer Unterrichtssprache, und das in Sillamäe / Ida-Virumaa ansässige College für Ökologie und Technologie hat sich schon vor Jahren in ein Institut für Management verwandelt mit Filialen in anderen estnischen Städten, darunter selbstverständlich auch Narva und sogar Tallinn. Fragwürdig ist an diesen Institutionen natürlich die Qualität der Ausbildung.

Montag, 9. Mai 2011

Ossi-Wessi-Konflikt auf Estnisch

Von Ende 2006 bis Mitte 2007 überschnitten sich die Amtszeiten der Präsidenten der baltischen Republiken so, daß gleichzeitig Rückkehrer aus dem Exil diese Position in Estland, Lettland und Litauen besetzten, Menschen, welche die Zeit der Sowjetherrschaft nicht persönlich erlebt hatten. Valdas Adamkus war in Litauen so populär, daß er nach dem Intermezzo mit dem später durch ein Impeachment abgesetzten Rolandas Paksas erneut gewählt wurde. Vaira Vīķe-Freiberga in Lettland überzeugte die Letten als Kompromißkandidatin, während in Estland mit Toomas Hendrik Ilves ein Mann aus der aktiven Politik das Amt bekleidet – er war vorher bereits zwei Mal Außenminister gewesen.

Über die Frage, was Osteuropa ist, gab es in der Politikwissenschaft in den 90er Jahren umfangreiche Diskussionen. Der Kompromiß lief in etwa darauf hinaus, sich auf diesen Begriff für die post-sozialistischen Staaten zu einigen. Estland jedoch mit seinem großen Bruder Finnland orientierte sich ganz im Gegenteil zu seinem südlichen Nachbarn Lettland schnell weg von einer Orientierung auf die schicksalhafte Vergangenheit hin zur Gestaltung einer neuen Zukunft. Ilves war es, der als Außenminister die Bezeichnung Estlands als osteuropäischen Staat zurückwies und erklärte, Estland sei ein nordischer Staat.

Vor den Sowjets waren viele Menschen aus dem Baltikum geflohen. Communities gibt es in Amerika, Australien, Schweden und Deutschland, um nur einige zu nennen. Einige der Flüchtlinge und auch einige Sprößlinge dieser Familien kehrten nach 1991 zurück. Für die örtliche Bevölkerung waren sie teilweisewillkommene Helfer, schnell aber wurde ähnlich wie im wiedervereinigten Deutschland klar, daß es Mentalitätsunterschiede gibt. In den 90er Jahren war der Vorwurf an die Exilanten aber auch andere Ausländer, sie verstünden überhaupt nichts, denn sie hätten ja nicht votr Ort gelebt, alltäglich.

Die meisten politisch aktiven Rückkehrer verschwanden schnell wieder von der politischen Bühne, wobei darunter sicher auch einige schillernde bis zwielichtige Personen waren wie etwa der Ex-Militär Jüri Toomepuu in Estland mit seiner radikalnationalistischen Partei wie auch der Pseudo-Lette Joachim Siegerist mit seinem Bananen-Coup.

Nun neigt sich die Amtszeit von Toomas Hendrik Ilves in Estland dem Ende zu und der Kolumnist Ahto Lohjakas meint, Ilves habe sich zunehmend von den Menschen im Lande entfernt und würde derzeit kaum eine Direktwahl gewinnen. Andrus Saar vom demoskopischen Institut Saar Poll pflichtet dem bei und sagt, Ilves habe seine Rolle als Präsident noch nicht gefunden, er wirke eher wie ein Gouverneur. Anstelle überzeugender Ideen, die er zielstrebig durchsetzen müßte, wechsele er häufig seine Positionen, mal näher am Volk mal ferner von ihm. Er halte Reden, welche die Angesprochenen nicht erreiche. Sein Urteil: den Präsidenten sähe man häufig, aber sichtbar sei er selten. Saar spricht von einer gläsernen Wand und wenig Empathie.

Da in Estland das Parlament den Präsidenten wählt und nicht das Volk, so Saar, ist von eienr Wiederwahl auszugehen, denn für die politische Elite gebe es keine Schwierigkeiten mit Ilves. Die estnische Verfassung sieht eine 3/5-Mehrheit für die Wahl des Präsidenten vor, was bislang seit der Unabhängigkeit nie geglückt ist, weshalb verfassungsgemäß ein Gremium aus Abgeordneten und Vertretern der kommunalen Parlamente zusammenkam. Nach den jüngsten Wahlen im März gibt es jedoch in Riigikogu nur noch vier Fraktionen. Die beiden Koalitionsfraktionen hatten Ilves auch früher unterstützt. Die oppositionellen Sozialdemokraten sind die politische Heimat des Präsidenten. Damit bleibt nur Savisaars Zentrumspartei, die gegen Ilves sein könnte. Gut möglich, daß das Parlament tatsächlich dieses Jahr erstmalig die Entscheidung direkt trifft.

Intolerantes Estland?

Daß die postsozialistische Staatenwelt gegenüber in jeder Form andersartigen Menschen nicht besonders tolerant sind, ist nichts Neues. Über die Homosexuellen-Paraden und die damit verbundenen Schwierigkeiten wurde viel berichtet. Menschen anderer Hautfarbe betreffend besteht das Problem bereits darin, daß es kaum solche Menschen gibt in den baltischen Ländern. Immer wieder gibt es einige Vorzeigeausnahmen, die der Landessprache mächtig irgendwie im Showgeschäft Fuß fassen.

Nun gibt es eine Studie der OECD, die Estland erneut diesen Vorwurf macht. Dies muß erstens vor dem Hintergrund gesehen werden, daß es auch in anderen Ländern heftige Integrations- und Leitkulturdebatten gibt und die sogenannten Zigeuner eigentlich in keinem europäischen Land willkommen sind. Zweitens wird dieser Bericht im Jahre eins der Mitgliedschaft Estlands im Club der entwickelten Staaten publiziert.

Die OECD kommt nun zu dem Ergebnis, daß Estland unter den OECD-Staaten nicht nur mit Abstand die intoleranteste Gesellschaft sei, in der nur 26% der Befragten keine Probleme mit Fremden hätte, sondern sich diese Abneigung in den vergangenen Jahren noch verstärkt habe.

Der estnische Menschrechtsexperte Karl Käsper weist darauf hin, daß statistisch deutlich erkennbar ein Zusammenhang zwischen Toleranz und Lebensstandard bestünde. Je toleranter eine Gesellschaft ist, desto besser seinen die Indexe. In Estland konstatiert er, daß dieses Problem von offizieller Seite ignoriert werde. Daß es im Gegenteil zu anderen europäischen Staaten keine xenophobische Partei gebe, erklärt er damit, daß hinreichend viele Politiker der etablierten Parteien nicht anders dächten und dies auch öffentlich zum Ausdruck brächten.

Ein von der Zeitung Postimees befragter 28jähriger Portugiese, der in Estland seit sieben Jahren lebe, kommentiert, die Esten seien nicht intolerant, sondern vorsichtig. In der Geschichte habe das Volk Unterdrückung, Okkupation und Ausnutzung erfahren und sei deshalb Fremden gegenüber aus historischer Erfahrung zurückhaltend. Er habe in seinen Jahren in Estland keine Diskriminierung oder Gewalt erfahren. Natürlich gebe es einzelne Ereignisse, die den Rückschluß zulassen, daß jemand etwas gegen eine andere Hautfarbe oder fremde Gewohnheiten gehabt habe. Solche Menschen aber gibt es nach Meinung des Portugiesen in jedem Land.

Karl Käsper weist darauf hin, daß die Flüchtlinge aus Estland während des Zweiten Weltkriegs auch irgendwo in der Fremde angekommen seien und dort trotzdem aufgenommen wurden.

Freitag, 6. Mai 2011

Präsidenten-Quartett

Über die bevorstehende Präsidentschaftswahl in Lettland wurde an dieser Stelle bereits berichtet. Es gibt zahlreichen Unwägbarkeiten, und seit der letzten Erörterung dieses Themas hat sich der Nebel nur bedingt gelichtet.

Zunächst ist ja pikant, daß es eigentlich keine einfachere Lösung gäbe, als den Amtsinhaber nach Ablauf seiner ersten Amtszeit zu bestätigen. Valdis Zatlers hat im Volk in den vergangenen Jahren genug Popularität gewonnen und die regierende Koalition aus Einigkeit und der Union von Bauern und Grünen verfügen über die erforderliche Mehrheit. Folglich bestätigt schon die Diskussion dieser Frage, daß der Amtsinhaber nicht allen politischen Kräften genehm ist.

Einstweilen dringt nur wenig von den Diskussionen zwischen den politischen Kräften nach draußen; wer welche Argument und Interessen vertritt ist Gegenstand von Spekulationen. Sicher ist, daß Zatlers 2007 nicht der Kandidat der heute größten Regierungspartei war, sondern von anderen Kräften gerade wegen seiner politischen Unbedarftheit damals als Überraschung-Coup auf den Schild gehoben worden war. Im Rahmen der Finanzkrise änderte sich dann sehr schnell sehr viel, und man könnte behaupten, daß Zatlers an der Entfernung jener Elite von der Macht, die ihn ausgesucht hatte, nicht ganz unbeteiligt war.

Für die politischen Akteure gibt es nun zwei Probleme. Erstens destabilisieren Meinungsverschiedenheiten bei der Besetzung politischer Ämter politische Allianzen und zweitens ist das Amt des Präsidenten nicht ganz ohne Einfluß, wie Zatlers über vier Jahre bewiesen hat, indem er nicht tat, was vermutlich seine Proteges von ihm erwartet hatten.

Somit ist einstweilen schwer zu beurteilen, welcher politischen Kraft was nutzen könnte, und die Politik ließ sich nicht aus der Reserve locken. Deshalb hatte Zatlers selbst eine ganze Weile abgewartet, ehe er seinen Hut in den Ring warf. Zatlers hätte freilich lieber den Vorschlag der regierenden Parteien erwartet. Doch die Politik hat es geschafft, ihre Zustimmung zu ihm so lange im Unklaren zu lassen, daß der amtierende Präsident auch nicht weiter zögern konnte, um den Abgeordneten nicht das Argument zu liefern, daß man sich über keine Kandidaten äußern könne, so lange die sich selbst dazu nicht geäußert hätten.

Darin besteht das Problem, einen anderen Kandidaten zu finden, der sowohl in den Augen der Bevölkerung Zatlers Ansehen stechen könnte, den portierenden politischen Parteien auch genehm ist und, was eben nicht zuletzt zur Kandidatur bereit. Viele Schwergewichte wie der frühere Präsident des Verfassungsgerichtes, Aivars Endziņš, der auch 2007 kandidiert hatte, haben längst abgewunken.

Hinter den Kulissen scheint es also spannend zuzugehen. Die ebenfalls äußerst populäre Chefin des Rechnungshofes, Inguna Sudraba, die schon häufig für alle möglichen höchsten Ämter gehandelt worden war, meldete sich nun auch zurück. Sie sei zur Kandidatur bereit, aber unter der Bedingung einer eindeutigen Mehrheit für sie. Diese Bemerkung ist vor dem Hintergrund interessant, daß jüngst sogar aus der größten Regierungspartei Forderungen laut geworden waren, die Abgeordneten sollten Ämter zukünftig in offener Abstimmung besetzen. Da dieser Vorschlag nur auf wenig Zuspruch stieß und die Abstimmung geheim ist, dürfte Sudrabas Wunsch so irreal sein wie in der Vergangenheit ihre Bereitschaft, als Regierungschefin für den Fall zur Verfügung zu stehen, daß sie von einer völlig neuen politischen Kraft nominiert würde.

Somit ist der lettischen Politologin Ilga Kreituse zuzustimmen, daß vermutlich bis zum Wahltag neue Kandidaten auftauchen könnten. Kreituse, die selbst früher für eine gewendete Kommunistenfraktion im Parlament gesessen hatte, sogar dessen Präsidentin war und 1999 auch für das Amt in der Rigaer Burg angetreten war, hat freilich Insider-Kenntnisse, auch wenn ihre politische Heimat in der Bedeutungslosigkeit verschwunden ist. Kreituse sagte im lettischen Radio, die Präsidentschaftswahl sei ein sehr kompliziertes Spiel, weil manche Abgeordnete Kandidaten ihre Zustimmung versichern, dann aber doch ihr Versprechen nicht hielten. Dieses Spiel wird noch dadurch komplizierter, daß ab dem dritten Wahlgang der Kandidat mit dem jeweils schlechtesten Ergebnis aufgeben muß, während nach dem fünften Wahlgang wieder völlig neue Kandidaten ins Rennen geschickt werden dürfen. Dieses System wurde während einer Minderheitsregierung 1999 voll ausgeschöpft. Am Ende führte die Zusammenarbeit eines kleineren Koalitionspartners mit der größten, aber in Opposition befindlichen Partei zum Sturz des Kabinetts. In diesem Sinne ist in der Tat nicht ausgeschlossen, daß entgegen eindeutiger Mehrheitsverhältnisse – also ganz anders als 1999 – auch 2011 mehrere Wahlgänge erforderlich sein werden.

Kreituse ist auch darin zuzustimmen, daß durch die zeitlich versetzen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen der Einfluß von Volkes Meinung minimiert wird. Um zum traditionellen Herbstwahltermin zu gelangen, war die erste Legislaturperiode nach der Unabhängigkeit auf nur gut zwei Jahre verkürzt worden. Der Präsident aber hat eine Amtszeit von vier Jahren. Darum findet nunmehr die Wahl des Präsidenten immer erst ein gutes halbes Jahr nach dem Urnengang statt, so daß diese politische Entscheidung im Gedächtnis der Wähler bei der folgenden Wahl nicht mehr so präsent ist, ja der Amtsinhaber auch Zeit hatte, die Herzen des Volkes zu gewinnen. Fände die Wahl des Staatsoberhaupt beispielsweise ein halbes Jahr vor der Parlamentswahl statt, müßten sich die Fraktionen für diese Entscheidung vor dem Wähler rechtfertigen.