Donnerstag, 24. Januar 2008

“Wir sind kein entwickeltes Land“

Auf diesen Artikel bin ich bei Durchsicht alter Manuskripte ebenfalls gestoßen. Zwar hat sich in den vergangenen Jahren viel - positiv - verändert. Diese passive politische Kultur ist jedoch heute Untersuchungsgegenstand.
Über den alltäglichen Nihilismus und wieso die Regierung immer Schuld hat
Riga, im Mai 2000. – Die Ungeduld der Osteuropäer auf dem Weg zu einem besseren Leben in Wohlstand ist verständlich. Es überrascht jedoch die gleichzeitige Passivität weiter Bevölkerungsschichten und die häufig ausgesprochene Meinung, die Regierung sei für all dies verantwortlich - freilich eigentlich eine Ausrede, die ernsthafte Reformen untergräbt.
„Gehen Sie bitte ins Geschäft nebenan“ sagt die Bedienung in einem kleinen Café, da sie 50 Lat nicht wechseln kann. Das sind rund 150 Mark und für viele Menschen hierzulande ein Viertel des Monatseinkommens oder auch mehr. Diese Situation ist in Riga, und nicht nur hier, alltäglich. „Das Geschäft nebenan hat nicht die Aufgabe, für sie Geld zu wechseln“, entgegne ich, worauf mich die Bedienung informiert, daß alle Banken Geld wechseln. „Ja“, sage ich, „aber das ist nicht gratis“. „Ja“, stimmt mir die junge Dame zu, „das kostet zehn Santim“, das sind etwas mehr als 30 Pfennig.
„Aber was hindert sie daran, morgens mit Wechselgeld zu kommen?“ erlaube ich mir zu fragen. „Das gehört nicht zu meinen Arbeitspflichten“, werde ich mit spitzer Stimme aufgeklärt. Und weiter, hier sei nicht Deutschland. „Wenn wir ein entwickeltes Land wären“, setzt mein Gegenüber wieder an, doch unhöflich unterbreche ich an dieser Stelle mit einem Unmutsräuspern und erfahre daraufhin, daß es so lange kein Wechselgeld geben könne, wie es in Lettland keine normale Regierung gibt. Kurz darauf kommt ihre Kollegin mit dem gewechselten Geld zurück, und ich breche das Gespräch ab.
Solche Probleme sind leider in Lettland keine Besonderheit: Die Post verlangt beispielsweise selbst für die Bezahlung des Postfachs die Vorlage des Passes. Auf Nachfrage heißt es, das sei die Vorschrift und ich könne mich ja an die Regierung wenden.
Was fehlt ist eine Zivilgesellschaft, in der sich ein jeder seiner Verantwortung bewußt ist und begreift, daß nichts ohne Eigeninitiative funktionieren kann, und folglich im Leben das meiste vom eigenen Handeln abhängt. Das Problem sitzt tief.

Verbreiteter Pessimismus
Professionelle Umfragen in Lettland belegen einen unglaublichen Pessimismus. Daß sich etwas zum besseren verändert hat in den zehn Jahren der Unabhängigkeit, dem stimmen gerade einmal 4,4% der Bevölkerung zu. Immerhin 30,7% können sich entschließen, dem teilweise zuzustimmen. Doch die Ablehnungsfront ist beachtlich. 19,3% der Bevölkerung finden, es habe sich überhaupt nichts zum besseren gewandelt, während weitere 39,1% eher den Pessimismus als den Optimismus meinen teilen zu können.
Es scheint noch verständlich, daß die Rentner sich um ihr Lebenswerk betrogen sehen. Sie haben ein langes Arbeitsleben hinter sich, mußten oftmals in sowjetischen Fabriken unter gesundheitsschädlichen Umständen arbeiten, da von westlichen Arbeitsschutzmaßnahmen natürlich hier niemand etwas gehört hatte, und stehen nun vor dem nichts mit einer Rente, die oft schon von der Miete aufgefressen wird. Wer keine Verwandten hat oder noch arbeiten kann, geht betteln.

Gibt es doch den Sowjetmenschen?
Ein wesentlicher Grund für diese negative Einstellung ist freilich der Umstand, daß für die früheren „Sowjetbürger“ schon eine arbeitsteilige Gesellschaft vergleichsweise neu ist. Jeder hat im dünn besiedelten Baltikum einen Garten, in dem statt Zierpflanzen Gemüse gezüchtet wird. Angesichts der chronisch schlechten Versorgungslage in Sowjetzeiten war der heimische Anbau von Gurken, Tomaten und vor allem Kartoffeln ziemlich wichtig. Dieses Problem besteht zwar heute nicht mehr, aber viele Waren sind jetzt dank eines astronomischen Preisniveau für einheimische Einkommen unerschwinglich. Sparen können ohnehin die wenigsten. Folglich hört heute wie damals das selber machen mit der Gartenarbeit noch lange nicht auf.
Darüber hinaus ist aber auch eine Gesellschaft mit verschiedenen sozialen Schichten ein Fremdwort wie auch das Vorhandensein unterschiedlicher Interessen und deren Artikulation. Die Notwendigkeit diverser Interessenverbände ebenso wie der Umstand, daß nicht alle Parteien einen nationalen Konsens vertreten, ist nur für einen kleinen Teil der Gesellschaft nachvollziehbar.
Dieses Problem wird im Falle der baltischen Staaten noch dadurch verschärft, daß just die Endphase der Sowjetunion von einem nie dagewesenen Konsens geprägt war: Alle waren gegen die Sowjetherrschaft, gegen den Kommunismus und für Freiheit, Demokratie und vor allem die Unabhängigkeit. Deutschland kennt das Phänomen, daß man „drüben“ überzeugt war, allein mit einer neuen Regierung würde über Nacht alles so wie im Westen. Die andere Regierung ist da, und plötzlich ist alles ganz anders: es gibt Chefs und Bettler oder einfacher formuliert Arme und Reiche.
Sicher ist es auch richtig, daß jene, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren und vielleicht auch ein paar mehr Groschen in der Tasche hatten, eher etwas erwerben konnten, was den Grundstein für künftigen Reichtum bildet. Auch das eine Erfahrung, die aus dem Nachrkiegs-Deutschland nicht ganz unbekannt ist.

Der Skandale andere Dimension
Trotzdem ist ein Teil der Vorwürfe natürlich immer auch berechtigt. Selbstverständlich gibt es Skandale, wo sich Politiker bereichern, vielleicht noch ein bißchen häufiger als in Westeuropa, weil die Gesetzgebung in den Reformstaaten Osteuropas noch nicht immer so weit vorangetrieben wurde, daß alles strafbar ist, was im Westen verfolgt würde.
So konnte es etwa passieren, daß im Streit um das Ende des Mandats für den Chef der Privatisierungsagentur zwei diametral entgegengesetzte Meinungen sich jeweils auf konkrete gesetzliche Vorschriften beriefen. Die eine sah die Amtszeit als abgelaufen an, für die anderen war der Vertrag unbefristet. Wo anderswo ein Aufschrei durch die Gesellschaft gehen würde, sieht man in Lettland nur die Vetternwirtschaft bestätigt, nicht aber einen Handlungsbedarf. Aber diese Einstellung erfaßt leider auch die Politik, für die das mitunter sehr bequem sein kann. Statt des Vorrangs der Gesetze wird ausgehandelt, und darin manifestiert sich dann die Ambivalenz eines jeden Einzelfalles.
Folglich ist es nicht überraschend, daß vielfach halblegale Geschäfte vielleicht unmoralisch aber nicht in dem Sinne verboten sind. Und selbst wenn, ist Bestechung oft eine Möglichkeit, Richter und Staatsanwälte, die sonst zu wenig verdienen, freundlich zu stimmen.
Lettland steht bei Untersuchungen über Korruption regelmäßig sehr weit oben auf der Liste, was natürlich auch ein Beweis dafür ist, daß alle Kritiker bei sich selbst anfangen müssen. So lange die Erwartungen an den Staat im Gegenteil zur Bereitschaft, den eigenen Verpflichtungen nachzukommen, gerne hoch sind, wird sich kaum etwas ändern.

Die ewige Suche nach dem Sündenbock
Es ist kein Wunder, daß unter diesen Umständen die Schuld gern auf jene geschoben wird, die erfolgreich sind. Man nimmt dann der Einfachheit halber einfach an, daß jemand mit Vermögen sich dieses nur ergaunert haben kann, denn selbst hat man ja auch auf ehrlichem Wege nichts erreicht.
Als vor kurzem der Rigaer Bürgermeister zum Ministerpräsidenten avancierte und ein neues Stadtoberhaupt hermußte, antworteten drei von vier befragten in der täglichen Umfrage einer großen Tageszeitung auf die Frage, welche Eigenschaften der neue Bürgermeister haben müsse, daß es ein ehrlicher Mensch sein müßte, von Inhalten keine Spur.

Das russische Moment
Besonders pikant wird dieser Komplex von Einstellungen im Minderheitenkonflikt, der ob der aus den früheren Sowjetrepubliken zugewanderten, mehr oder weniger russifizierten Minderheiten virulent wird.
Die Russen fühlen sich im Baltikum diskriminiert, weil sie zur Erlangung der Staatsbürgerschaft, oder aber wenn sie in Bereichen mit Publikumsverkehr arbeiten, die Landessprache beherrschen müssen. Kein Wort darüber, daß es bis in die 80er Jahre umgekehrt war, was für die Balten bedeutete, wie Fremde im eigenen Land behandelt zu werden.
So unbegründet, wie diese Einstellung darum wirkt, um so mehr verwundert es, wie gelassen jene, die den Paß schon erworben haben, auf die Diskriminierung durch die Botschaften der russischen Föderation reagieren. Mehr noch, daß mit Zustimmung akzeptiert wird, daß sich Rußland selbst bei Beantragung der russischen Staatsbürgerschaft das Nein vorbehält, als wären diese Menschen nicht aus Rußland zugewandert. Das hindert die Politiker in Moskau freilich nicht daran, auf dem diplomatischen Parkett die Vertretungen ihrer Landsleute im Baltikum zu beanspruchen. Mit anderen Worten, einmal sind sie Russen, einmal sind es keine.
Natürlich gibt es dafür einen einfachen Grund, nämlich: Die Politiker lügen alle. Und darum hält man es dann auch für normal, daß in Tschetschenien gegen angebliche Banditen statt der Polizei gleich die Armee zum Einsatz kommt. Tschetschenien ist natürlich für Estland noch ein besonderer Sonderfall. Der verstorbene Führer Dudajew war nämlich vor dem Ende der Sowjetunion Chef des Tartuer Militärflughafens und hat Anfang der 90er Jahre verhindert, daß die Armee gegen die estnischen “Wir sind kein entwickeltes Land“
Über den alltäglichen Nihilismus und wieso die Regierung immer Schuld hat
Riga, im Mai 2000. – Die Ungeduld der Osteuropäer auf dem Weg zu einem besseren Leben in Wohlstand ist verständlich. Es überrascht jedoch die gleichzeitige Passivität weiter Bevölkerungsschichten und die häufig ausgesprochene Meinung, die Regierung sei für all dies verantwortlich - freilich eigentlich eine Ausrede, die ernsthafte Reformen untergräbt.
„Gehen Sie bitte ins Geschäft nebenan“ sagt die Bedienung in einem kleinen Café, da sie 50 Lat nicht wechseln kann. Das sind rund 150 Mark und für viele Menschen hierzulande ein Viertel des Monatseinkommens oder auch mehr. Diese Situation ist in Riga, und nicht nur hier, alltäglich. „Das Geschäft nebenan hat nicht die Aufgabe, für sie Geld zu wechseln“, entgegne ich, worauf mich die Bedienung informiert, daß alle Banken Geld wechseln. „Ja“, sage ich, „aber das ist nicht gratis“. „Ja“, stimmt mir die junge Dame zu, „das kostet zehn Santim“, das sind etwas mehr als 30 Pfennig.
„Aber was hindert sie daran, morgens mit Wechselgeld zu kommen?“ erlaube ich mir zu fragen. „Das gehört nicht zu meinen Arbeitspflichten“, werde ich mit spitzer Stimme aufgeklärt. Und weiter, hier sei nicht Deutschland. „Wenn wir ein entwickeltes Land wären“, setzt mein Gegenüber wieder an, doch unhöflich unterbreche ich an dieser Stelle mit einem Unmutsräuspern und erfahre daraufhin, daß es so lange kein Wechselgeld geben könne, wie es in Lettland keine normale Regierung gibt. Kurz darauf kommt ihre Kollegin mit dem gewechselten Geld zurück, und ich breche das Gespräch ab.
Solche Probleme sind leider in Lettland keine Besonderheit: Die Post verlangt beispielsweise selbst für die Bezahlung des Postfachs die Vorlage des Passes. Auf Nachfrage heißt es, das sei die Vorschrift und ich könne mich ja an die Regierung wenden.
Was fehlt ist eine Zivilgesellschaft, in der sich ein jeder seiner Verantwortung bewußt ist und begreift, daß nichts ohne Eigeninitiative funktionieren kann, und folglich im Leben das meiste vom eigenen Handeln abhängt. Das Problem sitzt tief.

Verbreiteter Pessimismus
Professionelle Umfragen in Lettland belegen einen unglaublichen Pessimismus. Daß sich etwas zum besseren verändert hat in den zehn Jahren der Unabhängigkeit, dem stimmen gerade einmal 4,4% der Bevölkerung zu. Immerhin 30,7% können sich entschließen, dem teilweise zuzustimmen. Doch die Ablehnungsfront ist beachtlich. 19,3% der Bevölkerung finden, es habe sich überhaupt nichts zum besseren gewandelt, während weitere 39,1% eher den Pessimismus als den Optimismus meinen teilen zu können.
Es scheint noch verständlich, daß die Rentner sich um ihr Lebenswerk betrogen sehen. Sie haben ein langes Arbeitsleben hinter sich, mußten oftmals in sowjetischen Fabriken unter gesundheitsschädlichen Umständen arbeiten, da von westlichen Arbeitsschutzmaßnahmen natürlich hier niemand etwas gehört hatte, und stehen nun vor dem nichts mit einer Rente, die oft schon von der Miete aufgefressen wird. Wer keine Verwandten hat oder noch arbeiten kann, geht betteln.

Gibt es doch den Sowjetmenschen?
Ein wesentlicher Grund für diese negative Einstellung ist freilich der Umstand, daß für die früheren „Sowjetbürger“ schon eine arbeitsteilige Gesellschaft vergleichsweise neu ist. Jeder hat im dünn besiedelten Baltikum einen Garten, in dem statt Zierpflanzen Gemüse gezüchtet wird. Angesichts der chronisch schlechten Versorgungslage in Sowjetzeiten war der heimische Anbau von Gurken, Tomaten und vor allem Kartoffeln ziemlich wichtig. Dieses Problem besteht zwar heute nicht mehr, aber viele Waren sind jetzt dank eines astronomischen Preisniveau für einheimische Einkommen unerschwinglich. Sparen können ohnehin die wenigsten. Folglich hört heute wie damals das selber machen mit der Gartenarbeit noch lange nicht auf.
Darüber hinaus ist aber auch eine Gesellschaft mit verschiedenen sozialen Schichten ein Fremdwort wie auch das Vorhandensein unterschiedlicher Interessen und deren Artikulation. Die Notwendigkeit diverser Interessenverbände ebenso wie der Umstand, daß nicht alle Parteien einen nationalen Konsens vertreten, ist nur für einen kleinen Teil der Gesellschaft nachvollziehbar.
Dieses Problem wird im Falle der baltischen Staaten noch dadurch verschärft, daß just die Endphase der Sowjetunion von einem nie dagewesenen Konsens geprägt war: Alle waren gegen die Sowjetherrschaft, gegen den Kommunismus und für Freiheit, Demokratie und vor allem die Unabhängigkeit. Deutschland kennt das Phänomen, daß man „drüben“ überzeugt war, allein mit einer neuen Regierung würde über Nacht alles so wie im Westen. Die andere Regierung ist da, und plötzlich ist alles ganz anders: es gibt Chefs und Bettler oder einfacher formuliert Arme und Reiche.
Sicher ist es auch richtig, daß jene, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren und vielleicht auch ein paar mehr Groschen in der Tasche hatten, eher etwas erwerben konnten, was den Grundstein für künftigen Reichtum bildet. Auch das eine Erfahrung, die aus dem Nachrkiegs-Deutschland nicht ganz unbekannt ist.

Der Skandale andere Dimension
Trotzdem ist ein Teil der Vorwürfe natürlich immer auch berechtigt. Selbstverständlich gibt es Skandale, wo sich Politiker bereichern, vielleicht noch ein bißchen häufiger als in Westeuropa, weil die Gesetzgebung in den Reformstaaten Osteuropas noch nicht immer so weit vorangetrieben wurde, daß alles strafbar ist, was im Westen verfolgt würde.
So konnte es etwa passieren, daß im Streit um das Ende des Mandats für den Chef der Privatisierungsagentur zwei diametral entgegengesetzte Meinungen sich jeweils auf konkrete gesetzliche Vorschriften beriefen. Die eine sah die Amtszeit als abgelaufen an, für die anderen war der Vertrag unbefristet. Wo anderswo ein Aufschrei durch die Gesellschaft gehen würde, sieht man in Lettland nur die Vetternwirtschaft bestätigt, nicht aber einen Handlungsbedarf. Aber diese Einstellung erfaßt leider auch die Politik, für die das mitunter sehr bequem sein kann. Statt des Vorrangs der Gesetze wird ausgehandelt, und darin manifestiert sich dann die Ambivalenz eines jeden Einzelfalles.
Folglich ist es nicht überraschend, daß vielfach halblegale Geschäfte vielleicht unmoralisch aber nicht in dem Sinne verboten sind. Und selbst wenn, ist Bestechung oft eine Möglichkeit, Richter und Staatsanwälte, die sonst zu wenig verdienen, freundlich zu stimmen.
Lettland steht bei Untersuchungen über Korruption regelmäßig sehr weit oben auf der Liste, was natürlich auch ein Beweis dafür ist, daß alle Kritiker bei sich selbst anfangen müssen. So lange die Erwartungen an den Staat im Gegenteil zur Bereitschaft, den eigenen Verpflichtungen nachzukommen, gerne hoch sind, wird sich kaum etwas ändern.

Die ewige Suche nach dem Sündenbock
Es ist kein Wunder, daß unter diesen Umständen die Schuld gern auf jene geschoben wird, die erfolgreich sind. Man nimmt dann der Einfachheit halber einfach an, daß jemand mit Vermögen sich dieses nur ergaunert haben kann, denn selbst hat man ja auch auf ehrlichem Wege nichts erreicht.
Als vor kurzem der Rigaer Bürgermeister zum Ministerpräsidenten avancierte und ein neues Stadtoberhaupt hermußte, antworteten drei von vier befragten in der täglichen Umfrage einer großen Tageszeitung auf die Frage, welche Eigenschaften der neue Bürgermeister haben müsse, daß es ein ehrlicher Mensch sein müßte, von Inhalten keine Spur.

Das russische Moment
Besonders pikant wird dieser Komplex von Einstellungen im Minderheitenkonflikt, der ob der aus den früheren Sowjetrepubliken zugewanderten, mehr oder weniger russifizierten Minderheiten virulent wird.
Die Russen fühlen sich im Baltikum diskriminiert, weil sie zur Erlangung der Staatsbürgerschaft, oder aber wenn sie in Bereichen mit Publikumsverkehr arbeiten, die Landessprache beherrschen müssen. Kein Wort darüber, daß es bis in die 80er Jahre umgekehrt war, was für die Balten bedeutete, wie Fremde im eigenen Land behandelt zu werden.
So unbegründet, wie diese Einstellung darum wirkt, um so mehr verwundert es, wie gelassen jene, die den Paß schon erworben haben, auf die Diskriminierung durch die Botschaften der russischen Föderation reagieren. Mehr noch, daß mit Zustimmung akzeptiert wird, daß sich Rußland selbst bei Beantragung der russischen Staatsbürgerschaft das Nein vorbehält, als wären diese Menschen nicht aus Rußland zugewandert. Das hindert die Politiker in Moskau freilich nicht daran, auf dem diplomatischen Parkett die Vertretungen ihrer Landsleute im Baltikum zu beanspruchen. Mit anderen Worten, einmal sind sie Russen, einmal sind es keine.
Natürlich gibt es dafür einen einfachen Grund, nämlich: Die Politiker lügen alle. Und darum hält man es dann auch für normal, daß in Tschetschenien gegen angebliche Banditen statt der Polizei gleich die Armee zum Einsatz kommt. Tschetschenien ist natürlich für Estland noch ein besonderer Sonderfall. Der verstorbene Führer Dudajew war nämlich vor dem Ende der Sowjetunion Chef des Tartuer Militärflughafens und hat Anfang der 90er Jahre verhindert, daß die Armee gegen die estnischen Unabhängigkeitsbewegung vorging.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Danke für den interessanten Artikel.

Es gibt starke Unterschiede im Zuspruch zu den Reigerungsarbeiten in den verschiedenen baltischen Ländern.

In Estland würde ich die Annerkennung
der Regierungsarbeiten als insgesamt eher positiv betrachten.

In Lettland als eher negativ.

Offensichtlich scheint diese Einstellung nicht nur mir vorbehalten zu sein.

Während sich Letten weiterhin in andere europäische Ländern, wie Irland, niederlassen oder sonst irgendwie zusehen, Lettland schnellstmöglich den Rücken zu kehren, kommen nicht wenige Esten mittlerweile aus ihrem Auslandsexil wieder zurück nach Estland.

Estland ist auf dem Baltikum das wirtschaftstärkste Land und hat es geschafft, eine moderne demokratische Infrstruktur aufzubauen. Warum das in den beiden anderen baltischen Ländern nicht so rund läuft, entzieht sich allerdings meiner Kenntniss.

Es gibt einige Hinweise warum, worin sich Estland vonden anderen baltischen Ländern unterscheidet.

Vielleicht war es auch einfach nur Glück oder die geographische Lage, vielleicht die unterschiedliche kulturelle Grundhaltung, vielleicht der Patroitismus der Esten. Vielleicht etwas von alle dem.

Wenn ich in Lettland bin, habe ich jedenfalls oft das Gefühl, dass das Land auf dem Weg in die westliche Demokratie irgendwo und irgendwann auf halbem Wege auf der Strecke geblieben ist. Schade eigentlich.

Potential hat das Land bestimmt genauso, wie hier in Estland. Nur an der Umsetzung stimmt irgend etwas gewaltig nicht.