Freitag, 8. Januar 2010

Lettland im Herbst II

Gewiß, Trolleybusse fahren in Riga noch. Trotzdem ist die Krise überall zu spüren, es sind weniger Menschen auf den Straßen und in den Geschäften. Gerade auch auf dem Land haben die Menschen teilweise im Gegensatz zu schon früher im Vergleich mit dem Westen kleinen Einkommen inzwischen so gering, daß die Betroffenen hungern müßten, hätte nicht eigentlich jeder das Nötigste im Garten. Inzwischen werden tatsächlich auch Lebensmittelspenden gesammelt.

Dies ist gewiß ein Grund dafür, warum kürzlich Ministerpräsident Dombrovskis auf die Idee kam, es würde genügen, zwei Drittel der mit dem Internationalen Währungsfond vereinbarten Haushaltskürzungen vorzunehmen. Finanzminister Kampars äußerte ebenfalls die Ansicht, daß man an den Grenzen des Möglichen sei bei 17% Arbeitslosigkeit und einer Schrumpfung des Bruttoinlandproduktes um 18%. Die Rigaer Vorstellungen führte zu einem heftigen Schlagabtausch mit dem schwedischen Finanzminister Anders Borg, dem Regierungschef Frederik Reinfeldt und EU-Wirtschaftskommissar Jaoquín Almunia beisprangen, Lettland müsse die Vereinbarungen einhalten. Dombrovskis beschwerte sich über den aggressiven Ton Borgs und machte einen Rückzieher.

Dombrovskis Idee war, die zahlungsunfähigen Kreditnehmer sollten zukünftig nur noch mit dem Marktwert einer einmal zum Höhepunkt der Immobilienblase erworbenen Eigentum haften müssen. Die Immobilienpreise sind derweil um 70% gefallen, 13 % aller Kredite wurden bereits im Sommer nicht mehr korrekt bedient. 85% der Haushalte sind in Devisen verschuldet. Dombrovskis Begründung, die skandinavischen Banken hätten erst durch ihre Kreditvergabepolitik die Blase überhaupt erst möglich gemacht. Die Regierung habe nach Ansicht des Politologen Daunis Auers auch zeigen wollen, daß sie sich nicht von Ausländern treiben läßt.

Der Finanzminister harre im Oktober nach einem ersten Versuch im Juni erneut versucht, mit Staatsobligationen am Finanzmarkt neue Gelder zu bekommen, doch erneut gab es überhaupt keinen Interessenten. Lettland hat bereits 7,5 Milliarden Euro erhalten, während der Credit Default Swaps um 70 Punkte auf 521 stieg (zum Vergleich: Österreich 62). Die Einführung einer Steuer auf Immobilien wurde inzwischen beschlossen, die Progression der Einkommenssteuer hingegen abgelehnt. Kritiker meinen, daß so einstweilen gerade die ärmere Schichte der Bevölkerung bluten müsse, während die Vermögenden anteilmäßig viel weniger beitragen müßten. Die Immobiliensteuer fürchten viele einfache Menschen, die in ihrem Eigentum leben und nicht wissen, wovon sie noch eine Steuer begleichen sollen.

Politisch ist in Lettland Stillstand eingetreten, weil de facto die Regierung keine eigene Politik mehr verwirklichen kann, sondern nolens volens zum Erfüllungsgehilfen der Gläubiger geworden ist. Ein Jahr vor den regulären Wahlen wird der Präsident kaum mehr die Parlamentsauflösung anregen. Dies durch ein Referendum der kürzlichen Verfassungsänderung folgend zu bewerkstelligen ist nach juristischem Usus erst für das nächste Parlament möglich.

Bleibt den Politikern nur, sich für diesen Urnengang in Stellung zu bringen. Die Volkspartei muß angesichts ihrer extreme schlechten Umfrage werte befürchten, daß sie in das nächste Parlament nicht einzieht. Deshalb meldet sich Andris Šķēle zurück mit der Ankündigung, er werde antreten und sei bereit, das Amt der Ministerpräsidenten zum vierten Mal zu übernehmen. Eine seiner frühesten Wegegleiterinnen, die Exil-Lettin Vaira Paegle verließ daraufhin die Partei. Der Vorsitzende, Justizminister Mareks Segliņš, erklärte hingegen sofort seine Bereitschaft, auf einem kurzfristig anberaumten Parteitag die Führung abzutreten. Nun regierte die Union aus Grünen und Bauern, daß sie gegebenenfalls dann ihre graue Eminenz, den Bürgermeister von Ventspils, Aivars Lemberg, mit dem Slogan Saimnieks nāk kārtot valsti portieren werde.

Nichtsdestotrotz geschehen weiterhin in Lettland andere Überraschungen. So verließen plötzlich zahlreiche bekannte Journalisten, darunter die Chefredakteurin, die Zeitung Diena. Der Vorstandsvorsitzende der Aktiengesellschaft hatte öffentlich erklärt, daß nunmehr der britische Finanzinvestor Rowland Eigentümer des Blattes sei. Der seit Juli amtierende neue Chef, Aleksanders Tralsmaks, hatte bereits vorher eine neue Unternehmenspolitik eingeschlagen, dessen erklärtes Ziel es sei, mit der Zeitung Geld zu verdienen. Die Journalisten sahen unter diesen Umständen keine Möglichkeit mehr für die Aufrechterhaltung eines unabhängigen Journalismus.

Doch Kommentatoren sind der Ansicht, daß der Untergang der Zeitung als liberales Sprachrohr bereits früher begonnen hat. Die als Organ der neuen Volksfrontregierung 1990 gegründete Zeitung war 1992 privatisiert worden und unterstütze lange Lettlands Weg und später auch den Gründer der Volkspartei, Andris Šķēle. Erst als dieser während seiner beiden ersten Regierungen das vertrauen von Bevölkerung und journalistischen Beobachtern verspielt hatte, wendete sich die Politik der Zeitung. Damit stand die Redaktion erstmalig vor dem Problem, nicht mehr die Befürworterin der Regierungspolitik zu sein.

Aber nicht nur der Abgang an sich ist dramatisch, sondern die ultimative Forderung des Eigentümers an die Chefredakteurin Nelija Ločmele etwa, die Büroräume unverzüglich zu Räumen und keinerlei Kontakt zu den anderen Mitarbeitern aufzunehmen, um etwa eine Erklärung abzugeben.

Undurchsichtige Ereignisse bleiben aber auch in staatlichen Organen keine Seltenheit. Just am Tag der Bundestagswahl wurde bekannt, daß es Zweifel an der lettischen Staatsbürgerschaft beim Vorsitzenden des Obersten Gerichtes, Ivars Bičkovičs gibt. Er stammt offenbar von polnischen Einwanderern ab, die in der Zwischenkriegszeit auf der Such nach Arbeit eingewandert waren. Von der zuständigen Behörde war zu hören, daß dieselben Zweifel bereits angemeldet wurden, als Bičkovičs den lettischen Paß nach der Unabhängigkeit beantragt hatte. Einen Monat später gab nun aber die mit der Untersuchung des Falles beauftragte Generalstaatsanwaltschaft bekannt, die Staatsbürgerschaft habe der Vorsitzende des Obersten gerichtes rechtmäßig erlangt.

Von aller Krise und Ungereimtheiten sorgte der zweite Mobilfunkanbieter in Lettland, Tele2, für ein wenig Ablenkung. Ende Oktober gab es eine Meldung in der Presse, nahe Mazsalaca im Norden des Landes sei ein Meteorit eingeschlagen. Die Angaben über Größe und Tiefe wichen sehr stark voneinander ab. Polizei, Feuerwehr und Experten wurden in den Einsatz geschickt, die schnell erkannten, daß es sich in Wahrheit um eine Grube handelt, die mit Spaten und sogar ohne Bagger gegraben worden war. Gleich am folgenden Tag räumte Tele2 ein, es handele sich um einen Reklamegag. Der ist dem Unternehmen gelungen, es war in aller Munde – nicht nur in Lettland.

Innenministerin Linda Mūrniece erzürnte sich erneut und drohte mit juristischen Konsequenzen. Die Polizei jedoch wiegelte ab, daß man keine juristische Person ins Gefängnis stecken könne, die Firma die Einsatzkräfte nicht gerufen habe und der Anrufer jede Verbindung zu Tele2 leugnen werde. Tele2 wiederum erklärte, für alle angefallenen Kosten aufzukommen. Während viele Beobachter bedauern, daß Lettland erneut mit Unsinn eher negative für Schlagzeilen sorgt, räumen Marketingspezialisten ein, daß der Mobilfunkanbieter nun für rund 30.000 Euro die Publicity bekommen habe, die mit anderen Mitteln das Zehnfache koste.

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