Mittwoch, 19. November 2008

90 Jahre, ein stolzes Alter, eine stolze Leistung?

Die durchschnittliche Lebenserwartung des Menschen liegt nicht bei 90 Jahren. Für einen Staat ist das Alter von 90 hingegen ziemlich gering. Selbst so junge Staaten wie Deutschland oder Italien sind ein ganzes Stück älter. Aber gut, man kann den Letten nicht zum Vorwurf machen, daß Expansionsgelüste des Christentums sie unterjocht haben und sich über die anschließenden Jahrhunderte andere benachbarte Großmächte ihres Territoriums bemächtigten.

Um die Verbidung zwischen Staat und Mensch herzustellen: In Lettland erreicht die durchschnittliche Lebenserwartung mit 76 Jahren bei Frauen und 64,9 Jahren bei Männern einen der geringsten Werte in der Europäischen Union.

Aber Lettland als Staat wird auch nicht einfach nur 90, sondern gleichzeitig auch 17, 39 oder 33 – je nach Standpunkt. Die Republik Lettland wurde vor 90 Jahren ausgerufen. De facto bestand sie aber nur 39 Jahre lang, denn ein halbes Jahrhundert währte die Inkorporation in die Sowjetunion: folglich besteht die erneuerte Unabhängigkeit erst seit 17 Jahren. Umfaßt die Summe von 39 Jahren den Zeitraum der Souveränität, so ist die lettische Demokratie abzüglich der sechs Jahre der autoritären Herrschaft von Kārlis Ulmanis erst 33 Jahre alt. Wie wenig diese Zahl die Menschen interessiert, beweist, daß Ulmanis bemerkenswerterweise nach 1991 ein Denkmal gesetzt wurde, an dem die Menschen nach wie vor Blumen niederlegen.

Vergliche man den Staat konsequent mit einem Menschen, so wäre die wieder hergestellte Republik Lettland am Ende der Pubertät. Ein Teenager. Den Bestand der Republik betreffend, aber auch die in Freiheit verbrachten Jahre markieren ein Alter, in dem Energie und Erfahrung sich die Waage halten; mit 33 mag noch ein wenig Übermut vorhanden sein, aber mit 39 beginnt bereits ein Alter, in dem man von alten Gewohnheiten nicht mehr lassen kann?

Mit 90 wiederum kann der Mensch schon einmal ein wenig tüdelich sein. Jedenfalls waren die Feierlichkeiten rund um den 18. November geprägt von Phänomenen, die so sicher nicht in jedem Land passieren.

Bereits der 17.11.2008, ein Montag, also eigentlich ein Werktag, aber eben auch ein Brückentag, begann für jene, deren Arbeitgeber sich für die Brücke entschieden hatten, tariflich im Nahverkehr Rigas als Zahltag. Denn obwohl die Schaffner natürlich arbeiten mußten, galten Monatskarten für Werktage nicht. Da am Nationalfeiertag der ÖPNV immer gratis ist, durften sich die Schaffner wenigstens am Dienstag voll und ganz der Geburtstagsfeier ihres Staates widmen. Brückengewinner und –verlierer müssen jedoch den Arbeitstag am Samstag, dem 22. November, nachholen, ob sie nun persönlich für oder gegen die Brückenregelung waren.

Innerfamiliär kann dies Probleme hervorrufen, da ja nicht alle Mütter, Väter, Omas, Opas, Kinder und Enkel den gleichen Regeln unterliegen. So sehen sich viele sogenannte Fernstudenten, die üblicherweise samstags Vorlesungen hören, gezwungen, am 22. November zu arbeiten. Wegen der Brücke waren die Lehrstunden mancherorts am 9. November vorzuholen – in diesem Jahr ein Sonntag. Dies trifft natürlich gleichermäßen die Lehrkräfte. Wozu also eine Brücke am Monfeiertag, wenn dafür am Sonnwerktag die Werktagmonatskarte natürlich ebensowenig gilt?

Aber zum Jubiläum schlug Lettland, Riga noch eine weitere Brücke. Nachdem während der letzten Jahre viel über eine weitere Daugavaquerung zur Minderung der alltäglichen Staus diskutiert wurde, konnte das Bauwerk, die Südbrücke, jetzt endlich eingeweiht werden – natürlich nicht ohne Skandälchen. Der Direktor der Bauinspektion, Eduards Raubiško, gab kurz vor der Eröffnung bekannt, daß er selbst das Bauwerk mit 7 auf einer 10 Punkte Skala bewerten würde, wo 10 die Bestnote ist: nicht gut, aber auch nicht schlecht. Bekannt geworden waren Mängel am Bau.

Im Fernsehen kommentierte er die Anbindung an beiden Ufern, Passanten wurden um eine Bewertung der Ausschilderung gebeten. Und so schlug Raubiško vor, man solle doch einmal eine Exkursion über die Brücke machen, und dann würden sich die Fahrer schon an die Straßenführung gewöhnen. Dafür nutzt der Pendler freilich am besten einen Feiertag mit weniger Verkehr.

Und so wurde der Abend des Geburstages nach eindrucksollem, musikalisch untermaltem Feuerwerk bei klarem Wetter, intensiv genutzt. Die Schaulustigen der Feierlichkeiten fuhren nach Hause, Technikinteressierte zur Brücke; und in der gesamten Umgebung stand der Verkehr bis 23 Uhr nahezu still.

Präsident Valdis Zatlers und die anwesenden Amtskollegen aus Estland, Toomas Hendrik Ilves, und aus Litauen, Valdas Adamkus, hatten gemeinsam in ihren Ansprachen am Freiheitsdenkmal den Letten noch einen schönen Ausklang des Feiertages gewünscht.

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