Sonntag, 23. Dezember 2007

Gratis Zirkus in Lettland

Dieser Beitrag wurde anschließend auch publiziert in: Baltische Briefe Nr.1 (711), 01.2008, S.4-6
Die Letten müssen gegenwärtig kein Geld ausgeben, um einen Zirkus zu sehen. Zirkus gibt es im Fernsehen, die Politiker treten auf.
Was ist besonderes passiert? Noch im Herbst 2006 gewann als einer der seltenen Fälle im postsozialistischen Raum eine an der Macht befindliche Regierungskoalition die Wahlen. Aber was zunächst vor dem Hintergrund der früheren großen Schwankungen in der Wählerunterstützung nach Stabilität aussah, war eher die Wahl des kleineren Übels in einer Gesellschaft, in der die Einwohner, die Bürger wenig aktiv sind, die Parteien also nicht aus gesellschaftlichen Bewegungen hervorgehen, sondern fast ausnahmslos von Vertretern der politischen Elite gegründet worden sind.
An der Exekutive, die nach dem Austritt der Neuen Zeit aus der Koalition im Jahre 2005 bis zum Urnengang als Minderheitsregierung existierte, waren die konservativ-liberale Volkspartei, die Listenkoalition aus Bauernunion und Grünen sowie die fusionierten Kräfte Lettlands Weg / Lettlands Erste Partei beteiligt. Die Bauernunion war damals angetreten mit dem bereits unter Korruptionsverdacht– ein Prozeß lief sogar bereits – stehenden Bürgermeister von Ventspils, Aivars Lembergs, als Spitzenkandidat, obwohl dieser sich nicht um ein Parlamentmandat bewarb.
Lettlands Weg war in den 90er Jahren eine der wichtigsten und langjährigen Regierungsparteien gewesen, die mehrfach den Ministerpräsidenten gestellt hatte. Trotz ihrer eigentlich liberaler Ausrichtung hatte sie als Partner auf Augenhöhe nur die Erste Partei finden können, in anderen Fusionen hätte sich die Partei nur unterordnen können. Ideologisch passen die beiden Kräfte weniger zusammen. Die Erste Partei wird auch Priesterpartei genannt, weil sie durch mehrere Geistliche gegründet wurde. Ihr Weltbild ist ein sehr konservatives, so trifft sie beispielsweise den Nerv der Bevölkerung mit ihrer Ablehnung von Homosexualität.
Diese regierende Koalition aus drei Parteien nahm nach der Wahl im Herbst 2006 zur Sicherung ihrer sonst knappen Mehrheit von nur 51 Mandaten in der 100 Sitze umfassenden Saeima mit der konservativ-nationalen Für Vaterland und Freiheit eine weitere Partei mit ins Boot.
Nachdem bereits zu Jahresbeginn 2006 der Jūrmalgeit-Skandal das Land erschüttert hatte, bei dem die politische Elite via Handygesprächen versuchte, im Kurort Jūrmala nahe der Hauptstadt Riga einen genehmen Bürgermeister zu installieren, begann schnell nach der Regierungsbildung der politische Nihilismus eine neue Dimension anzunehmen. Zunächst kam es zum Konflikt im Zusammenhang mit der Bestellung des Ombudsmannes, es folgten die Änderungen im Gesetz über die nationale Sicherheit, in dem sich die Regierung das Recht zugestehen wollte, selbst darüber bestimmen zu können, wer Träger von Staatsgeheimnisse sein darf. Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga nutze während ihrer letzten Monate im Amt das Recht, die Ausfertigung des Gesetzes zwecks Organisation einer Referendums auszusetzen. Die nötigen Unterschriften wurden zusammengetragen, aber das Referendum erreichte eine zu geringe Beteiligung, weil als Datum ausgerechnet der 7. Juli 2007 angesetzt war, ein Termin, den viele Paare für ihre Hochzeit ausgewählt hatten.
Auch die Wahl des neuen Staatspräsidenten verlief im Frühsommer alls andere als geräuschlos. Der plötzlich von der regierenden Koalition aus dem Hut gezauberte Arzt Valdis Zatlers hatte sich zu Schulden kommen lassen, was in Lettland angesichts geringer Saläre unter Medizinern gang und gäbe ist, Geldgeschenke von Patienten entgegenzunehmen, deren umstrittene Freiwilligkeit neuerlich in der Presse diskutiert wurde. Des weiterem haftet ihm an, daß die Entscheidung zu seinen Gunsten angeblich während eines Treffens der Spitzenpolitiker im Zoo getroffen wurde. Nach der erfolgreichen Bestellung sorgte der Angeordnete der größten Regierungspartei, der Volkspartei, Jānis Lagzdiņš, am Fenster des Abgeordnetenhauses für weitere Aufregung, wo er den ausgestreckten Arm mit Faust die andere Hand in den Ellebogen legend zeigte. Es fehlte nur der ausgestreckte Mittelfinger. Angeblich habe er sich an einen konkreten Bekannten vor dem Gebäude wenden wollen, was angesichts der dort versammelten Anhänger des Oppositionskandidaten und früheren Präsidenten des Verfassungsgerichtes, Aivars Endziņš, wenig überzeugend klang.
Aber die Regierung brachte das Faß erst im Oktober durch die – inzwischen wieder zurückgenommene – Absetzung des Direktors der Anti-Korruptionsbehörde Andrejs Loskutovs zum Überlaufen. Es gab Demonstrationen und erst dann und auch nur zögerlich war Ministerpräsident Aigars Kalvītis bereit, den politischen Bankrott seiner Regierung einzusehen und den Rücktritt anzukündigen – wenn auch mit dem kleinen Kniff, dies für den 5. Dezember anzukündigen, wenn Ministerpräsident Aigars Kalvītis exakt auf drei Amtsjahre zurückblicken kann.
Und was ist an diesem Vorgang besonderes? Neu ist, daß das inzwischen schon dritte Kabinett Kalvītis, welches vor dem Hintergrund der Instabilität der vergangenen Jahre bereits die 14. (!) Regierung Lettlands seit 1990 war, die erste ist, die nicht abtritt, weil die Koalition zusammengebrochen ist. Früher waren Ministerpräsidenten zum Rücktritt immer nur gezwungen, weil ein Partner der Regierung die weitere Unterstützung versagt hatte.
Und damit begann der Zirkus. In der Saeima haben die sogenannten nationalen Kräfte eine große Mehrheit; eine Regierung zu bilden dürfte also nicht schwierig sein. Die Mehrheitsverhältnisse haben sich jüngst nur bedingt geändert, weil die vormaligen Minister der Volkspartei Aigars Štokenbergs und Artis Pabriks nicht mehr zur Fraktion gehören. Ersterer war, obwohl Präsidiumsmitglied, in Abwesenheit aus der Partei ausgeschlossen worden, weil er angeblich eine eigene politische Kraft zu gründen geplant habe. Darauf hin trat Pabriks als Außenminister zurück. Beide Positionen wurden vom abtretenden Ministerpräsidenten nicht nur kommissarisch neu besetzt. Über seine Motivation wie auch jene der neuen Minister Māris Riekstiņš für das Auswärtige und den Bürgermeister von Kuldīga, Edgars Zalāns, für regionale Angelegenheiten mag man spekulieren. Offensichtlich gingen beide davon aus, daß sie auch in der nächsten Regierung dieselben Positionen würden besetzen können. Die Volkspartei demonstrierte jedenfalls trotz des Rücktritts von Kalvītis damit ihre Einstellung. Und so führte die Diskussionen über die Bildung einer neuen Regierung auch niemand anderes als der abtretende Regierungschef selbst.
Aber trotz der Mehrheiten ist die Lage verzwickt. Die Volkspartei ist nicht bereit unter einem Premier zu arbeiten, der aus der einzigen liberal-konservativen, derzeit in der Opposition befindlichen Kraft, der Neuen Zeit, kommt, die 2005 im Streit aus der damaligen ersten Regierung Kalvītis ausgetreten war und die zweite damit zu einem Minderheitskabinett hatte werden lassen. Die Gründe damals waren in etwa dieselben, welche nun zum Bankrott der dritten Regierung Kalvītis geführt hatten. Aus diesem Grunde will sich die Neue Zeit wiederum auch nicht vorführen lassen und ist verständlicherweise nicht bereit, unter einem Premier aus den Reihen der Partei des abtretenden zu akzeptieren.
Die Parteien der abgetretenen Koalition zeigten nun erneut demokratischen Entscheidungsprozessen die kalte Schulter. So erklärte Māris Segliņš, der auch unter Regierungschefs von Lettlands Weg Innenminister gewesen war, der Präsident müsse jetzt den Startschuß geben. Die Parteien könnten mit dem Prozeß der Regierungsbildung erst beginnen, wenn sie wüßten, wer den Auftrag erhält. Dabei hatte die Volkspartei den gerade erst in die Regierung gewechselten Zalāns als Kandidaten portiert, der prompt für Aufsehen sorgte, als er sich weigerte, in der bekanntesten und wichtigsten Diskussionssendung „Kas notiek Latvijā“ – „Was passiert in Lettland“ des lettischen Fernsehens aufzutreten. Nicht nur, daß er an dem Abend eine Einladung habe, nein, er halte grundsätzlich die Teilnahme an dieser Sendung für überflüssig. Aber auch der Umstand, daß sich Aigars Kalvītis dauernd in die Diskussion über eine neue Regierung einmischte, unterstrich nur noch einmal den Eindruck, der schon durch die Berufung Zalāns in die abtretende Regierung entstanden war.
Und wer ist der Dompteur in diesem Zirkus? Der Arzt Valdis Zatlers befindet sich in keiner beneidenswerten Position. Der Präsident, welcher in Lettland nicht nur das Recht hat, einen Regierungschef zu benennen, sondern dessen Pflicht dies auch ist. Doch kann er bei seiner Entscheidung die Mehrheitsverhältnisse im Parlament, das diesen Kandidaten dann bestätigen muß, nicht außer Acht lassen. Präsident Ulmanis hatte 1995 Māris Grīnblats nominiert, um eine Regierungsbeteiligung des Deutschletten Joachim Siegerist zu verhindern, was ihm auch gelang. Grīnblats wurde dann zwar nicht Ministerpräsident, aber statt dessen der damals parteilose Andris Šķēle, der anschließend auf dem Höhepunkt seiner Popularität die Volkspartei des jetzt abgetretenen Aigars Kalvītis gründete.
Doch damals war die Situation eine ganz andere. Drei Parteien waren mit ungefähr 15% der Mandate etwa gleich stark, angesichts der Mehrheitsverhältnisse war etwas anderes als eine Regenbogenkoalition arithmetisch gar nicht möglich. Heute dagegen sind drei Parteien mit einer für lettische Verhältnisse starken Fraktion im Parlament vertreten. Aber was nun unter diesen Umständen? Wenn sich die Parteien können sich nicht einigen, wer mit wem gehen soll oder will, zwingen sie dem Präsidenten eine Verantwortung auf, die ihm so eigentlich nicht zukommt. Gleichzeitig war der offensichtliche Wunsch des politisch noch unerfahrenden Zatlers chancenlos, einen unabhängigen Kandidaten zu benennen, auch wenn dies angeblich durch die Neue Zeit als Kompromiß noch einmal vorgeschlagen wurde.
Als Kompromißkandidat bot sich einzig der Kandidat von Lettlands Weg /Lettlands Erste Partei, Ivars Godmanis, an. Er hat Erfahrung im Amt, war bereits Regierungschef der Volksfront, was aber scher auch sein Manko ist. Viele Menschen verbinden die sozial und wirtschaftlichen harten Zeiten des Zusammenbruchs mit diesem Namen, sie sind der Meinung, daß die großen Arbeitgeber wie VEF oder RAF absichtlich geschlossen wurden.
Als Zatlers Godmanis schließlich berief wurde dem Wunsch Ausdruck verliehen, die Parteien möchten eine Regierung innerhalb einer Woche bilden. Auch dies ein Hinwis darauf, daß die vormaligen Partner nicht bereit waren, der Neuen Zeit wirklich ein ernsthaftes Angebot zu unterbreiten, die in einer fünf Parteien umfassenden Koalition nicht nur rechnerisch das fünfte Rad am Wagen gewesen wäre.
Die nunmehr erfolgte Bestätigung der neuen Regierung leidet unter dem Beigeschmack, eine Neuauflage der abtretenden zu sein nicht nur wegen der Kongruenz der beteiligten Partner. Wie bereits durch die Amtsübernahme von Riekstiņš und Zalāns angedeutet, denken die Regierungsparteien gar nicht daran, wirklich etwas zu ändern Die meisten Gesichter bleiben die gleichen.
Godmanis setzt damit eine schillernde Karriere fort. Als Regierungschef der Volksfrontregierung war er der Stein in der Brandung, fast alle Minister wurden in seiner Regierungszeit damals ausgewechselt, nur er selbst blieb. 1993 wurde seine Volksfront in Folge der sozialen Härten des Umbruchs abgewählt, die damals populäre Partei aus Reformkommunisten und Exilletten, Lettlands Weg, wollte ihn wegen seiner Unbeliebtheit nicht in ihre Reihen aufnehmen, was später dann doch geschah. Godmanis wurde Finanzminister.
Ob er nun in der Lage sein wird, das Staatsschiff umzusteuern, ist die eine Frage und ob er das Vertrauen der Bevölkerung gewinnen kann eine andere. Und welche Aufgabe ist eigentlich die schwierigere? Die Bevölkerung, aber auch Sozialwissenschaftler und Journalisten, verlangen Neuwahlen, auch weil alle Regierungsparteien im fraglichen letzten Wahlkampf 2006 gegen die gesetzliche Obergrenze der Wahlkampfausgaben verstoßen haben. Es wird argumentiert, diese politischen Kräfte hätten ihren Sieg erkauft. Aber woher bei einer bald anstehenden Wahl unbelastete politische Parteien und Politiker kommen sollen, darauf hat niemand eine Antwort. Und hier sind Zweifel auch deshalb angebracht, weil viele der Parlamentarier auf den schwarzen Gehaltslisten von Lembergs stehen sollen – aber einstweilen weiß niemand wer.

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