Beim Altstadtrundgang durch Tallinn oder Riga werde ich vor dem jeweiligen Parlament regelmäßig gefragt, wer denn gerade regiere, Konservative oder Sozialdemokraten. Ich antworte, daß man darauf nicht in einem Satz antworten kann und weise dann immer darauf hin, daß ich über die Parteiensysteme der baltischen Staaten promoviert habe. Vor dem Gebäude müßte bis zum nächsten Morgen stehen bleiben, um alles zu erklären. Das Parteienspektrum in den baltischen Ländern ist nämlich so einfach nicht, es entspricht nicht den Strukturen, wie sie aus den westlichen Demokratien vertraut sind.
Um Politik in den baltischen Staaten zu verstehen, muß man sich vergegenwärtigen, welche Lebenserfahrung die Menschen nicht nur hier, sondern im gesamten post-sozialistischen Raum mitbringen. Während der herrschaft der kommunistischen Parteien gab es zwar keine Freiheit, dafür aber soziale Sicherheit, wenn auch auf niedrigem Niveau. Weder die Arbeit noch die Wohnung konnte man verlieren. Das Gefühl der wirtschaftlichen Unsicherheit, welches in marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaften zum Lebensalltag gehört, ist für die Menschen aus den vormals künstlich nivellierten Gesellschaften hier neu. Und weitgehende Unkenntnis herrschat darüber vor, daß dieses Gefühl im „Westen“ eben auch normal ist. Daher rührt die Unzufriedenheit.
So viel als Hintergrgund. Die Parteiensysteme wie auch die Regierungen in Osteuropa sind sehr unbeständig. Was das Schicksal konkreter politischer Kräfte anbetrifft, muß ich teilweise selbst in meiner Doktorarbeit nachschauen, weil man die vielen Veränderungen kaum nachhalten kann.
In fast allen postsozialistischen Staaten werden zumeist bei Wahlen die amtierenden Regierungen wegen der allgemeinen Unzufriedenheit aus dem Amt gejagt. Selten kam einstweilen der Sieg einer regierenden Koalition vor. Zumeist jedoch halten die Regierungen wenigstens eine Legislaturperiode durch, was im Baltikum bis anhin noch kein einziges Mal der Fall war. Und hier schießt Lettland den Vogel ab, demnächst wird bereits die 18. Regierung seit 1990 vereidigt werden.
Um dies zu verstehen, ist ein Blick auf die politische Kultur erforderlich. Und da kann man mit ganz einfachen Beobachtungen das Verhalten der Bevölkerung betreffend beginnen. Als reales Beispiel berichte ich von einer Familie mit zwei Töchtern im Alter von 17 und 19 Jahren aus Tukums. Die Eltern beklagen immer, sie hätten zu wenig Geld; und es stimmt, sie kommen mit ihren beiden Einkommen eben so über die Runden. Aber dann schränkt die Mutter ein: zu Maxima (eine litauische Supermarktkette) könne sie nicht gehen, weil es dort nur litauische Produkte gebe, sie möchte aber lettische kaufen. Zu Super Netto (eine Kette wie Aldi oder Lidl) könne sie nicht gehen, weil man da die Waren aus dem Karton nehmen muß. Daß sich dieses Konzept auch in Westeuropa in vielen Ländern durchgesetzt hat, will sie dann natürlich nicht glauben. Außerdem möchte sie nicht in einen Second Hand Laden einkaufen, weil sie sich nicht vorstellen könne, etwas anzuziehen, was schon vor ihr mal jemand getragen hat. Ich berichte dann von meiner Kindheit, in der Oma von Besuchen beim Onkel zurückkam, der vier ältere Kinder hatte, und wir selbstverständlich viel auftragen mußten. Daß sich nicht alle Eltern in Deutschland finanziell erlauben können, die schnell wachsenden Kinder alle sechs Monate neu einzukleiden, glaubt sie ebenfalls nicht.
Hintergrund für die politische Entwicklung ist also ein schiefer Blick auf den Westen, der oftmals als Schlaraffenland betrachtet wird. Als Helmut Kohl 1998 die Bundestagswahl verlor, wurde ich gefragt, was denn mit uns Deutschen los ist, warum wir denn Helmut Kohl nicht mehr wollten, wo es uns doch gut gehe. Mit anderen Worten, die Menschen im Baltikum sind davon ausgegangen, daß der Bundeskanzler persönlich dafür verantwortlich ist, wie hoch das Einkommen des einzelnen ist, und daß im Baltikum eben eine korrupte Regierung nicht bereit sei, den Menschen ein höheres Einkommen auszuzahlen. Des weiteren, und das ist für die Touristen eine erste Pointe, verstehen eben viele Menschen die Welt so, daß die Kommunisten versprochen haben, alles werde besser, dieses Versprechen aber nicht einhielten, also logen, während im Westen die Politiker die Wahrheit sagen und ihre Versprechen halten!
Auf diese Art und Weise ist eine Unzufriedenheit mit den eigenen Lebensumständen, die an einer völlig falschen Latte gemessen werden, vorausprogrammiert. Dies ist der Grund dafür, warum dann regelmäßig andere politische Kräfte ans Ruder kommen. Diese Tendenz wird verstärkt durch die Erinnerung an die autoritäre Herrschaft der Zwischenkriegszeit, als es wirtschaftlich bergauf ging. Beide Aspekte zusammen sorgen für eine Sehnsucht nach einer starke Hand. Und so konnten populäre Politiker lange immer wieder neue Parteien gründen, die dann auch auf Anhieb gewählt werden – in Lettland etwa ist derzeit nur noch eine Partei im Parlament, die dort bereits 1993 vertreten war.
Dese politische Kultur treibt mitunter abenteuerlich Blüten; es geschehen Dinge, die im Westen unvorstellbar wären. Vor den Wahlen 2002 gründete der damalige Präsident der Nationalbank in Lettland, Einars Repše, eine neue Partei. Populär war er wegen des hohen Nennwertes der nationalen Währung, die natürlich im Grunde nur eine politische Entscheidung ist, sie hat mit der Kaufkraft nichts zu tun. Repše erklärte, er werde zwei Konten einrichten, eines für die Partei und eines für sich, denn er habe ja auch Familie und gehe mit der Aufgabe des gut bezahlten Jobs ein Risiko ein, die Menschen möchten daher spenden – und das taten sie auch. Zwar kam die verlangte Summe, die Repsˇe zur Voraussetzung gemacht hatte, nicht zusammen, aber dennoch eine erkleckliche. Dies ist die zweite Pointe für die Gäste.
Nachdem Repše die Wahlen erwartungsgemäß gewonnen hatte, führte er dann zunächst zur Förderung der Transparenz in der Politik seine Koalitionsverhandlungen vor laufenden Fersekameras, was natürlich ein Unding ist. Anschließend richtete er in der Staatskanzlei eine neue Abteilung ein: Nejēdzību Noveršanas Birojs, das Büro zur Verhinderung von Unsinn. Auch hier lachen die Besucher; in Lettland haben dies die meisten Bürger Ernst genommen.
Um Politik in den baltischen Staaten zu verstehen, muß man sich vergegenwärtigen, welche Lebenserfahrung die Menschen nicht nur hier, sondern im gesamten post-sozialistischen Raum mitbringen. Während der herrschaft der kommunistischen Parteien gab es zwar keine Freiheit, dafür aber soziale Sicherheit, wenn auch auf niedrigem Niveau. Weder die Arbeit noch die Wohnung konnte man verlieren. Das Gefühl der wirtschaftlichen Unsicherheit, welches in marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaften zum Lebensalltag gehört, ist für die Menschen aus den vormals künstlich nivellierten Gesellschaften hier neu. Und weitgehende Unkenntnis herrschat darüber vor, daß dieses Gefühl im „Westen“ eben auch normal ist. Daher rührt die Unzufriedenheit.
So viel als Hintergrgund. Die Parteiensysteme wie auch die Regierungen in Osteuropa sind sehr unbeständig. Was das Schicksal konkreter politischer Kräfte anbetrifft, muß ich teilweise selbst in meiner Doktorarbeit nachschauen, weil man die vielen Veränderungen kaum nachhalten kann.
In fast allen postsozialistischen Staaten werden zumeist bei Wahlen die amtierenden Regierungen wegen der allgemeinen Unzufriedenheit aus dem Amt gejagt. Selten kam einstweilen der Sieg einer regierenden Koalition vor. Zumeist jedoch halten die Regierungen wenigstens eine Legislaturperiode durch, was im Baltikum bis anhin noch kein einziges Mal der Fall war. Und hier schießt Lettland den Vogel ab, demnächst wird bereits die 18. Regierung seit 1990 vereidigt werden.
Um dies zu verstehen, ist ein Blick auf die politische Kultur erforderlich. Und da kann man mit ganz einfachen Beobachtungen das Verhalten der Bevölkerung betreffend beginnen. Als reales Beispiel berichte ich von einer Familie mit zwei Töchtern im Alter von 17 und 19 Jahren aus Tukums. Die Eltern beklagen immer, sie hätten zu wenig Geld; und es stimmt, sie kommen mit ihren beiden Einkommen eben so über die Runden. Aber dann schränkt die Mutter ein: zu Maxima (eine litauische Supermarktkette) könne sie nicht gehen, weil es dort nur litauische Produkte gebe, sie möchte aber lettische kaufen. Zu Super Netto (eine Kette wie Aldi oder Lidl) könne sie nicht gehen, weil man da die Waren aus dem Karton nehmen muß. Daß sich dieses Konzept auch in Westeuropa in vielen Ländern durchgesetzt hat, will sie dann natürlich nicht glauben. Außerdem möchte sie nicht in einen Second Hand Laden einkaufen, weil sie sich nicht vorstellen könne, etwas anzuziehen, was schon vor ihr mal jemand getragen hat. Ich berichte dann von meiner Kindheit, in der Oma von Besuchen beim Onkel zurückkam, der vier ältere Kinder hatte, und wir selbstverständlich viel auftragen mußten. Daß sich nicht alle Eltern in Deutschland finanziell erlauben können, die schnell wachsenden Kinder alle sechs Monate neu einzukleiden, glaubt sie ebenfalls nicht.
Hintergrund für die politische Entwicklung ist also ein schiefer Blick auf den Westen, der oftmals als Schlaraffenland betrachtet wird. Als Helmut Kohl 1998 die Bundestagswahl verlor, wurde ich gefragt, was denn mit uns Deutschen los ist, warum wir denn Helmut Kohl nicht mehr wollten, wo es uns doch gut gehe. Mit anderen Worten, die Menschen im Baltikum sind davon ausgegangen, daß der Bundeskanzler persönlich dafür verantwortlich ist, wie hoch das Einkommen des einzelnen ist, und daß im Baltikum eben eine korrupte Regierung nicht bereit sei, den Menschen ein höheres Einkommen auszuzahlen. Des weiteren, und das ist für die Touristen eine erste Pointe, verstehen eben viele Menschen die Welt so, daß die Kommunisten versprochen haben, alles werde besser, dieses Versprechen aber nicht einhielten, also logen, während im Westen die Politiker die Wahrheit sagen und ihre Versprechen halten!
Auf diese Art und Weise ist eine Unzufriedenheit mit den eigenen Lebensumständen, die an einer völlig falschen Latte gemessen werden, vorausprogrammiert. Dies ist der Grund dafür, warum dann regelmäßig andere politische Kräfte ans Ruder kommen. Diese Tendenz wird verstärkt durch die Erinnerung an die autoritäre Herrschaft der Zwischenkriegszeit, als es wirtschaftlich bergauf ging. Beide Aspekte zusammen sorgen für eine Sehnsucht nach einer starke Hand. Und so konnten populäre Politiker lange immer wieder neue Parteien gründen, die dann auch auf Anhieb gewählt werden – in Lettland etwa ist derzeit nur noch eine Partei im Parlament, die dort bereits 1993 vertreten war.
Dese politische Kultur treibt mitunter abenteuerlich Blüten; es geschehen Dinge, die im Westen unvorstellbar wären. Vor den Wahlen 2002 gründete der damalige Präsident der Nationalbank in Lettland, Einars Repše, eine neue Partei. Populär war er wegen des hohen Nennwertes der nationalen Währung, die natürlich im Grunde nur eine politische Entscheidung ist, sie hat mit der Kaufkraft nichts zu tun. Repše erklärte, er werde zwei Konten einrichten, eines für die Partei und eines für sich, denn er habe ja auch Familie und gehe mit der Aufgabe des gut bezahlten Jobs ein Risiko ein, die Menschen möchten daher spenden – und das taten sie auch. Zwar kam die verlangte Summe, die Repsˇe zur Voraussetzung gemacht hatte, nicht zusammen, aber dennoch eine erkleckliche. Dies ist die zweite Pointe für die Gäste.
Nachdem Repše die Wahlen erwartungsgemäß gewonnen hatte, führte er dann zunächst zur Förderung der Transparenz in der Politik seine Koalitionsverhandlungen vor laufenden Fersekameras, was natürlich ein Unding ist. Anschließend richtete er in der Staatskanzlei eine neue Abteilung ein: Nejēdzību Noveršanas Birojs, das Büro zur Verhinderung von Unsinn. Auch hier lachen die Besucher; in Lettland haben dies die meisten Bürger Ernst genommen.
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