Mittwoch, 5. Dezember 2007

Rußland wählt, Putin entscheidet

Rußland hat gewählt. Aber hatte es eine Wahl? Und wollte es überhaupt wählen?
Neben dem Schröder’schen Bonmot vom „lupenreinen Demokrat“ gibt es viel Kritik an der Einschüchterung der Opposition, der Festnahme von Garri Kasparow, den unfreien Medien bis hin zum Wahlbetrug. Im Radio erklärte eine Dame, der Arbeitgeber habe verlangt, daß seine Mitarbeiter in der Wahlkabine mit dem Handy ein Foto ihres Wahlscheins machen, um zu beweisen, daß sie für einiges Rußland gestimmt haben.
Aber ist Rußland einig? Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß die erhobenen Vorwürfe berechtigt sind, und zwar alle. Andererseits kann das nicht darüber hinwegtäuschen, daß Vladimir Putin (Владимир Путин) in seinem Land wirklich sehr beliebt ist und viele Menschen ihn am liebsten nicht nur für eine dritte Amtszeit verpflichten würden. Putin ist jung genug für weitere!
Die Kritik kommt zwar keineswegs nur aus dem Ausland. Es gibt eine Opposition auch in Rußland, wenn sie auch zahlenmäßig klein ist. Nichtsdestotrotz vergißt die aus dem Westen kommende Kritik, daß Rußland nicht mit westlichen Augen verstanden werden kann, ohne sich mit gesellschaftlichen und politischen Realitäten im Lande auseinanderzusetzen. Putin ist kein lupenreiner Demokrat, trotzdem will ihn eine Mehrheit. In anderen Ländern regieren ebenfalls aus freien Wahlen hervorgegangen immer dieselben politischen Kräfte, denen man fehlende demokratische Orientierung hingegen nicht vorwerfen kann wie etwa die Liberaldemokraten in Japan oder auch einfach die CSU in Bayern. Hier ist die Opposition faktisch ohne Chance; und das hat natürlich etwas mit Erfolgen zu tun.
Dabei kann kein Zweifel daran bestehen, daß in der Regierungszeit von Putin instensiv auch an der gesetzlichen Schraube gedreht wurde. So wurde die Hürde für den Einzug ins Parlament auf sieben Prozent erhöht. Die AKP in der Türkei hatte seinerzeit sogar zehn Prozent eingeführt und damit lange an der Macht befindliche Parteien aus dem Parlament katapultiert. In Rußland wird es auch keine Direktmandate mehr gebe, welche unabhängigen Kandidaten eine Bühne gegeben hatten. Außerdem verlangt Rußland nun mindestens 50.000 Mitglieder für eine Partei, damit sie überhaupt existieren kann. Hier kann noch behauptet werden, daß eine solche Maßnahme die Zahl der Splitterparteien reduziert. Fraglich wird es jedoch, wenn die Gerichte plötzlich eine Unterschreitung bei liberalen Parteien konstatiert, deren Mitgliederliste die 50.000 deutlich überschreitet.
Das Ziel war fraglos, nicht nur eine Mehrheit, eine absolute und große zu erreichen, sondern eine verfassungsändernde.
Rußland verfügt über fast überhaupt keine demokratische Tradition. Neben St.Petersburg und Moskau mag es eine gebildete Schicht vielleicht noch in wenigen anderen großen Städten geben wie Jekaterinburg, Perm, Ufa oder Wolgograd, die aber schon fern der Außengrenzen dieses Riesenlandes liegen. Dank der Sowjetherrschaft, als der Staat kein Interesse daran hatte, daß die Menschen Fremdsprachen verstehen, haben die meisten Einwohner gar keine andere Informationsquelle als die einheimischen eben nicht freien Medien. Die Nachrichten zeigen regelmäßig ausführliche Stellungnahmen des Präsidenten als direkte Mitschnitte von Pressekonferenzen oder auch inszenierte Unterhaltung wie anläßlich des Rücktritts des ehemaligen Ministerpräsidenten Michail Fradkow (Михаил Фрадков) im September 2007. Im Dezember hielt der von Putin als Nachfolger öffentlich ins Spiel gebrachte Dmitrij Mjedwjedjew (Дмитрий Медведев) plötzlich eine Rede vor der russischen Flagge im Fernsehen, als sei er bereits in Amt und Würden, und das sogar noch bevor ihn die Partei offiziell nominiert hat!
Und an dieser Stelle besteht der große Unterschied zum Westen, wo man sich gar nicht vorstellen kann, was es bedeutet, daß die Menschen in Rußland eben außerhalb eines freien Informationsraumes leben, von dessen Existenz wenig wissen und deshalb auch keine Vorstellung davon haben, wie etwas im Staate anders aussehen könnte als es daheim aussieht.
Und dann noch ganz abgesehen von der Landbevölkerung. Hier leben zahlreiche Völker, die keine Russen sind und noch eine eigene Sprache haben. Rußland ist schließlich so etwas wie das letzte Kolonialreich der Erde. Auch hier hat der Staat kein Interesse an einer Aufklärung.
Und was gibt dann an dieser Stelle den Ausschlag für das politische Bewußtsein? In der Sowjetunion gab es gegenüber den Lebensverhältnissen zur Zarenzeit große Fortschritte, Rußland wurde erst unter den Sowjets wirklich industrialisiert, die Zaren hatten sogar die Leibeigenschaft erst 1861 (!) aufgehoben. Dann folgte die chaotische Zeit unter Boris Jelzin mit Bandenkämpfen und der Bereichehrung einzelner Cliquen.
Und seit Putin am Ruder ist, geht es den Menschen eben wieder besser. So einfach ist das.
Was bedeutet das für das Ausland? Nicht immer sollte alles nur negativ gesehen werden, was auf den ersten Blick unwestlich ist. Rußland ist kein Land wie der Irak, wo der Westen mal eben einmarschiert, wenn das Land den demokratischen Anforderungen nicht entspricht. Im Interesse des Auslandes ist auf jeden Fall ein stabiles Rußland von großer Bedeutung, ein berechenbares.
Von der anti-westlichen Rhetorik sollte sich das Ausland nicht beeindrucken lassen. Die Politik des „Westens“ beeinflußt sie marginal. Sie richtet sich auch eigentlich nicht an das Ausland, sondern an das Publikum im Inland, welches sich an eine international weniger bedeutende Rolle Rußlands im Vergleich mit der Sowjetunion noch nicht gewöhnt hat. Hinzu kommt, daß westliche Stellungnahmen und Kritik als Einmischung verstanden werden.
Was bedeutet es für die Russen? Schon Alexis de Tocqueville stellte fest, daß für eine Zustimmung zum System immer auch der Wohlstand der Bevölkerung wichtig ist. Putin muß also die Gunst der Stunde, da in Rußland wegen der Einnahmen aus dem Rohstoffgeschäft die Geldquellen sprudeln, nutzen, um dem Land erneut einen Entwicklungsschub zu geben. Und erfahrungsgemäß demokratisieren sich Länder immer dann, wenn die Grundbedürfnisse der Menschen befriedigt sind.
Putin steht also einer Demokratisierung Rußlands nicht prinzipiell entgegen. Die kommenden Wochen werden zeigen, welche Rolle Putin für sich beansprucht. Natürlich soll damit nicht einer einfachen Abwarthaltung das Wort gesprochen werden. Der Westen muß sich gewiß vor bestimmten Entwicklungen schützen wie auch Putin kritisieren - da ist nur an die Fälle von Alexander Litvinenko (Александр Литвиненко) oder Anna Politkowskaja (Анна Политковская) zu erinnern.

1 Kommentar:

Jens-Olaf hat gesagt…

Russland verstehen, das wird häufig gefordert. Nun, jetzt lebe ich in Südkorea, dem Land, dem gegenüber die meisten westlichen Medien von den 50ern bis 80ern weitgehend skeptisch waren was Demokratiefähigkeit betrifft. Es gebe ja kaum Vorgänger-Beispiele, (vergleichbar) wie in Russland. Korrespondenten kamen von außen, wenn es brenzlig wurde, aus Japan. Und die Reportagen über gewalttätige Demonstrationen schienen das Vorurteil zu bestätigen. Aber übersehen wurden die anderen Kräfte.Meine Hoffnung ist, dass auch in Russland etwas in dieser Richtung unterschätzt wird.